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Das gEsEtz zur VErhütung

erbkranken Nachwuchses (GzVeN)

Die eugenisch orientierte Bevölkerungspolitik des NS-Regimes radikalisierte die ideologisch fixierte Idealvorstellung von Frauen und Männern ohne jede körperliche und geistige Behinderung. Eugenik, Rassenzugehörigkeit und Öko-nomie bildeten die Basis der Kategorisierung: Erbgesundheit, rassische Hoch-wertigkeit und die Verwertbarkeit für die politischen und ökonomischen Inte-ressen des Staates bedeutete für diesen Idealtypus des nationalsozialistischen Menschen, dass seine Kinder nicht nur erwünscht waren, sondern als Grund-lage und Keimzelle der Volksgemeinschaft mit Ehestandsdarlehen und Kinderbei-hilfen unterstützt wurden. Erbkrankheiten, rassische Minderwertigkeit und Un-brauchbarkeit bedeutete hingegen die rigorose Verweigerung der Elternschaft für derart kategorisierte Frauen und Männer. Das Spektrum antinatalistischer Maßnahmen reichte von der Verweigerung finanzieller Förderungen für Kin-der und Familien bis zur gesetzlich legitimierten Zwangssterilisation.97

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Der eugenische Diskurs über Sterilisationen war eng verknüpft mit den medi-zinischen Möglichkeiten ihrer Durchführung. Die ersten Operationen erfolg-ten bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts, ab etwa 1890 waren sie wegen des wachsenden Wissens um Aseptik vergleichsweise gefahrloser als vorher.98 In den folgenden Jahren wurden die chirurgischen Methoden zwar

kontinuier-97 Zur Geschichte der Eugenik sind bereits umfangreiche Forschungsarbeiten entstanden, wes-halb hier nur eine sehr kurze Darstellung erfolgt. Vgl. zusammenfassend Malina/Neugebauer, NS-Gesundheitswesen, 698–700. Zu Österreich vgl. u.a. Lehner, Eingriffe; Byer, Rassen-hygiene; weiters Mayer, Netzwerke; Löscher, katholische Milieus, und die Beiträge in dem Sammelband von Baader/Hofer/Mayer, Eugenik. Zu den zahlreichen Maßnahmen pro- und antinatalistischer Bevölkerungspolitik vgl. Bock, Zwangssterilisation, 79–298, sowie Mesner/

Pawlowsky, Generativität.

98 Vgl. Bock, Zwangssterilisation, 47 und Kap. 4.

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lich verbessert, doch blieb insbesondere die Sterilisation von Frauen ein risiko-reicher Eingriff, weshalb auch der deutsche Mediziner Walter Kopp 1934 in seiner Rechtfertigungsschrift für das GzVeN anführte, dass die „Gefährlich-keit der Operation bei der Frau viele Anhänger der Bewegung zur Zurück-haltung veranlaßte“.99

Die seit Beginn des 20. Jahrhunderts von Medizin und Politik gestell-ten Forderungen nach eugenischen Sterilisationen führten in einigen Län-dern Europas (u.a. Dänemark 1929, Norwegen und Schweden 1934, Finnland 1935), in zwei Schweizer Kantonen (Waadt 1928 und Bern 1931) sowie einigen Bundesstaaten der USA (u.a. Indiana und Virginia 1907, Kalifornien, Connec-ticut und Washington 1909) zu entsprechenden gesetzlichen Regelungen – in denen die Zustimmung der Betroffenen die formale Voraussetzung für den Eingriff war. Unfruchtbar gemacht werden sollten Patientinnen und Patienten psychiatrischer Einrichtungen, aber auch, wie im schweizerischen Bern, vor allem Frauen in Fürsorgeeinrichtungen.100 Im österreichischen Strafrecht gal-ten Sterilisationen – wie andere Operationen auch – dann nicht als schwere Körperverletzung und blieben ohne strafrechtliche Folgen, wenn sie aufgrund eines medizinisch begründeten Heilzwecks erfolgten und die Betroffenen dem Eingriff zustimmten.101

Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Eugenik ein „tendenziell Einheit stiftendes politisches Projekt […] weit über die einzelnen weltanschaulichen Kreise, Parteiungen und Lager“102 war, fand in Österreich der eugenische Dis-kurs mit unterschiedlichen Zielsetzungen in sozialdemokratischen, katholi-schen und deutschnationalen Kreisen und Institutionen statt.

Sozialistisch orientierte Eugenik forcierte vor allem pronatalistische Maßnah-men zur Geburtenförderung. Sie schloss in letzter Konsequenz aber auch anti-natalistische Maßnahmen nicht aus, denn im verwirklichten Ideal einer klas-senlosen Gesellschaft würden die Interessen des Individuums zunehmend an

99 Kopp, Unfruchtbarmachung, 11.

100 Vgl. dazu den Überblick in Spring, Verdrängte Überlebende, 1–29. Zur kritischen Auseinan-dersetzung mit diesen Eingriffen in der Schweiz vgl. Meier, Schweiz, 130–146.

101 Vgl. § 152 bzw. § 156 StG und Grünauer, Sterilisation und Kastration, 4.

102 Hubenstorf, Einleitung, 9, er bezog sich dabei auf Paul Weindlings Forschungsergebnisse zur Eugenik in Weimar.

1. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

53 Bedeutung verlieren und den gesamtgesellschaftlichen untergeordnet.103 Einer der wichtigsten Vertreter sozialistischer Eugenik in der Zwischenkriegszeit war der Anatom und Wiener Gesundheitsstadtrat Julius Tandler, der, auch unter dem Eindruck der vielen Toten des Ersten Weltkriegs und der Armut großer Bevölkerungsgruppen, die „Unfruchtbarmachung der Minderwertigen […] unter allen Kautelen der Wissenschaft und der Menschlichkeit und unter voller Bürgschaft des Rechts“104 als geeignete Bevölkerungs- und Sozialpolitik ansah, um die vorhandenen finanziellen Mittel gezielt für als wertvoll angese-hene Menschen einsetzen zu können.

1922 richtete die Stadt Wien eine Eheberatungsstelle ein, die, ganz im Sinne Tandlers, freiwillig von potenziellen Eltern aufgesucht werden konnte.

Weniger die eugenische Beratung, sondern das gleichzeitige Angebot der Se-xualberatung stieß bei bürgerlich-katholischen Kreisen auf große Kritik, was 1934, zu Beginn der austrofaschistischen Diktatur, zur Schließung führte – ein symbolisches Ende sozialistischer Eugenik, deren Vertreter Julius Tandler und Karl Kautsky jr. emigrieren mussten.105

Im katholischen Diskurs der Zwischenkriegszeit spielte die Amtskirche eine wesentliche Rolle bei der Formulierung bevölkerungspolitischer und eugeni-scher Konzepte und deren Umsetzung. Entsprechend der 1930 veröffentlichten päpstlichen Enzyklika „Casti Connubii“ lehnte sie jegliche Form der Emp-fängnisverhütung sowie Eheverbote ab. Gleichzeitig waren „heilsame Rat-schläge zur Erziehung einer starken und gesunden Nachkommenschaft […]

der gesunden Vernunft durchaus nicht zuwider“.106

1935 erfolgte die Wiedereröffnung der 1934 geschlossenen Eheberatungs-stelle, nun aber in Kooperation mit dem Mutterschutzwerk der

Vater-103 Vgl. Baader, Programme, 135.

104 Tandler, Vortrag am 13. Februar 1929 beim Österreichischen Bund für Volksaufartung und Erbkunde, zit. nach Neugebauer, „Rassenhygiene“ 264. Zum Vergleich sozialistischer Eugenik in Deutschland und Österreich und der Verortung Tandlers vgl. Baader, Programme, 66–139.

105 Vgl. Löscher, Katholizismus, 150.

106 Die Enzykliken des Hl. Vaters Pius �I. Casti Connubii und Divini Illius Magistri über Ehe und Erziehung, Innsbruck 1936, 25, zit. nach Löscher, Vernunft, 223. Zu Katholizismus und Eugenik in Österreich vgl. grundlegend dies., katholische Milieus. Die deutsche evangelische Kirche sprach sich für Sterilisationen aus, in Bezug auf Haltung der österreichischen Kirche sowie anderer Religionsgemeinschaften besteht noch großer Forschungsbedarf.

Diskurse und Gesetze vor dem GzVeN

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ländischen Front und dem katholischen Josefswerk, einem Hilfsverein für christliche Ehen. Inhalte der Beratung sollten soziale Fragen, Eherecht und Seelsorge sein. Leiter wurde Albert Niedermeyer, ein katholischer Eugeniker und Gynäkologe aus Wien, der sich während seiner ärztlichen Tätigkeit in Görlitz geweigert hatte, Zwangssterilisationen nach dem in Deutschland 1934 in Kraft getretenen GzVeN durchzuführen und der nach seiner Rückkehr nach Wien als Konsulent für Familienschutz bei der Stadt Wien arbeitete.

Niedermeyer war auch Mitglied der St. Lukasgilde, einer 1932 gegründeten Vereinigung katholischer Ärztinnen und Ärzte, die sich um „Vermittlung einer erbbiologisch-katholischen Sexualmoral“ bemühten. Mit dieser unvereinbar waren selbstbestimmte Elternschaft und freiwillige Sterilisationen – durch

„Selbstkontrolle in eugenischer Hinsicht“107 sollten sich Sterilisationen und Eheverbote erübrigen.

Zu den einflussreichsten Stimmen des deutschnationalen Diskurses der Zwi-schenkriegszeit zählte jene des Mediziners Heinrich Reichel, der eine „grund-legende Ausrichtung des Staates nach eugenischen Prinzipien“108 forderte.

Reichel war Mitglied der Wiener Gesellschaft für Rassenhygiene, eine „in der deutsch-völkischen und antisemitischen akademischen Szene an der Universi-tät Wien verankert[en]“109 Organisation, die eugenische Maßnahmen seit Mitte der 1920er-Jahre vertreten hatte und nach dem Anschluss im März 1938 „als Er-füllungsgehilfin der NS-Erb- und Rassenpflege […] bei der Vorbereitung der Bevölkerung auf die Einführung des Sterilisationsgesetzes“110 mitwirkte. Als antinatalistische Maßnahmen schlug Reichel unter anderem Asylierung und Sterilisation vor, Letztere auch mittels Zwang.111 Reichel gehörte dem Obers-ten Sanitätsrat an, dem wichtigsObers-ten Beratungsgremium des Sozialministe-riums in medizinischen Angelegenheiten, und war Vorstandsmitglied des 1928 von dem Psychiater Julius Wagner-Jauregg mitbegründeten Österreichischen

107 Zu diesem und dem vorangegangenen Zitat siehe Löscher, Vernunft, 235. Nach dem Anschluss an NS-Deutschland wurde die St. Lukasgilde 1938 aufgelöst, vgl. ebd. 237.

108 Mayer, Reichel, 75.

109 Neugebauer/Schwarz, Wagner-Jauregg, 134.

110 Mayer, Reichel, 96. Vgl. dazu grundlegend Mayer, Netzwerke, zur Wiener Gesellschaft für Rassenpflege, vgl. ebd., 165–202.

111 Vgl. Mayer, Reichel, 81.

1. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

55 Bundes für Volksaufartung und Erbkunde. Reichel übernahm 1933 den Lehr-stuhl für Hygiene an der Universität Graz und hielt neben seinen Vorlesungen auch zahlreiche Vorträge im In- und Ausland.112

In den eugenischen Netzwerken waren nicht nur Mediziner, sondern auch Ju-risten aktiv: Anton Rolleder, der spätere Richter am Erbgesundheitsgericht Wien, referierte und publizierte seit Anfang der 1930er Jahre über „Ehe- Fort-pflanzungs-, Volkstodgefahrs- [sic] und bevölkerungspolitische Fragen“.113 Wie Reichel war er Mitglied in einem weiteren eugenisch ausgerichteten

Ver-ein, dem Arbeitsbund für Österreichische Familienkunde. Spätestens seit März 1938 ist auch seine Mitgliedschaft bei der Wiener Gesellschaft für Ras-senhygiene dokumentiert.

Die Einführung des GzVeN in NS-Deutschland mit Jänner 1934 wurde in Österreich aufmerksam verfolgt und in medizinischen Fachzeitschriften kom-mentiert: Die namhafte Wiener Klinische Wochenschrift widmete die erste Ausgabe des Jahres 1935, als in NS-Deutschland bereits zahlreiche Frauen und Männer zwangssterilisiert worden waren, Fragestellungen zu Eugenik und Erbpathologie. Julius Wagner-Jauregg, der 1927 für die von ihm entwickelte Malariatherapie den Nobelpreis erhielt und „der den katholischen Eugenik-vorstellungen prinzipiell ablehnend gegenüberstand“,114 stimmte darin den In-halten des GzVeN von einem „theoretisch wissenschaftlichen Standpunkt“115 aus zu, kritisierte die Repräsentanten des austrofaschistischen Ständestaates für ihre an der päpstlichen Casti Connubii orientierten Bevölkerungspolitik und bedauerte, dass „die Verhütung unerwünschten Nachwuchses durch

Ste-112 Bei Reichel wurde im August 1941 manisch-depressives Irresein diagnostiziert, woraufhin seine Entlassung aus der Wehrmacht erfolgte. Er starb im März 1943 in der psychiatrisch-neuro-logischen Universitätsklinik Wien, vgl. Mayer, Reichel, 96f.

113 NSDAP-Personalfragebogen Anton Rolleder, 10. Juni 1938, in: ÖStA/AdR, 04, Gauakt Rol-leder. Vgl. weiters Mayer, Netzwerke, 106f und 204. Zum Arbeitsbund für Österreichische Familienkunde vgl. ebd., 106–114.

114 Neugebauer/Schwarz, Wagner-Jauregg, 135. Zur Kontroverse um die Nähe Wagner-Jaureggs zu Eugenik, Rassenhygiene und Antisemitismus vgl. Hubenstorf, Wagner-Jauregg, 218–233 und Neugebauer/Schwarz, Wagner-Jauregg, 124–169.

115 Wagner-Jauregg, Zeitgemäße Eugenik, 4, zit. nach Neugebauer/Schwarz, Wagner-Jauregg, 131.

Diskurse und Gesetze vor dem GzVeN

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rilisierung in Österreich derzeit nicht möglich ist“.116 Obwohl Wagner-Jau-regg die Möglichkeit eingestand, „dass man die Erbeinflüsse überschätzt und die Umwelteinflüsse unterschätzt“117 hätte, sprach er sich nicht gegen eugenisch begründete Eingriffe aus, sondern vielmehr für eine „Probephase“.118 Er recht-fertigte damit indirekt die auf dem GzVeN beruhenden Zwangssterilisationen, ohne sie als solche zu bezeichnen.

Der zuvor schon erwähnte Albert Niedermeyer widersprach Wagner-Jauregg entschieden: Sterilisationen wären – zumeist – irreversibel, die Erblichkeit der Krankheiten nicht nachgewiesen und in den GzVeN-Verfahren weder Fehler noch Missbrauch auszuschließen.119 Und Niedermeyer warnte ihn und seine ideologischen Mitstreiter eindringlich vor der Gefahr der „schiefen Ebene“:120 Die Legalisierung von freiwilligen Sterilisationen führe unmittelbar zu Zwangs-sterilisationen, diese zu Abtreibungen aus eugenischen Gründen und darauf folge die Akzeptanz der Tötung von Menschen. Der sogenannte Gnadentod war ja spätestens seit der 1920 erschienenen Publikation mit dem Titel ‚Die Freigabe der Verhütung lebensunwerten Lebens‘, verfasst von dem Juristen Karl Binding und dem Psychiater Alfred Hoche, Teil des eugenischen Diskurses. Binding und Hoche sahen es als eine „Pflicht gesetzlichen Mitleids“ an, für die „Lebensver-kürzung“ von „unheilbar Krebskranke[n], Schwindsüchtige[n], tödlich Verwun-dete[n]“ und ebenso für die „Tötung unheilbar Blödsinniger“121 einzutreten.

Pro- und antinatalistische Maßnahmen wurden also seit Beginn des 20. Jahr-hunderts in verschiedensten politischen Lagern und Institutionen diskutiert, gefordert und auch umgesetzt – wobei, wie der Medizinhistoriker Gerhard Baader aufzeigte, nach dem Ersten Weltkrieg die negative Eugenik „zu einer immer mehr gesamtgesellschaftlich akzeptierten Leitdisziplin für

gesundheits-116 Wagner-Jauregg, Zeitgemäße Eugenik, 1, zit. nach Neugebauer/Schwarz, Wagner-Jauregg 117 Wagner-Jauregg, Über Eugenik, 1, zit. nach Neugebauer/Schwarz, Wagner-Jauregg, 132.129.

118 Neugebauer/Schwarz, Wagner-Jauregg, 132.

119 Vgl. Mayer, Netzwerke, 140.

120 Vgl. Löscher, Vernunft, 237. Diese argumentative Zuspitzung wurde im Umfeld Niedermeyers, der St. Lukasgilde, nicht geteilt. Vgl. ebd.

121 Zu diesem und den vorangegangenen Zitaten siehe Binding/Hoche, Freigabe, 32f. Zur Diskus-sion der Euthanasie zwischen 1895 und 1933 vgl. Ganssmüller, Erbgesundheitspolitik, 19–24.

1. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

57 politische und gesellschaftspolitische Fragen“122 wurde. Einzige Ausnahme blieb die katholische Kirche, die Empfängnisverhütung generell ablehnte.123

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Ein nationalsozialistischEs unrEchtsgEsEtz

In den ersten Monaten nach der Machtübernahme in Deutschland war das NS-Regime zur Sicherung und zum Ausbau seiner Machtstrukturen an Normalität interessiert, wahrte, so der Rechtshistoriker Michael Stolleis, „die Fassade des

‚bürgerlichen Rechtsstaats‘, […] und verschreckte auf diese Weise auch nicht jene bürgerlichen Eliten“.124 Nicht mehr das Parlament, sondern entsprechend dem so genannten Ermächtigungsgesetz – dem Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933 – hatte die NS-Regierung die alleinige Kompetenz zur Gesetzgebung in allen Rechtsbereichen. Die in der Weimarer Republik geltenden Gesetze wurden vorerst übernommen, schrittweise durch zusätzliche Bestimmungen verändert, durch neue wie das GzVeN ersetzt und vor allem durch bis dahin nicht im Rechtssystem vorhandene wie die Nürn-berger Gesetze ausgeweitet.

Das GzVeN, die erste gesetzliche Maßnahme der Erb- und Rassenpflege, wurde bereits am 14. Juli 1933 verabschiedet und am 1. Jänner 1934 rechtswirksam.

Hitler selbst bezeichnete es als eine „wahrhaft revolutionäre Maßnahme“125 und Reichsjustizminister Hans Frank hielt fest, dass es „in aller Deutlichkeit die nationalsozialistische Weltanschauung erkennen [lässt]“.126 Gemeinsam mit dem 1935 beschlossenen Ehegesundheitsgesetz bildete es die Grundlage

122 Baader, Programme, 136.

123 Zu Franz Vonessen, dem Leiter der Kölner Gesundheitsamtes, der 1933 versetzt wurde, weil er aufgrund seines katholischen Glaubens nicht am Vollzug des GzVeN mitwirken wollte, vgl.

Schmidt, Vonessen, hier: 44–76.

124 Stolleis, Recht, 10.

125 Die Rede des Führers Adolf Hitler am 30. Januar 1934 im Deutschen Reichstag. Leipzig o. J., 35. Zit. nach Bock, Zwangssterilisation, 79.

126 Frank Hans, Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung. München 1935, 815. Zit. nach Bock, Zwangssterilisation, 79.

Das GzVeN – ein nationalsozialistisches Unrechtsgesetz

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des Verbots von Ehe und Nachkommenschaft von als erbkrank kategorisierten Frauen und Männern.127 Das GzVeN baute auf konkreten Gesetzesentwürfen auf, unter anderem auf einem vom preußischen Landgesundheitsrat, neu war jedoch die explizite Legitimation von Zwangsmaßnahmen.128 Es beruhte auf der Annahme der Vererbbarkeit von Krankheiten und legalisierte, dass Men-schen, bei denen angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressives Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildung oder Alkoholismus diagnostiziert wurden, auch gegen ihren Willen sterilisiert werden konnten.129 Schwachsinn, Schizo-phrenie und manisch-depressives Irresein galten gemäß GzVeN grundsätzlich als ererbt und demnach vererbbar, auch wenn diese Annahme in der medizi-nischen Fachwelt kontroversiell behandelt wurde und sowohl die Einführung als auch den Vollzug des GzVeN begleitete.130 Die von der Zwangssterilisation bedrohten Frauen und Männer konnten nur versuchen, exogene Ursachen für die an ihnen diagnostizierten Krankheiten zu nennen.

Bereits damals wurde auch diskutiert, dass sich trotz der Zwangssterilisa-tionen der prozentuelle Anteil als erbkrank geltender Frauen und Männer in den kommenden Generationen unterschiedlich veränderte. Bei Schwachsinn ging man von einer Reduktion des Anteils von zwei Drittel bis zur Hälfte aus, bei Schizophrenie von etwa 2 % und bei manisch-depressivem Irresein von etwa 4 % weniger pro Generation – ohne dass dies die Zwangssterilisation als geeignete Maßnahme zur vom NS-Regime gewünschten Gesundung des

127 ‚Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des Deutschen Volkes‘ (Ehegesundheitsgesetz) vom 18. Oktober 1935, RGBl. I, 1935, S. 1246. Verboten waren nun Ehen zwischen erbkranken und erbgesunden Menschen. Als Ehehindernisse galten neben den bereits im GzVeN angeführten Diagnosen zusätzlich auch ansteckende Krankheiten, insbesondere Tuberkulose, Geschlechts-krankheiten, Entmündigung und geistige Störung. Aus dem Kommentar wird deutlich, dass letztere bei „Psychopathen, Prostituierte[n], Asoziale[n] und dgl.“ vermutet wurde. Die Ehe-schließung unterstand somit staatlicher Kontrolle. Gegen Ehen von zwangssterilisierten Men-schen gab es hingegen keine Einwände. Siehe Erläuterungen zum Ehegesundheitsgesetz vom Rassenpolitischen Amt, 1937. Zit. nach Scherer, „Asozial“, 94.

128 Zur sogenannten Lex Zwickau des deutschen Arztes Gustaf Boeters und dem Entwurf des preußischen Landgesundheitsrats vgl. Hanack, Unfruchtbarmachung, 58, zur Novelle des Strafrechts im Mai 1932 vgl. Bock, Zwangssterilisation, 83.

129 Vgl. RGBl I, S. 529, § 1 und § 12. Zur Erläuterung der Diagnosen siehe weiter unten.

130 Vgl. dazu ausführlich Link, Freiburg, 221–344.

1. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

59 Volkskörpers in Frage stellte.131 Zur Vermeidung von Unklarheiten waren die im GzVeN genannten Erbkrankheiten und die einzelnen Verfahrensschritte, von denen in den folgenden Kapiteln ausführlich noch zu lesen sein wird, in einem umfangreichen Kommentar erläutert. Einer der drei damals sehr renommier-ten und einflussreichen Autoren war der Mediziner Arthur Gütt (1891–1949), seit 1. Mai 1933 Leiter der Abteilung Volksgesundheit des Reichsministeriums des Innern und Vorsitzender des neu gegründeten Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, dem auch die beiden anderen Autoren an-gehörten. Ernst Rüdin (1874–1952), der „bekannteste […] Vertreter der deut-schen Erbpsychiatrie seit den 1920er Jahren“132 war ab 1935 Vorsitzender der Standesvertretung der Psychiater und der Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater. Der Jurist Falk Ruttke (1894–1955) leitete ab 1933 die Reichs-stelle für deutsches Schrifttum und das Reichsamt für Volksgesundheit. Ne-ben dem GzVeN war er auch an der Formulierung der Nürnberger Gesetze beteiligt.133

Das GzVeN war die radikalste Umsetzung aller seit Beginn des 20. Jahrhun-derts gestellten Forderungen nach Sterilisationen. Erstens waren potenziell alle Frauen und Männer betroffen, die als erbkrank galten, unabhängig davon, ob sie stationär psychiatrisch behandelt wurden oder nicht. Zweitens waren alle „mit der Heilbehandlung, Untersuchung oder Beratung von Kranken“134 befassten Personen ebenso wie Lehrerinnen und Lehrer, Fürsorgerinnen, Mit-arbeiter des Sanitätswesens der Wehrmacht, Staatsbeamte und Mitglieder der

131 Vgl. Pötzl, Verhütung, 1205ff, und Neugebauer, Zwangssterilisierung, 18f.

132 Ley, Zwangssterilisation, 46. Gütt war darüber hinaus ab Juni 1935 Chef des SS-Amts für Be-völkerungspolitik und Erbpflege sowie Präsident der Staatsakademie des öffentlichen Gesund-heitsdienstes, weiters Kuratoriumsmitglied des Kaiser-Willhelm-Instituts für Anthropologie, vgl. Klee, Personenlexikon, 210.

133 Rüdin war außerdem am Erbgesundheitsobergericht München tätig und 1937 an der Vorberei-tung und Durchführung der Zwangssterilisationen der Rheinlandbastarde maßgeblich beteiligt.

Lifton nannte ihn einen der „wichtigsten Architekten der Sterilisationsgesetzgebung“, der die Umsetzung der „Mendelschen Gesetze und eugenischen Prinzipien auf die Psychiatrie als seine Mission“ ansah, Lifton, Ärzte, 33. Blasius beschrieb ihn als „beherrschende Figur der nationalsozialistischen Rassenpsychiatrie […] getragen von einem geradezu missionarischen Eifer“. Siehe ders., Maskerade, 271. Zu Ruttke vgl. Klee, Personenlexikon, 516.

134 1. Verordnung zur Ausführung des GzVeN vom 5. Dezember 1933 RGBl. S. 1021 Art. 3, in:

Gütt/Rüdin/Ruttke, Kommentar, 204 sowie 210ff.

Das GzVeN – ein nationalsozialistisches Unrechtsgesetz

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NSDAP bzw. der zahlreichen Parteiorganisationen verpflichtet, beim Ver-dacht des Vorliegens einer Erbkrankheit eine Anzeige beim Gesundheitsamt bzw. der jeweiligen Anstaltsleitung einzubringen. Drittens legitimierte das GzVeN unmittelbare Zwangsmaßnahmen wie die polizeiliche Vorführung vor das Erbgesundheitsgericht, die Einweisung in eine Klinik zur Begutachtung und vor allem auch zur Durchführung der Operation selbst.135 Die Radikali-tät ist auch in quantitativer Hinsicht unübersehbar: So wurden in Dänemark zwischen 1929 und 1933 103 Menschen durch Sterilisation oder Kastration un-fruchtbar gemacht, und in den USA zwischen 1907 und 1933 16.066, die Hälfte davon in Kalifornien. In NS-Deutschland und den besetzten Gebieten wur-den zwischen 1934 und 1945 mindestens 400.000 Menschen zwangssterilisiert, die Zahl der Kastrationen ist unbekannt.136

Das subjektive Recht von Individuen wurde erst 1948 in der Allgemeinen Er-klärung der Menschenrechte verankert – im vor und auch in der NS-Zeit herrschenden Rechtsverständnis war das Wohl des Volksganzen wichtiger als das Wohl des Individuums. Dementsprechend, so Gütt, Rüdin und Ruttke, diente das GzVeN „dem Wohle und dem Schutze der Volksgemeinschaft, d.h.

dem höchsten Rechtsgut, das wir kennen. Der Einzelne hat der Gemeinschaft gegenüber immer zurückzutreten.“137 Zeitgenössische Schulbücher wiesen schon Kinder und Jugendliche darauf hin, dass erbkranke Frauen und Männer mit ihrer freiwilligen Zustimmung zur Unfruchtbarmachung „dem deutschen Volke einen großen Dienst“ erweisen würden, für den ihnen „das deutsche Volk zu Dank verpflichtet [sei]“.138

Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht werden, hieß es im ersten Paragrafen des GzVeN. Diese Kann-Bestimmung verdeutlicht den Handlungsspielraum, den Richter und Ärzte hatten. Selbst wenn sie jemanden als erbkrank kategorisiert hatten, mussten sie keine Zwangs-sterilisation anordnen. Der Zwang betraf die Folgen des Beschlusses, nicht aber den Beschluss selbst: Richter und Ärzte wussten, dass sie ohne Zwang

Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht werden, hieß es im ersten Paragrafen des GzVeN. Diese Kann-Bestimmung verdeutlicht den Handlungsspielraum, den Richter und Ärzte hatten. Selbst wenn sie jemanden als erbkrank kategorisiert hatten, mussten sie keine Zwangs-sterilisation anordnen. Der Zwang betraf die Folgen des Beschlusses, nicht aber den Beschluss selbst: Richter und Ärzte wussten, dass sie ohne Zwang