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GENERALISIERENDER PLURAL

3. POLYVALENZ UND POLYFUNKTIONALITÄT DER SPRACHMITTEL (am Beispiel der ersten Person Plural)

3.2. ZUR SEMANTIK VON "WIR״

3.5.3. GENERALISIERENDER PLURAL

Entgegen der Auffassung von z.B. DRESSLER (1973, 30) oder LYONS (1971, 281), die Pronomina der ersten Person seien in- härent definit, ist der Gebrauch der l.Pers.Pl. nicht unbe- dingt spezifisch, es kann auch eine verallgemeinernde Intention vorliegen. Solche Formen signalisieren ein generell gültiges Urteil und stehen im Deutschen für die eigentlich zu erwartende Form der 3.Pers.Sg. mit obligatorischem m a n .

Betrachten wir folgenden, für den allgemeinen Sprachgebrauch typischen Satz:

(130) Wir müssen somit von der Tatsache ausgehen, daß Xußerun- gen zwischen Sprechern und Hörern in ganz bestimmten sozialen Beziehungen gewechselt werden (...). (21) Der entsprechende Artikel stammt von einem einzigen Autor, der hier - noch unterstützt und unterstrichen durch die Modalität ־ von einer für jeden, für alle Menschen (die sich mit der genann-ten Materie beschäftigen) relevangenann-ten Notwendigkeit spricht. Die genaue Konstitution der Gruppe bleibt unklar, ebenso die Bezie-hung des Sprechers zu der Gruppe oder einzelnen Mitgliedern.

Die Stellung des Hörers ist uneindeutig, er kann, muß aber nicht inkludiert sein; falls er es jedoch (noch) nicht ist, ergeht eine Aufforderung an ihn, sich dem Gesagten anzuschließen.

Im Kontrast zu den konkurrierenden Ausdrucksweisen mit i c h , man und es ergeben sich folgende Spezifika: Der semantische Kontrast zu ich ist augenscheinlich und muß nicht näher erläu- tert werden. Man kätte in (130) zwar ebenfalls als Semem^ bzw.

Semem^ (das hängt z.T. von der Einschätzung des Inhalts der Aussage ab) Sprecher und Hörer inkludierende Funktion, aber keinen appellativen bzw. auffordernden Charakter. Diesen Inhalt drückt - noch verstärkt in der Tendenz zur personenunabhängigen Darstellung - die unpersönliche Konstruktion mit es aus.

Für den generalisierenden Gebrauch der l.Pers.Pl. ergibt sich folgende Merkmalkombination:

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Die funktionale Perspektive ist (wie stets) stark kontext- abhängig, ohne weitere Informationen ist jedoch eine Dominanz der Identifikationsfunktion wahrscheinlich.

Im Russischen tritt die generalisierende Verwendungsweise der 1.Pers.PI. ebenso wie im Deutschen in Form von generellen Aussagen als "verallgemeinert-persönliche1' Bedeutung auf. Ab- weichend vom Deutschen, wo in diesen Strukturen die m a n -Kon- er sich aufgrund unterschiedlich motivierbarer Affinitäten

(Solidarität, gemeinsame Interessen, Gewohnheiten o.a.) ver- bunden fühlt. Die weiteren Agentes müssen aus dem Kontext er- schlossen werden:

(131) Poživem - uvidim.

(28) und (131) unterscheiden sich semanto-pragmatisch durch die stärkere Kontextbedingtheit von (28), das oft konkret auf eine bestimmte Frage, eine unklare Situation o.ä. geäußert wird.

Der Inhalt ist stärker verallgemeir>erbar, 1 personenunabhän-ו

g i g e r 1 ..

1 Es wäre zu untersuchen, inwieweit in formal identischen

Strukturen ähnliche subtile semantische Unterschiede auftre- ten, die sich für die obigen Beispiele nach BONDARKO/BULANTN

(1967, 143f.) folgendermaßen ausnehmen:

Gegenüber der allgemeinen Bedeutungsumschreibung der

1.Pers.PI. 'ja i ešče kto-to, ja i d r u g i e 1 setzen sie bei Wendungen wie (28) und (131) die Subjektsparaphrase 1drugie i ja v tom fcisle' an. Meiner Ansicht nach läßt sich diese Differenzierung jedoch - wenn überhaupt - nur schwer

nach-•

Der Unterschied kann auch pragmatischer, d.h. verwendungs- restringierender Art sein, etwa wenn ein Kontrast allgemeiner - abstrakter Inhalt vorliegt.

Eine verallgemeinernde Bedeutung kann auch durch den Ge- brauch eines Possessivpronomens der I.Pers.Pl. erreicht werden

(132) NaŠ brat b'etsja, как ryba ob led, iz-za kuska chleba, a im vse dostaetsja darom. (59)

Ist die handlungstragende Gruppe allerdings so weit gefaßt, daß sie schon wieder bestimmbar ist - z.B. der Mensch allge- mein, die Bevölkerung eines Landes - so muß man sich fragen,

inwieweit die Generalisierung dann schon wieder in eine Art von Bestimmtheit mündet:

(133) Vmeste s drugimi stranami socialističeskogo sodružestva my predlagaem zaključit1 soglaŠenie meždu NATO i Var- šavskim Dogovorom o neprimenenii siły voobšče. (68) (134) (...) "Zagolovok pomjagče, i s bogom! Nam v e d 1 nužna

b o r 1ba mnenij!". (27)

Funktional betrachtet liegt eine Inklusionsabsicht des Sprechers vor, die auch den Hörer umfaßt, d.h., er möchte beide in eine bestimmte Gruppe eingeschlossen wissen. Dieser Sachverhalt soll mit der Bezeichnung 1Inklusionsfunktion1 um- rissen werden.

vollziehen, da zunächst einmal der semantische Unterschied zwischen den beiden Subjektsparaphrasen konkreter gefaßt werden müßte.

Damit ist die Auflistung der Verwendungsweisen der 1.Pers.

Pl. mit einem referentiell komplexen Agens abgeschlossen, die Vielschichtigkeit bzw. Ambiguität und dadurch bedingte extreme Kontextabhängigkeit in der konkreten Kommunikationssituation sei noch an einem Beispiel kurz veranschaulicht.

Ausgangspunkt ist folgende angenommene Äußerung eines Sprechers einem einzelnen Hörer gegenüber:

(135) My lis' s trudom mogli v y i g r a t 1.

Folgende Interpretationen sind möglich:

1. Der Sprecher ist Mitglied der siegreichen Mannschaft, eben- so der Hörer und ein nicht genau bestimmter Rest von Agen- tes: (135) ist dann nur äußerbar, wenn der Sprecher dem Hörer eine für diesen neue Information übermittelt, die in seiner persönlichen Bewertung *1l i š 1 s trudom” bestehen kann

(der Hörer kann dem widersprechen).

Ohne diesen Passus, vgl.

(136) My vyigrali

wäre der Satz bei dieser Konstellation kaum äußerbar, dann müßten andere Voraussetzungen gegeben sein.

2. Der Sprecher ist Mitglied der siegreichen Mannschaft (die noch aus einem nicht genau bestimmbaren Rest b e s t e h t ) , der Hörer hingegen nicht. Er erhält zweierlei Information:

a. 1wir haben gewonnen*

b. ,es war mühevoll*.

3. Der Sprecher/Hörer ist nicht in die an der Handlung betei- ligte Gruppe inkludiert, identifiziert sich aber mit der genannten Gruppe.

4. Ein nicht an der Handlung Beteiligter kann (135) unter be- stimmten, spezifischen Kontextbedingungen sogar zu einem Handlungsteilnehmer äußern (etwa wenn er seine Meinung über dern Ausgang/Verlauf des Spiels äußern möchte, z.B. wenn es sich um einen Betreuer h an de l t) .

Typologisch gesehen sind 1. und 2. als unterschiedliche For- men des Co-(Real־ )Plurals einzuordnen und 3. und 4. als solche des Kollektivplurals. Die Funktionen der Äußerung wechseln der jeweiligen Äußerungsintention entsprechend. Dies gilt auch für

die Frageform

(137) Nu, как (my) vyigrali?,

bei der die identifizierende Funktion des Personalpronomens u.U. vom Kontext übernommen werden kann.

Eine eindeutige Fixierung der einzelnen Varianten kann in diesem und ähnlichen Fällen nicht mehr allein durch die bis- her eingeführten Beschreibungselemente gewährleistet werden.

Eine den tatsächlichen Verhältnissen adäquate Darstellung ist nur noch auf einer zweiten, in Kap. 3.4. bereits erwähnten Be- schreibungsebene zusätzlicher, (sozio־ )pragmatischer Markié- rungen zu erreichen.

Eine vorläufige Liste solcher Elemente könnte (über die Perspektiven unseres Beispiels hinausgehend) folgendermaßen a us se he n:

die Kommunikationssitua- tion bzw. das Verhältnis der Kommunikationspartner betreffend

+ präs(ent)

♦ dist(anziert)

+ inf(ormativ) + adh(ortativ) + app(ellativ) + kontr(astiv)

+ ident(ifikativ/ifizierend) + pers(uasiv)

+ norm(ativ)

In Beispiel (13) wäre eine eindeutige Beschreibung mit Hilfe einer Kombination der Merkmale L + inf] , [+ ident] und

Г* app] gegeben.

Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, hier mehr als nur Ansatzpunkte aufzeigen zu wollen; eine genauere Analyse wird sicherlich auch zu mehr und noch qenaueren Be-

schreibungselementen führen.

i die Funktion der Äußerung betreffend

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-Allgemein, d.h. äußerungstypologisch gesehen, bestehen in Aussagen vom Typ (135) und (136) temporale Restriktionen. Äus-

serungen dieser Art sind - zumindest stark überwiegend - an das *Nicht-Präsens* gebunden, also im Präteritum, Futur oder futurischen Präsens häufig.

Während

(138) Esli my ne p odtjanemsja, to budet v y g l j a d e t 1 płocho (Aussage eines Fernsehreporters über die bevorstehende zweite Spielhälfte)

ohne weiteres akzeptabel ist, scheinen (139) My perechodim v ataku,

oder

(140) My esce slaby pośle poslednej igry v sredu

dies unter den gleichen situativen Bedingungen nur begrenzt zu sein.

Ausgehend von diesen Faktoren stellt sich die Frage, wie eventuelle temporale Restriktionen allgemein, d.h. auf den ge- samten Objektbereich bezogen, verteilt sind. Beim Co-(Real-) Plural erübrigt sich die Problematisieru ng, es bestehen kei- nerlei temporale Restriktionen. Eine Überprüfung dieser These an Hand von (135) bestätigt die freie Transformierbarkeit in den Interpretationen 1. und 2. in alle Zeitstufen.

Kollektiv-Plural und generalisierender Plural sind jedoch detaillierter zu sehen, hier müssen eingehendere Betrachtungen angestellt werden.

Für den generalisierenden Plural ist das Präsens fast kon- stitutiv zu nennen, was durch die Semantik der Aussage bedingt ist.

Das komplexeste Bild bietet sich demnach beim Kollektiv- plural. Es stellt sich die Frage, ob die sich bei (135) an- deutenden Restriktionen generalisiert werden können.

Zunächst drängt sich die Vermutung einer Inkompatibilität von identifizierender Funktion und Präsens in eigentlich prä-

sentischer (und nicht generalisierender, futurischer o.a.) Funktion auf; als Erklärungshypothese hierfür könnte eine

,Vorrang ig ke it 1 des Co-(Real-)Plurals im Präsens angenommen

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-werden. Dem widersprechen jedoch Beispiele wie (124) oder (126), in denen Identifikations- (bzw. Inklusions-) Funktion und Präsens durchaus kompatibel sind.

Eine Überprüfung weiterer Beispiele widerlegt die vorder- gründige Annahme einer Korrelation zwischen Aussage- bzw.

Funktionstyp und Tempus.

Die Ursachen für die auffällige Kompatibilität auf der ei- n e n , Inkompatibilität auf der anderen Seite sind m.E. woanders, und zwar in den Prädikaten bzw. den Kommunikationssituationen, zu suchen. Ein Prädikat mit einem konkreten Handlungsverb bzw.

eine Kommunikationssituation, in der eine 1mehr oder minder' räumliche Vereinigung von Sprecher und Agens gegeben ist, ist typisch für eine Form des C o - ( Real-) Pl urals, nicht für den Kol- lektivplural, für den eine eher abstrakte Prädikatssemantik und räumliche Distanz charakteristisch sind. In (139) und (140) liegt für den Hörer die Vermutung eines Co-(Real-)Plurals näher als die eines Kollektivplurals.

Den Verwendungsweisen der l.Pers.Pl. mit komplexer Agenten- menge sind diejenigen gegenüberzustellen, bei denen der refe- rentielle Kreis der Handlungsteilnehmer nur eine Person umfaßt oder zumindest auf eine Person beschränkt sein kann.

1 Dies kann, z.B. bei einer Fernseh-/Rundfunkreportage, sug- geriert werden.