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Nach der Definition der Fragestellung und der Ziele dieser Arbeit soll nun kurz auf den Aufbau der Arbeit, deren Hauptteil sich in fünf Kapi-tel gliedert, eingegangen werden.

Im ersten Kapitel werden die Begriffe Kleinstaat und Europäische Integration definiert sowie die theoretischen Grundlagen der Arbeit festgelegt. Das Verständnis der Europäischen Union als ein nichtstaatli-ches, föderal verfasstes System, das ausserhalb der Dichotomie Staaten-bund und Bundesstaat anzusiedeln ist, bildet demnach die Basis für die Untersuchungen im Rahmen dieser Arbeit.

Inhalt des zweiten Kapitels ist die Dynamik des europäischen Inte-grationsprozesses. Zunächst wird gewissermassen ein Entwicklungspro-fil der EU in Hinblick sowohl auf ihre stetige Vertiefung als auch ihre Erweiterung erstellt. Die Vertiefungsdynamik der EU im Inneren wird dabei mit einem speziellen Fokus auf die inhaltlich neuen Qualitäten des Unionsrechts dargestellt, wobei insbesondere die Wechselwirkung zwi-schen Weiterentwicklungen innerhalb der EU und ihren Beziehungen zu Drittstaaten hervorgehoben wird. Im Rahmen der Erweiterungsdyna-mik sollen neben einer Analyse der bisherigen Erweiterungsrunden auch die immer engeren Beziehungen der EU zu Drittstaaten behandelt wer-den. Schliesslich werden Überlegungen zu den künftigen Herausforde-rungen angestrengt, die sich in diesem Zusammenhang einerseits der EU, andererseits Nichtmitgliedern stellen. In einem zweiten Schritt wird eine diesem Entwicklungsprozess der EU zugrundeliegende, rechtliche Zielgebundenheit argumentiert, indem die beiden Integrationsziele Ver-tiefung und Erweiterung als Verfassungsprinzipien des Europarechts qualifiziert werden, zu deren gleichwertigen Berücksichtigung die poli-tischen Entscheidungsträger verpflichtet sind. Diese Pflicht zur best-möglichen Verwirklichung beider Integrationsziele bildet dementspre-chend auch einen rechtlichen Rahmen für grundsätzlich politische Ent-22

scheidungen, wie die Frage über die Form der Integration der europäi-schen Kleinstaaten in die EU.

Das dritte Kapitel widmet sich dem aktuellen Integrationsstand der europäischen Kleinstaaten Monaco, San Marino, Andorra und Liechten-stein. Als Fallbeispiel dieser Arbeit und zugleich als EWR-Mitglied der Kleinstaat mit dem höchsten Integrationsniveau werden insbesondere die liechtensteinischen Beziehungen zur EU näher untersucht, wobei auch auf Vor- und Nachteile der aktuellen Integrationslösung eingegan-gen wird.

Das vierte Kapitel, das den Kern der Arbeit darstellt, setzt sich im Detail mit der Option eines EU-Beitritts europäischer Kleinstaaten aus-einander. Dafür wird zunächst einmal der rechtliche Rahmen für die Aufnahme neuer Mitglieder in die EU behandelt und das neutrale Ver-hältnis der Grösse eines Staates zu den einzelnen Voraussetzungen für einen EU-Beitritt veranschaulicht. Während mit Erfüllung der Aufnah-mekriterien nach Artikel 49 EUV allerdings kein Recht auf Beitritt er-wächst, wird die Entscheidung über den Beitritt eines neuen Mitglieds vielmehr als Ergebnis einer objektiv-rechtlichen Abwägung des Vertie-fungs- und Erweiterungsprinzips qualifiziert. In einem nächsten Schritt wird auf eventuelle kleinheitsspezifische Schwierigkeiten bei der Erfül-lung der Voraussetzungen für einen EU-Beitritt eingegangen. Ein ganzer Abschnitt widmet sich der Schwierigkeit der Repräsentation eines Kleinstaates in den Institutionen der EU, ohne die Legitimität und Fä-higkeit der Unionsorgane, unter neuen Gegebenheiten demokratisch und effizient zu handeln – ein Aspekt des vierten Kopenhagener Krite-riums der Aufnahmefähigkeit der EU – zu gefährden. Dafür wird im Detail auf die Zusammensetzung der einzelnen Unionsorgane sowie in Zusammenhang mit deren demokratischen Legitimation konkret auf diesbezügliche Befürchtungen im Zuge des Beitritts eines Kleinstaates eingegangen, bevor schliesslich die Notwendigkeit einer den Besonder-heiten der EU entsprechende Ausformung des Demokratieprinzips auf europäischer Ebene betont wird. Ausgehend vom föderalen Charakter der EU und dem Fehlen eines europäischen Demos im Sinne eines Staatsvolkes wird die Bedeutung einer Demokratieform mit konsoziati-ven Elementen für das politische System der EU bzw. dessen Nichteig-nung für eine klassisch parlamentarische Demokratie hervorgehoben.

Beruhend auf diesen Überlegungen können schliesslich die kleinheits-spezifischen Schwierigkeiten relativiert und die Vertretung von

Klein-staaten in den Unionsorganen bei gleichzeitiger Wahrung der demokra-tischen Legitimität der EU als durchaus möglich eingestuft werden.

Im fünften Kapitel werden ausgehend von den bereits bestehenden Integrationsdefiziten der kleinsten Staaten Europas und mit Blick auf die stetige Weiterentwicklung der EU im Inneren auf einer weniger abstrak-ten Ebene Vorschläge gemacht, wie eine bestmögliche Integration für Kleinstaaten aussehen könnte. Dabei werden zum einen Perspektiven ei-ner Vertiefung der Integration von Kleinstaaten auf Drittstaatsebene dis-kutiert, wobei sowohl über eine mögliche Stärkung der Mitsprache-rechte in der EU für Nichtmitglieder nachgedacht als auch der Vorschlag einer Ausweitung der Unionsbürgerschaft auf Drittstaaten im Sinne der Schaffung eines «Europäischen Bürgerraums – EBR» gewagt wird. Zum anderen wird – nicht zuletzt angesichts eventueller Schwierigkeiten sei-tens der Kleinstaaten bei der Umsetzung des Besitzstandes aufgrund ih-rer knappen personellen bzw. administrativen Ressourcen – auf die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen von flexiblen Sonderlösungen im Zuge eines Beitritts eingegangen werden. Nach einer Analyse der ver-traglich vorgesehenen Flexibilisierungsmöglichkeiten im Unionsrecht und der umfangreichen Praxis einzelfallbezogener Ausnahmeregelungen wird diesbezüglich argumentiert, dass auch für Beitrittskandidaten im Zuge eines Beitritts die gleichen Optionen einer flexiblen Integration be-stehen müssen wie für «Altmitglieder».

Im Schlussteil der Arbeit soll das Verhältnis dieser Integrationslö-sungen – einerseits auf Drittstaatsebene, andererseits im Rahmen einer Mitgliedschaft mit eventuellen Sonderlösungen – zueinander beurteilt, ebenso wie ein Ausblick bezüglich der konkreten Optionen Liechten-steins in Hinblick auch auf den jüngsten Beitrittsantrag von EWR-Mit-glied Island gewagt werden. Die Arbeit endet mit einer Zusammenfas-sung der Ergebnisse.

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Gang der Untersuchung

1. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

A. Kleinstaat 29

I. Staat – Kleinstaat – Mikrostaat? 29

II. Kleinstaaten und Interdependenz 34

III. Kleinstaatliche Motive für eine Mitgliedschaft in

Internationalen Organisationen 36

B. Europäische Integration 38

I. Der Begriff «Europäische Integration» 38

II. Die theoretische Erfassung der europäischen Integration 38

C. Die EU als föderales Verfassungssystem 41

I. Der Verfassungscharakter des Rechts der EU 41

1. Die Qualifikation als Verfassung 41

2. Folgen / Nutzen einer Verfassungsleseart der

europäischen Verträge 43

II. Die Konzeption der EU als föderales System 44

1. Die föderalen Züge der EU 44

2. Der europäische Föderalismus 47

A. Kleinstaat

I. Staat – Kleinstaat – Mikrostaat?

Bei Staaten mit geringer Grösse ist im alltäglichen Leben regelmässig von «Kleinstaaten» die Rede, sei es in der Berichterstattung der Medien, in Marketingstrategien von Unternehmen oder im Kontext internationa-ler Organisationen.1In der Literatur wird mit Bezeichnungen wie «Mi-kro-», «Kleinst-», «Mini-» oder gar «Zwergstaat» – als besonders kleine Form des Kleinstaates – eine weitere Unterscheidung getroffen,2 teils werden diese Begriffe aber auch als Synonym für «Kleinstaat» verwen-det.3Eine einheitliche Begriffsbestimmung fehlt sowohl für den Klein-als auch den Mikrostaat, das heisst, es besteht keine Einigkeit, wann ge-nau von einem Klein- bzw. Mikrostaat und wann von einem «normalen»

Staat gesprochen werden kann. Im Folgenden sollen die Probleme bei der Definition solcher Staatengruppen bzw. ihrer Abgrenzung vonei-nander aufgezeigt werden, bevor auf den Mehrwert bzw. die Sinnhaftig-keit solch einer Einteilung oder «Rangordnung» der Staaten aus wissen-schaftlicher, insbesondere rechtlicher Sicht eingegangen wird.

Der ehemalige UN-Generalsekretär U Thantumschrieb im Zuge der sogenannten «Mikrostaatenkrise» der Vereinten Nationen solche als

1 Geser, Was ist eigentlich ein Kleinstaat? in: Kirt / Waschkuhn (Hrsg.), Kleinstaaten-Kontinent Europa, S. 89 (2001).

2 Siehe dazu Gstöhl, Der Mikrostaat als Variante des Kleinstaats? Erfahrungen mit UNO und EU, in: Kirt / Waschkuhn (Hrsg.), Kleinstaaten-Kontinent Europa, S. 101, 102 (2001); Kilian, Staat – Kleinstaat – Kleinststaat: eine völkerrechtliche Betrachtung, in: Cremer et al. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts, S. 197 ff. (2002).

3 Siehe etwa Niedermann, Die Bedeutung der Staatskriterien für den Kleinstaat, in:

Beiträge zur Liechtensteinischen Staatspolitik, S. 75, 82 (1973).

«. . . entities which are exceptionally small in area, population and human and economic resources . . .».4

Diese Definition von 1967 liefert zwar mehrere Anknüpfungs-punkte für die Bestimmung der Kleinheit eines Staates, lässt aber offen, was «exceptionally small» entspricht.5Die Klein- und Mikrostaatenfor-schung, die zu dieser Zeit und in den darauf folgenden Jahren ihren bis-herigen Höhepunkt erlebte, orientierte sich bei der Einstufung von Staa-ten als Klein- oder MikrostaaStaa-ten vor allem an der Bevölkerungsgrösse.6 Konkret wurden sehr unterschiedliche Einwohnerobergrenzen zwi-schen 11 und 16 Mio.7für Kleinstaaten und eine weitere Abgrenzung zu Mikrostaaten bei 1 Mio.8, 500 0009, 300 00010oder 100 00011Einwohnern vorgeschlagen. Die Bevölkerungszahl scheint sich als Kriterium für die Grösse eines Staates gut zu eignen, da es sich zum einen um einen leicht bestimmbaren Wert handelt und zum anderen doch einige der oben ge-nannten Faktoren direkt oder zumindest mittelbar damit zusammen-hängen.12 Eine geringe Bevölkerungszahl bedeutet jedoch nicht immer

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Kleinstaat

4 U Tant, Report of the Secretary General 1966/67, VN-Dok. A/6701/Add.1, para.

163.

5 Geserbeschreibt einen solchen durch objektive Kriterien messbaren Aspekt von Kleinstaatlichkeit als substantielle Kleinheit, in Geser 2001, S. 89–100.

6 M. w. N. Seiler, Kleinstaaten im Europarat – Fallstudien zu Island, Liechtenstein, Luxemburg und San Marino, S. 10 (1995).

7 Siehe etwa die sog. Laxenburger Definition von Kleinstaatlichkeit (Symoposium eu-ropäischer Kleinstaaten in Laxenburg), zitiert bei Höll, Small States in Europe and Dependence (1983); Gstöhl 2001, S. 13; weitere Nachweise bei Hein, The Study of Microstates, in: Dommen / Hein (Hrsg.), States, Microstates and Islands, S. 16, 23 (1985).

8 Rapport / Muteba / Thurettil, Small States and Territories: Status and Problems – a UNITAR Study, S. 31 (1971); Mendelson, Diminutive States in the United Nations, ICLQ 1972, S. 609, Anm. 1; Gunter, What happened to the United Nations Minis-tate Problem? AJIL 1977, S. 110, Anm. 1; Sack, Die Zwerge Europas, EuZW 1997, S. 45, 46; Seiler, Kleinstaaten im Europarat, in: Busek / Hummer (Hrsg.), Der Klein-staat als Akteur in den Internationalen Beziehungen, S. 292, 294 (2004).

9 Darsow, Zum Wandel des Staatsbegriffs, S. 175 (1984); von Wedel, Der sogenannte

«Mikrostaat» im internationalen Verkehr, in: VRÜ 1972, S. 303, 305.

10 Ehrhardt, Der Begriff des Mikrostaats im Völkerrecht und in der internationalen Ordnung, S. 102 (1970); Blair, The Ministate Dilemma, S. 3 (1968).

11 Für einen Überblick siehe Hein 1985, S. 16, 23–15.

12 Über die Praktikabilität der Bevölkerungszahl als Parameter mit Blick auf den Men-schen als ideellen Ausgangspunkt, siehe Häberle, Kleinstaaten als Gegenstand einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre, in: Kirth / Waschkuhn (Hrsg.), Klein-staaten-Kontinent Europa, S. 125, 126 (2001).

auch eine schwache Wirtschaft und umgekehrt, was zur Folge hat, dass auf diese Weise differenzierte «Kleinstaaten» untereinander von teils sehr unterschiedlichen Interessens- und Problemlagen geprägt sind.13 Ebenso konnte bei Berücksichtigung anderer Kriterien wie der Staatsflä-che14oder der politischen Selbstwahrnehmung15kein einheitlicher Wert gefunden werden, der im Ergebnis eine homogene Staatengruppe als Klein- oder Mikrostaaten qualifiziert hätte.16 Somit war bislang keine allgemein anerkannte wissenschaftliche Definition des Kleinstaates mög-lich.17

Aus juristischer Sicht haben das Fehlen einer allgemein anerkannten Definition und die damit zusammenhängende Willkür bei der Bestim-mung eines Klein- oder Mikrostaates die Untauglichkeit der Bezeich-nung als Rechtsbegriff zur Folge.18Dies nimmt bereits die Antwort auf die Frage vorweg, ob Kleinstaaten im Völkerrecht ein spezieller Status zukommt. In den 1970er Jahren wurde zwar in der Tat die Schaffung ei-ner vom Staat verschiedenen völkerrechtlichen Kategorie der Klein- oder Mikrostaaten, die mit eigenständigen Rechten und Pflichten ausgestattet sind, verfolgt,19nach heute herrschender Meinung existiert solch eine ei-gene Kategorie der Mikro- oder Kleinstaaten jedoch nicht.20Hummer ar-gumentiert gegen einen solchen Kategorieansatz, dass es sich bei dem Be-griff Kleinstaat eben nicht um einen Gattungs-, sondern um einen Typen-begriff handelt.21Kleinstaaten – als lediglich kleinere Versionen von Staa-ten – sind wie alle anderen StaaStaa-ten gleichberechtigte

Völkerrechtssub-Staat – Kleinstaat – Mikrostaat?

13 So auch Mendelson 1972, S. 609, Anm. 1.

14 500 km2bei Sack 1997, S. 45, 46.

15 Blair 1968, S. 3; Rapport / Muteba / Thurettil 1971, S. 183–102.

16 Niedermann 1973, S. 87.

17 «micro-states have never been authoritatively defined.» siehe bei Kokott, Micro-States, in: Bernhardt (Hrsg.), EPIL, Bd. III, S. 362 (1997); Waschkuhn, Sturkturbe-dingungen des Kleinstaates und ihre Auswirkungen auf den politischen Entschei-dungsprozess, in: Geiger / Waschkuhn (Hrsg.), Liechtenstein – Kleinheit und Inter-dependenz, S. 13, 17 (1990).

18 Meckler, Der Kleinstaat im Völkerrecht, S. 77 (2006); Gstöhl 2001, S. 101, 102.

19 Siehe insb. Ehrhardt 1970.

20 M.w.N. Hummer, Kleinstaaten im Völkerrecht, in: Busek / Hummer (Hrsg.), Der Kleinstaat als Akteur in den Internationalen Beziehungen, S. 23, 117 (2004); Stapper, Europäische Mikrostaaten und autonome Territorien im Rahmen der EG, S. 84 (1999); Niedermann 1973, S. 88.

21 Hummer 2004, S. 23, 42.

jekte und der Begriff Klein- oder Mikrostaat hat daher aus rechtlicher Sicht nur metajuristischeBedeutung.22Von einer rechtlichen «Rangord-nung» der Staaten auszugehen wäre dementsprechend verfehlt.23

Auch im Zuge der Kleinstaatendebatte entwickelte, politikwissen-schaftliche Thesen betreffend das ähnliche aussenpolitische Verhalten von Kleinstaaten aufgrund ihrer geringen strukturellen Grösse, insbe-sondere eine befürchtete Blockbildung in Internationalen Organisatio-nen, haben sich nicht bewahrheitet,24 was wohl auf die oben beschrie-bene, mangelnde Homogenität innerhalb einer willkürlich bestimmten Gruppe der Kleinstaaten zurückzuführen ist. Ebenso relativierten sich wirtschaftswissenschaftliche Prognosen in Hinblick auf den Zusammen-hang von Wohlstand und Kleinheit eines Staates angesichts der zuneh-menden Globalisierung und Europäisierung,25was gleichzeitig den Ein-fluss neuer sozialer und politischer Umstände einer sich verändernden Welt auf die Position der kleinen Staaten veranschaulicht.

Das soeben Gesagte sollte zeigen, dass eine allgemeine Einteilung von Staaten in eine geschlossene Gruppe der «Klein-» oder «Mikrostaa-ten» anhand von fixierten Zahlen nicht einheitlich möglich ist bzw. zu unstimmigen Ergebnissen führen kann. Vor allem hat die Klassifizierung als Klein- oder Mikrostaat keine rechtliche Andersbehandlung zur Folge. Dennoch wird vertreten, dass eine Zusammenfassung von Staaten mit geringerer Substanz als «Klein-» oder «Mikrostaaten» im Rahmen wissenschaftlicher Arbeiten durchaus praktikabel und auch sinnvoll sein kann, da diese bei all ihren Verschiedenheiten und damit verbundener Schwierigkeit, sie in einer homogenen Gruppe zu verbinden, auch in vie-lerlei Hinsicht Gemeinsamkeiten aufweisen. Welche Staaten schliesslich nach welchen Kriterien als klein einzustufen sind, hängt jedoch vom je-weiligen Forschungsgegenstand bzw. Thema einer Untersuchung ab.

Dementsprechend sind Klein- bzw. Mikrostaaten nicht als eine geson-derte Staatenkategorie, sondern vielmehr als Abschnitte oder Einheiten

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Kleinstaat

22 von Wedel 1972, S. 303, 314; Hummer 2004, S. 23, 34–35 u. 113.

23 Siehe auch die in Artikel 2 Ziffer 1 UN-Charta verankerte «souveräne Staaten-gleichheit».

24 Gstöhl 2001, S. 101, 103; Amstrup, The Perennial Problem of Small States: A Sur-vey of Research Efforts, in: Cooperation and Conflict 1976, S. 163–182; Höll, Kri-tische Anmerkungen zur Kleinstaatentheorie, ÖZP 1978, S. 259–174.

25 Gstöhl 2001, S. 101, 104.

auf einer nach oben und unten offenen Skala zu verstehen,26deren Über-gänge fliessend sind und je nach Sachzusammenhang variieren.

So ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu berücksichtigen, dass einerseits der europäische Raum generell von eher kleinen Staaten ge-prägt ist27 und andererseits – betreffend dem passenden Unterschei-dungsparameter – im Hinblick auf den möglichen EU-Beitritt bzw. all-fällige Alternativen eine Vielzahl von Faktoren entscheidend sind. Bei der Frage nach der Repräsentation von kleinen Staaten in den Institu -tionen der EU, die einen Kernteil der Arbeit ausmacht, spielt jedoch die Bevölkerungsgrösse eines Staates eine vorrangige Rolle und man kann davon ausgehen, dass sich diesbezüglich für europäische Staaten mit be-sonders geringer Einwohnerzahl gleichartige Grundprobleme stellen werden. Demnach versteht die vorliegende Arbeit, deren Ziel die recht -liche Auseinandersetzung mit gerade solchen grundsätz-lichen Proble-men ist, unter den «europäischen Kleinstaaten» die bevölkerungsärmsten Staaten Europas. Speziell untersucht werden das Fürstentum Liechten-stein sowie Monaco, San Marino und Andorra. Auf eine Einwohnerobergrenze wird bewusst verzichtet, da sich zum einen keine zahlen -mässige Untergrenze bestimmen lässt, ab der Integration «problema-tisch» wird und zum anderen der finale Ausgang einer Entscheidung über den EU-Beitritt sowie generell die Form der Integration eines Kleinstaates eben auch von weiteren Faktoren als der Einwohnerzahl ab-hängig ist.28

Während die Arbeit vor allem Fragen betreffend die Integration von Kleinstaaten aus Sicht des europäischen Verfassungsrechts behan-deln wird, soll in den folgenden Punkten 2 und 3 kurz auf allgemeine Problemstellungen, die sich für Kleinstaaten bei Entscheidungen über die Führung ihrer Internationalen Beziehungen stellen, eingegangen werden.

Staat – Kleinstaat – Mikrostaat?

26 So auch Häberle 2001, S. 125, 126.

27 Kleinheit ist ja generell ein komparatives Konzept.

28 Die Integrationsform kann dementsprechend auch unter den vier zu untersuchen-den Kleinstaaten stark divergieren.

II. Kleinstaaten und Interdependenz

Interdependenz ist zu verstehen als die wechselseitige Abhängigkeit29 oder externe Verflechtung30von Staaten. Dabei handelt es sich um einen Zustand, mit dem kleine Staaten seit jeher konfrontiert sind,31der aber angesichts der immer fortschreitenden Globalisierung und Europäisie-rung auch für grosse Staaten zunehmend Realität wird. Für Kleinstaaten, die mit ihren beschränkten materiellen und / oder personellen Ressour-cen besonders stark vom internationalen System abhängig sind,32besteht jedoch stets das Risiko, dass sich die eigentlich wechselseitige Interde-pendenz zu einer asymmetrischen DeInterde-pendenz entwickelt.33 Mit solch einer externen Abhängigkeit ist die Gefahr von Fremdbestimmung ver-bunden, wobei gerade Staaten mit kleinen internen Märkten besonders verletzlich sind. Will ein solcher Staat nicht auf gewisse Leistungen ver-zichten, ist er auf die Beziehungen mit anderen Staaten angewiesen, wo-mit automatisch ein Verlust von Selbstbestimmung einhergeht. Oft ist daher in diesem Zusammenhang von einem Abhängigkeitsdilemma des Kleinstaates die Rede.34

Für Kleinstaaten gibt es jedoch verschiedene Wege ihre Selbstbe-stimmung zu schützen, entweder durch bewusste Betonung ihrer Neu-tralität oder durch verstärkte Integration.35Das Ziel der neutralistischen Strategie ist die Verringerung von externer Abhängigkeit durch

Ab-34

Kleinstaat

29 Waschkuhn 1990, S. 13, 15; Zemanek, Interdependence, in: Bernhardt (Hrsg.), EPIL, Bd. II, S. 1021 (1995).

30 Gstöhl 2001, S. 41.

31 Meckler 2006, S. 101; siehe auch Waschkuhn 1990, S. 13, 16.

32 Hänggi, Small States as a third State: Switzerland and Asia-Europe Interregionalism, in: Goetschel (Hrsg.), Small states inside and outside the European Union, S. 79, 85 (1998); Rothschild, Liechtenstein ist ein kleiner Staat – na und? in: Riklin / Wildha-ber / Wille (Hrsg.), Kleinstaat und Menschenrechte, Festgabe für Gerard Batliner zum 65. Geburtstag, S. 27, 34 (1993); Vogel, Small States’ efforts in international re-lations: enlarging the scope, in: Höll (Hrsg.), Small States in Europe and Depen-dence, S. 54, 57 (1983).

33 Waschkuhn 1990, S. 13, 15.

34 Ebda; Gstöhl 2001, S. 43.

35 Kukan, Small States in the System of International Relations, in: Busek / Hummer (Hrsg.), Der Kleinstaat als Akteur in den Internationalen Beziehungen, S. 13, 15 (2004); Gstöhl, 2001, S. 45 f.; Kreile / Michalsky, Kleinstaaten im Prozess der

euro-schottung und gezielte Nischenpolitik.36Gerade in einer eng verflochte-nen Region wie Europa kann solch eine isolationistische Haltung jedoch das Gegenteil, nämlich zunehmende Fremdbestimmung, bewirken.37 Verstärkte Integration auf der anderen Seite durch Mitgliedschaften in internationalen oder regionalen Organisationen bedeutet für den Klein-staat zwar auch die Aufgabe von Autonomie, dafür eröffnen sich im Ge-genzug neue Einflussmöglichkeiten in Form von Mitbestimmung. An-gesichts des hohen europäischen Integrationsniveaus ist Mitbestimmung allgemein ein bedeutendes Mittel geworden, um Fremdbestimmung zu vermeiden.38Darüber hinaus gehen die besonders kleinen Staaten oft be-wusst Abhängigkeitsverhältnisse mit einzelnen Staaten, meist ihren Nachbarstaaten, ein, wie etwa das Fürstentum Liechtenstein im Rahmen des Zoll- und Währungsvertrags mit der Schweiz, um die ohnehin knap-pen Ressourcen zu schonen und für andere Staatsaufgaben freizuhal-ten.39Die Lösung ist, wie so oft, ein richtiges Mass an Eigenständigkeit und Integrationswillen sowie Flexibilität gegenüber den sich stetig ver-ändernden äusseren Rahmenbedingungen. Die Zukunft Liechtensteins in Europa etwa wird stark vom aussenpolitischen Verhalten der Schweiz sowie den anderen EWR-Ländern und zudem von der Entwicklung der EU selbst abhängen. Diesbezügliche politische Veränderungen geschickt für die Verwirklichung der eigenen Interessen zu nutzen, wird von gros-ser Bedeutung sein. Wie bereits erwähnt, wird diese Arbeit nicht auf konkrete Zukunftsszenarien eingehen können, sondern versuchen die rechtlichen Grundfragen zu klären.

Kleinstaaten und Interdependenz

päischen Integration, in: Riklin (Hrsg.), Kleinstaat und Menschenrechte, Festgabe für Gerard Batliner zum 65. Geburtstag, S. 229, 230 (1993); Vogel, Der Kleinstaat in der Weltpolitik: Aspekte der schweizerischen Aussenbeziehungen im Internatio-nalen Vergleich, S. 44 f. (1979).

36 Gstöhl 2001, S. 46.

37 Schweizer Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2000 – Präsenz und Kooperation:

Interessenwahrung in einer zusammenwachsenden Welt, S. 297; Kälin / Riklin, Ziele, Mittel und Strategien der schweizerischen Aussenpolitik, in: Riklin (Hrsg.), Neues Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik, S. 167, 185 (1992).

38 Cameron, Europe’s Future, in: ders. (Hrsg.), The Future of Europe: Integration and Enlargement, S. 149, 160 (2004); Gstöhl 2001, S. 52; dazu auch Böhm, Eine Frage der

38 Cameron, Europe’s Future, in: ders. (Hrsg.), The Future of Europe: Integration and Enlargement, S. 149, 160 (2004); Gstöhl 2001, S. 52; dazu auch Böhm, Eine Frage der