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Belyjs Verhältnis zu Nietzsche ist komplexer als das zu Kant und Rickert. Diese Komplexität aber geht auf Nietzsche selbst zurück. In dessen Schriften fehlt v.a. ein systematisches Haupt- werk - etwa analog zur “Kritik der reinen Vernunft״ - , das auch den Hauptbezugspunkt einer philosophischen Rezeption ausmachen könnte. Zwar plante Nietzsche noch ein solches Werk unter verschiedenen Titeln wie *4Umwertung aller Werte”, “Unschuld des Werdens”, “Wille zur Macht”, “Mittag und Ewigkeit”, doch er konnte es nicht mehr fcrtigstellen. Daß seine Schwester Elisabeth im Nachhinein die Bruchstücke als “Wille zur Macht” herausgibt, stellt eine Quellen- fälschung dar.1 Die mangelnde Systematik ist vielmehr der Philosophie Nietzsches inhärent und somit das Fehlen des Hauptwerks konsequent. Er schreibt gegen die herkömmlichen Werte (die christliche Moral u.a.), die dem Leben einen abstrakten Sinn aufoktroyieren, damit aber gerade dieses Leben mißachten. Nietzsches Philosophie ist ihrerseits aus der Persönlichkeit des Verfas- sers geboren und deshalb nichts weniger als ein abstraktes Gebilde. Seine Schriften können nicht ohne Rücksicht auf die Biographie verstanden werden, und sie verändern sich, wie sich auch Nietzschcs Leben ändert. Für den Rezipienten müssen ihre Vielzahl und ihr unterschiedlicher Charakter in den Blick kommen.

Diesem Umstand trägt Belyj von Anfang an Rechnung. Er ist schon 1903 mit der von Šcstov vorgclegtcn Nietzsche-Deutung vertraut, nach der die Philosophie als Selbstrechtfertigung ihres Autors erscheint.2 Šcstov vermutet hinter dem Werk als eigentliche Antriebskraft die Befindlich- keit des Verfassers, besonders dann, wenn dieser krank ist. Er projiziert Nietzsches Texte auf dessen Biographie. Und so liest auch Belyj. Aufs engste verwoben sind philosophische Rczcp- tion und Einfühlung in die Person Friedrich Nietzsche. Belyj entdeckt dabei deutliche Parallelen zwischen Nietzsches und seinem eigenen Leben.

Unterstrichen wird diese persönliche Nähe aber noch durch eine andere, von Belyj wiederholt vorgetragene These. Er erklärt Nietzsche zum Symbolisten? Damit wird nicht nur die individuel­

1 Zu N ietzsch es Projekt eines system atischen Hauptwerks und verschiedenen Titeln so w ie zur Manipulation durch die Schw ester vgl.: Janz. C.P.: Friedrich Nietzsche. Biographie. Bd. 2. M ünchen 1981. S. 577; Bd 3 M ünchen 1981. S. 372. R oss. W.; Der ängstliche Adler. Friedrich N ietzsches Leben. Stuttgan 1989 S 724Í.799.

2 Vgl.: Š csto v , L.: Dostoevskij i NicSc. (F ilosofija tragedii) (1902). Berlin 1922. S. 9 7 ff. Belyj erwähnt das Nietzsche-Buch Šcstovs in "Simvolizm, как miroponimanic‘*. Vgl.: Belyj, A.: Sim volizm , как miroponimanic.

(1903) In: Arabeski. a.a.O. S. 235.

י Vgl.: B elyj. A.: Fridrich N icše. In: Arabeski. a.a.O. S. 78. Ders.: Na rubeże dvueh siolctij. (1 930). M oskva 1989. S . 434.

le Ähnlichkeit angezeigt - Nietzsche ein Symbolist wie Belyj auch - , sondem eine bestimmte Einschätzung der Philosophie vorgenommen. Belyj geht es offenbar weniger um Nietzsches Denken als um die Präsentation dieses Denkens: Gerade Nietzsche hat in seinem Werk gezeigt, wie wenig Form und Inhalt zu trennen sind, und die Form. Nietzsches Stil, sein Rhythmus, seine Bilder werden bei Belyj zum Thema. Daß diese eigentlich künstlerischen Gestaltungsmittel wiederum als solche Einfluß nehmen, liegt auf der Hand. Belyjs Stil und Motivik müssen also, insofern sie auf die Quelle ‘Nietzsche* zurückzuführen sind, sowohl in seiner Theorie als auch im Roman “Peterburg" berücksichtigt werden. Der Deutlichkeit halber soll deshalb bei der Behandlung der Biographie wie der Stilistik Nietzsches auch auf Beispiele aus “Peterburg“

vorgegriffen werden.

Wie steht es nun aber um die eigentlich philosophische, die inhaltliche Rezeption? Welche Texte Nietzsches hat Belyj überhaupt gelesen, worauf gründet sich sein Gesamteindruck? In seinen Erinnerungen liest man: “Период с осени 1899 года до 1901 мне преимущественно окраш ен Н ицш е, чтением его сочинений, возвращением к ним опять и опять; «Так говорил Заратустра» стала моей настольною книгою.“4 (“Die Zeit vom Herbst 1899 bis 1901 füllte ich vor allem mit Nietzsche aus, mit dem Lesen seiner Werke, zu denen ich immer wieder zurückkehrte; ‘Also sprach Zarathustra’ war mein unentbehrliches Buch “) Nun spricht Belyj zwar von den Werken Nietzsches im Plural, konkret aber nennt er nur “Also sprach Zarathustra“. Und diese Aussage ist bezeichnend. Belyjs Rezeption gilt vorwiegend diesem einen Buch. Die unveröffentlichten autobiographischen Materialien ergeben das gleiche Bild: Auf November/Dezember 1899 datiert Belyj seine erste bewußte Beschäftigung mit Nietzsche, genannt wird aber nur “Zarathustra”5, im Sommer 1902 liest er “Zarathustra” im Original6; 1907, als er seinen Aufsatz “Фридрих Н ицш е” verfaßt, spricht er von der bereits siebenfachen Lektüre des Buches7, weitere - so läßt sich schließen - dürften gefolgt sein, da das Interesse an Nietzsche keineswegs abnimmt. Belyj kennt also “Zarathustra” nahezu auswendig. Was jedoch die anderen Werke Nietzsches betrifft, so liefert er nur rudimentäre Angaben über seinen Kenntnisstand. Da ist zunächst einmal die “Geburt der Tragödie”, die mit dem Gegensatzpaar apollinisch-dionysisch und der Auslegung des Dionysischen als Musik schon früh in Belyjs

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4 Dcrs.: Na rubcžc dvueh stolciìj. a.a.O. S. 435.

5 Vgl.: Dcrs.: Material к biografii (intimnyj). a.a.O. Blau 13.

6 Vgl.: ebd.: Blatt 29.

7 Vgl.; Dcrs.: Fridrich NicSc. a.a.O. S. 80.

Texten präsent ist.8 Weitere Quellen aber kommen nur vage zur Sprache. In "Фридрих Ницше"

(1907) findet sich ein versteckter Hinweis auf die “Fröhliche Wissenschaft”9, daneben zitiert Belyj die Spätschrift "Der Fall W agner’*10, die weitere Rezeption scheint in die Zeit nach 1911 zu fallen: Erwähnt werden "Ecce homo’*11, "Die Philosophie im tragischen Zeitalter derG ne- chen” 12 sowie die "MorgenrÖthe” .13 Muß man nun die Nietzsche-Rezeption Belyjs - vor allem in seiner theoretisch produktivsten Phase bis etwa 1910 - als philosophisch irrelevant bezeich- nen? Liegen hier, ähnlich wie im Falle der Rezeption von Kants "Kritik der Urteilskraft", nur ein paar belanglose Bemerkungen vor, ohne inhaltliche Verarbeitung, ohne näheres Hinsehen?

Kümmert sich Belyj nur um das offensichtlich literarischste Werk Nietzsches, um “Zarathustra”?

Und auch dabei wesentlich um die Form, nicht aber den Inhalt?

Diese Fragen müssen trotz des gegenteiligen ersten Eindrucks verneint werden. Gegen eine platte und nur die Mode bestätigende Nietzsche-Rezeption Belyjs14 spricht schon die Tatsache, daß er die wichtigsten Ideen aus “Zarathustra”, die "Ewige Wiederkunft des Gleichen” sowie den

“Übermenschen” nicht als Schlagworte im Mund führt, sondern sich intensiv damit auscin- andersetzt. Von 1903 an ("С им волизм , как м иропоним ание”) bis in die 20er Jahre hinein beschäftigt sich Belyj mit der "Ewigen Wiederkunft” und legt durchaus verschiedene

Inter-ץ

Siehe da/и die Kapitel A.II.2.1 .a) und b) ( “M etaphysische inspiration‘' und “Der Konflikt zwischen Theater und Leben”) in dieser Arbeit.

Belyj spricht davon, daß N ietzsche vor 25 Jahren eine beißende gesellschaftliche A nalyse verfaßt habe. Nimmt man das Datum des B elyj-A ufsatzcs (190 7) als Ausgangspunkt, so handelt cs sich um einen Text Nietzsches aus dem Jahre 1882. d.h. um die "Fröhliche W issenschaft". Vgl.: Belyj, A.: Fridrich NicSe. a.a.O. S. 87.

10 Vgl.: ebd.: S. 85: *"Ach. ctot staryj razbojnik! - vosklicact on (NicSe. A .Z .) po adresu Vagnera. - on ra/gadal v muzyke sredstvo vozbuždat* ustalye nervy, on étim sdclal muzyku hol’nőj V* Vgl. dazu N ietzsche. F.: Der Fall Wagner. (1888) KSA Bd. 6. Berlin. N ew York 1988. S. 23: “Wagner ist ein grosser Verderb für die Musik. Br hat in ihr das Mittel errathen. müde Nerven zu reizen, - er hal die Musik damit krank gemacht."

11 Vgl.: Belyj. A.: K rugovoe d vižcn ic. (K reislauf) In: Trudy i dni. 1912. Nr. 4*5. S. 64.

12 Vgl.: Ders.: Krizis m ysli. (1 9 1 6 /1 7 ) a.a.O. Blatt 9.

15 Vgl.: Ders.: Krizis soznanija. (1 9 2 0 /2 1 ) a.a.O. Blatt 36.

14 Zum Einfluß N ictzschcs auf die russische Kultur im Zeitraum von 1890 bis 1912 vgl.: Rosenthal. B.G . (Hrsg.):

N ietzsche in Russia. Princeton 1986. Eine detaillierte Besprechung dieses B andes mit ergänzenden Litcraturhinweiscn zur deutschsprachigen Forschung gibt. Deppcrmann. M.: N ietzsch e in Rußland In:

N ietzsche-Studien. Bd. 21. 1992. S. 2 1 1 -2 5 2 . Deppcrmann charakterisiert die begeisterte Rezeption, die Nietzsche in Rußland erfährt, so w ie den gem einsam en Nenner und die Differenzen zw ischen den Deutungen treffend: “Der spezifisch ‘russische Nietzsche* wurde also durch das nationale Prisma wahrgenommen. Er bot als Prophet der Zukunft d ie V ision einer neuen Kultur für Aktivisten aller couleurs und wirkte durch sein faccttcnrcichcs Denken auf Gruppierungen mit antagonistischem soziokullurcllem Ideal." ebd.: S. 221. Vgl.

auch den neueren russischen Beitrag zu dem selben Thema: Danilevskij, R.Ju.: Russkij obraz Fridricha NicSc.

(Prcdystorija i nacalo formirovanija) In: Na rubeżc XIX i X X vekov. Iz istori! meżdunarodnych svjazej russkoj literatury. Leningrad 1991. S. 5-43.

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pretationen vor.15 Von hier aus gesehen, wäre es nur schwer verständlich, wenn sich Beiyj nicht um klärende Angaben aus anderen Texten Nietzsches bemüht hätte. In Betracht kommen zumindest die “Fröhliche Wissenschaft”, in der sich der Gedanke von der “Ewigen Wiederkunft”

zum ersten Mal ankündigt, sowie Nietzsches spätere Abhandlungen zur Moral als Präzisierung der ethischen Perspektive des “Übermenschen”.

Auch passen die spärlichen konkreten Hinweise auf die Nietzsche-Rezeption wenig zu der Tatsache, daß Belyj eine 16־bändige Nietzsche-Ausgabe zur Hand hat16 und nicht nur per Zeitgeist, sondern sehr viel intensiver durch seinen Freund Emilij Meiner mit Nietzsches Philosophie vertraut ist.17 Die Gespräche mit Meiner müssen - zumal Meiner in den Jahren 1900-1905 die Lektüre der Gesamtausgabe Nietzsches bewältigt hat18 - doch mehr als pure Paraphrasen von “Zarathustra”־Zitatcn beinhaltet haben. Belyj war auch für Nietzsche - ganz anders als im Falle Kants - förmlich entflammt. An Interesse und Anregungen hat es nicht gemangelt. So ist es auch von dem biographisch-gesellschaftlichen Kontext aus gesehen kaum wahrscheinlich, daß Belyj seine Lektüre auf zwei Werke (“Die Geburt der Tragödie” und “Also sprach Zarathustra”) eingeschränkt haben sollte. Eher drängt sich der Verdacht einer bewußten Zurückhaltung auf.

Dieser Verdacht wird genährt durch die Tatsache, daß Belyjs Theorie von 1906 an, als er ein offenes, rezeptionsbezogenes und dem inneren Erleben seines Schöpfers entsprungenes Symbol favorisiert, auffallende Parallelen zu Nietzsches vor dem “Zarathustra” geschriebenen Werken, bes. zur “Morgenröthe” und zur “Fröhlichen Wissenschaft” aufweist. Der erneute Bezug zur Erkenntnis (bei Nietzsche als Distanzierung von der “Geburt der Tragödie”, bei Belyj als Kehrtwcndc zur Frühphase), die damit verbundene Reibung an Kant, die Abschaffung des Dings an sich, die Akzentuierung von Aktivität und Experiment, das Werte-Setzen - all diese Gemein- samkeiten fallen stark ins Auge. Ein Schlagwort Nietzsches - ”das Leben ein Experiment des

15 Nietzsches Idee der “F.wigcn Wiederkunft in Belyjs Theorie so w ie den vier "Sym phonien” untersucht Ann M.

Lane. Der Überblick, den I^ine zw eifellos bietet, geht allerdings zu In sten der G enauigkeit. Lane mißachtet die Schwankungen in B elyjs Theorie, die auch seine N ietzsche-R ezeption betreffen. S ic unterstellt, daß Belyj durchgängig eine Synthese von N ietzsche und S o lo v ’ev , von Ewiger W iederkunft und Apokalypse im Blick hatte. D ies trifft nur auf den frühen Belyj und - mit großen Abstrichen - noch auf die Zeit bis 1911 zu. 1912 setzt sich Belyj von diesem Gedanken Nietzsches ab. V gl. das Kapitel III “Andrei Beiyj and the Eternal Return:

A W indow on Eternity” in: Lane. A.M.: N ietzsche in Russian Thought. W isconsin 1976. S. 125*181 und das Kapitel А.И .2.3 ( “D ie E w ige Wiederkunft - eine W iederkunft der Ewigkeit?” ) in dieser Arbeit.

IA Vgl.: Belyj. A.: Teorija ili staraja baba. (Eine Theorie oder ein altes W eib) (1 9 0 7 ) In: Arabeski. a.a.O. S. 272.

17 Vgl.: Ders.: N a ta la veka. a.a.O. S. 101. Auch Lane geht davon aus. daß M einer Belyjs Nictzschc-Rezcption stimulier! hat. Vgl.: Lane. A.M .: N ietzsche in Russian Thought. a.a.O. S. I38f.

18 Vgl.: B elyj, A.: N ačalo veka. a.a.O. Anmerkung 173, S. 586f.

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Erkennenden19״ - bringt geradezu Belyjs These vom Symbolismus im Leben auf den Begriff.

Belyj verdeckt aber diese gedankliche Auseinandersetzung mit Nietzsche aus mehreren Gründen. Als habe er sich mit dem allzu schnell gefällten Urteil - Nietzsche: ein Symbolist - selbst eine Falle gestellt, als könne er nicht hinter dieses Urteil und deshalb hinter den “symbo- lischsten” Text, den “Zarathustra**, zurück und als müsse Nietzsches Philosophie fortan incognito in seiner Symbolismustheorie leben, so mutet Belyjs Nietzsche-Rezeption nach 1905 an. Ein Symbolist läßt sich eben nicht argumentativ zerpflücken, logisch präsentieren. Und gegen eine solche Präsentation spricht auch die allzu große persönliche Nähe zum Verfasser, zumindest dann, wenn es vielleicht doch unterschwellige Differenzen zu verdecken gilt. Denn trotz des erneuten Hangs zur Erkenntnis fallt bei Nietzsche doch Erkennen keineswegs zusammen mit Bewußtsein. Belyj aber schlägt mit Hilfe von Kant und Ricken den Weg zur Bewußtseins- philosophie ein, den er ab sofort bis hin zu seiner Begeisterung für Steiner auch nicht mehr verläßt. Und das Bewußtsein richtet Belyj teleogisch aus. In diesen Punkten hätte er - bei offener Diskussion der Nietzsche-Texte - eine Kontroverse austragen müssen. Er hätte sich dann vermutlich auch entscheiden müssen für die eine bewußtseinsbezogene, teleologische oder eben die andere, instinktbezogene Variante von Erkennen bzw. Schaffen. Daneben stellt Nietzsches Angriff auf das Christentum, den Belyj so nicht übernehmen will, das größte Problem dar. Um einer Auseinandersetzung und Entscheidung aus dem Weg zu gehen, beläßt Belyj Nietzsches Philosophie auf einer unterschwelligen Ebene. Anders aber geht er im künstlerischen Werk vor, das ihm durch seine Eigengesetzlichkeit und die perspektivische Aufspaltung auch die Möglich- keit zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung bietet. Die geringfügigere symbolische Qualität der Theorie und ihre direkten Aussagen waren dafür offenkundig ein Hindernis.

Für die nächsten Kapitel ergibt sich aus der hier umrissenen Problematik folgendes Konzept:

Nietzsches Philosophie ist nicht von seiner Persönlichkeit zu trennen, mit der Person Nietzsche konespondiert wiederum die Person Belyj. Der biographische Aspekt wird deshalb den Beginn der Darstellung ausmachen. Neben den von Belyj hervorgehobenen Werken, der “Geburt der Tragödie” und "Zarathustra”, werden inhaltlich verwandte und ergänzende Texte diskutiert, sofern davon auszugehen ist, daß Belyj seine diesbezügliche Rezeption nur verschleiert, darauf aber aufbaut. Die Diskussion der Philosophie Nietzsches soll ein Kapitel über seinen Stil und

19 N iet/sehe. F.: Die fröhliche W issenschaft. (1 882) K SA Bd. 3. Berlin, N ew York 1988. S 552. V gl. auch: ebd.

S. 471.551.

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dessen Auswirkungen auf Belyj abschließen. In allen Punkten muß auf die Vernetzung der Vorlage mit dem theoretischen und künstlerischen Werk Belyjs geachtet werden. So ist z.B.

denkbar, daß Belyj manche Aspekte der Philosophie Nietzsches nur in “Peterburg” behandelt hat.

1. Die Person Friedrich Nietzsche

Friedrich Wilhelm Nietzsche wird am 15.10.1844 in Röcken bei Leipzig geboren. Das Datum der Geburt ist keineswegs belanglos: es fällt zusammen mit dem Geburtstag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm ГѴ., nach dem Nietzsche auch benannt wird. Diesem *Glücksfair zollt die Familie Nietzsche besondere Achtung, und er gräbt sich als persönliche Bestimmung in Nietzsches Bewußtsein ein. Von früh an ist er bestrebt, der ihm in die Wiege gelegten Aus- nahmestellung zu entsprechen.20 Freilich unternimmt er dies auf andere Weise als die gläubigen Eltern dachten. Nietzsches Genius äußert sich nicht im geistlichen, sondern *ungeistlichen1 Bcreich: Er proklamiert sich selbst zum Antichristen. Eine letzte groteske Verzerrung der königlichen Aufgabe äußert sich dann in Nietzsches mit beginnendem Wahnsinn erfolgten Identifikation mit dem König von Italien.21

Nietzsches Kindheit ist entscheidend geprägt durch den Verlust des Vaters, als er selbst 4 Jahre alt 1st (30. Juli 1S49).22 Vor allem wird Nietzsche in späteren Jahren die Art des väterlichen Todes als böses Omen mit sich tragen: Karl Ludwig Nietzsche, Pfarrer zu Röcken, starb an sog.

Gehirnerweichung.23 Die Manipulationen von Mutter und Schwester, die die Todesursache zu einer Gehirnerschütterung, hervorgerufen durch einen Treppensturz, stilisierten, nützten hier nichts: Nietzsche hatte Angst, es handele sich um Wahnsinn und dieser Wahnsinn könne vercrbbar sein.24 Erst als er das Lebensalter des Vaters (36 Jahre) überschritten hatte, nahm seine diesbezügliche Nervosität etwas ab.

20 Vgl. das Kapitel "Königsgcburtsiag" in: Ross, W.; Der ängstliche Adler. Friedrich N ietzsch es Leben. a.a.O. S.

14-20. D ieses Gefühl wird bei N ietzsche auch durch seine vermeintliche Abkunft von polnischem Adel genährt.

Vgl.; N ietzsche, F. Ecce homo. K SA . Bd. 6. a.a.O. S. 268. D ie polnische Abstam m ung N ietzsch es diskutiert Jan/.. Vgl.: Janz, C.P.: Friedrich N ietzsche. Biographie. Bd. I. M ünchen 1981. S. 26ff.

21 Vgl.; Janz, C.P.: Friedrich Nietzsche. Biographie. Bd. 3. a.a.O. S. 30; Ross. W .. Der ängstliche Adler. Friedrich N ietzsches Leben. a.a.O. S. 773f.

־* Vgl.: Janz. C .P Friedrich N ietzsche. Biographie. Bd. I. a.a.O. S. 44.

23 Einen zusätzlichen symbolischen B ezug erhält die Todesursache dadurch, daß Friedrich W ilhelm IV. - mit dem sich N ietzsche ja durch seinen Geburtstag verbunden sieht - aufgrund ein es G ch im lcid cn s abdanken mußte Vgl.: R oss. W.: Der ängstliche Adler. Friedrich N ietzsch es Leben. a.a.O. S. I9Í.23.

24 V gl.: Janz. C.P.: Friedrich N ietzsche. Biographie. Bd. I. a.a.O. S. 44П; R oss. W.: Der ängstliche Adler Friedrich N ietzsches Leben. a.a.O. S. 23.

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Mit dem Vater verliert Nietzsche nicht nur eine familiäre, sondern auch die erste ästhetische Bezugsperson seiner Kindheit. Der Vater liebt Musik, spielt Klavier und beeinflußt den Sohn in dieser Hinsicht.25 Nietzsches enges Verhältnis zur Musik, das ihn schon in der Schulzeit kompo- nieren läßt, hat er dem Vater zu verdanken. Wenn es auch nicht klappte mit dem musikalischen Sendungsbewußtscin26, so haben musikalische Formen doch Nietzsches Sprache, seine Schriften nachhaltig beeinflußt. Den “Zarathustra” etwa hält er selbst für eine der Musik verwandte Komposition; er vergleicht dieses Buch mit einer Symphonie.27

Ohne den Vater und den nur wenige Monate später verstorbenen jüngeren Bruder Joseph28 bleibt Nietzsches familiäre Umgebung einseitig weiblich geprägt. Wohl kann sein Verhältnis zur Mutter (Franziska Nietzsche, geb. Oehler) und der zwei Jahre jüngeren Schwester Elisabeth als anhänglich und liebevoll beschrieben werden. Allein eine geistige Unterstützung meint er bei ihnen nicht zu finden: “Meine Erziehung ist in ihren Hauptteilen mir selber überlassen worden.

Mein Vater... starb allzu früh; mir fehlte die strenge und überlegene Leitung eines männlichen Intellekts."29 Diese nachträgliche. 1868 vorgenommene Beurteilung der Kindheit kann - zumal durch das Prisma der Schulerfahrungen und der Studienzeit gebrochen - als übertrieben einge- stuft werden. Doch spürt schon der junge Nietzsche, daß etwa die Mutter trotz ihres Bemühens, den Vater auf musikalischem Gebiet zu ersetzen**, dazu nicht in der Lage ist. Er sieht sich auf sich selbst zuriiekgeworfen. Des weiteren bringt sie ihn zunächst in der 1falschen1 Schule unter, in einer Art Volksschule, in der Nietzsche seinen Klassenkameraden fremd und überlegen vorkommi.'1 Und so schleicht sich trotz des schon nach einem Jahr erfolgten Wechsels in ein Privatinstitut das Gefühl geistiger Einsamkeit, der Besonderheit und der Isolation bei Nietzsche ein. Diese Rolle im gesellschaftlichen Verbund sollte ihm bleiben. Sie wird durch die Internats- zeit (Schulpforta 1858-64) nur bestätigt. Kameraden findet Nietzsche wenige” , und in den von

Jan/ /cichnet nach, w ie Nietzsche schon als kleines Kind hingerissen dem Klavicrsptel des Vaters lauscht. Vgl : Jan/. C.P.: Friedrich N ietzsche. Biographie. Bd. I. a.a.O. S. 43.

Vgl. dazu das Kapitel “D ie ‘Manfred-Meditation*" in: ebd.: S. 477-483 . Nietzsche versucht sich immer wieder an Kompositionen: S o entsteht der ”Hymnus auf das Leben" nach einem Gedicht Lou Salom és, von dem er in

“Ecce homo" sagt, man werde ihn einmal zu seinem Gedächtnis singen. Vgl.: N ietzsche, F.: E cce homo. a.a.O S. 336. Erst spät überträgt Nietzsche die eigenen musikalischen Ambitionen auf Peter Gast (Heinrich K ösclitz) 7־ D iese Einschätzung, ausgesprochen in einem Brief an K ösclitz. überprüft ia n z in dem Kapitel ,'Ist der

Zarathustra eine *Symphonie*?". Vgl.: Jan/.. C.P.: Friedrich Nietzsche. Biographie. Bd. 2. a.a.O. S. 211-221.

2א Vgl.: Ders. : Friedrich N ietzsche. Biographie. Bd. I. a.a.O. S. 47.

29 Zitiert nach Janz: ebd.: S. 72.

י° Vgl.: ebd.: S. 53f.

■l Vgl. ebd : S 501 2י Vgl.: ebd.: S. 81.83.

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ihm organisierten geistigen Zirkeln agiert er als der Überlegene.33 "Nietzsches Freundschaft ist eine Freundschaft um gemeinsamer Ideale willen, eine Bildungsfreundschaft. So fest sie ist, so fehlt ihr doch alles Elementare und Spontane.”34 Dieses Elementare mangelt Nietzsche nicht nur im Kreis seiner männlichen Freunde, sondern vor allem im Bezug zum weiblichen Geschlecht.

Zu einer sexuellen Beziehung ist er nicht fähig. Doch kompensiert er den *Defekt* anderweitig, etwa durch die hemmungslose Verehrung von geistig vermeintlich überlegenen Größen, allen voran Richard Wagner und seine Frau Cosima. All seine Hoffnungen und Wünsche - und damit die auf anderen Ebenen vermißte Emotionalität - läßt Nietzsche dieser Beziehung zukommen.35 Die Zeit in Tribschen, da er als Philologieprofessor von Basel aus zu den Wagners fährt, bezeich- net Nietzsche im Nachhinein als die glücklichste seines Lebens.36 Zum ersten Mal wird er im Kreis einer Familie von menschlicher und geistiger Wärme umgeben. Die Wagners unterstützen Nietzsches Schriften, sind begeistert v.a. von der "Geburt der Tragödie” (1872), die als intellek-

Zu einer sexuellen Beziehung ist er nicht fähig. Doch kompensiert er den *Defekt* anderweitig, etwa durch die hemmungslose Verehrung von geistig vermeintlich überlegenen Größen, allen voran Richard Wagner und seine Frau Cosima. All seine Hoffnungen und Wünsche - und damit die auf anderen Ebenen vermißte Emotionalität - läßt Nietzsche dieser Beziehung zukommen.35 Die Zeit in Tribschen, da er als Philologieprofessor von Basel aus zu den Wagners fährt, bezeich- net Nietzsche im Nachhinein als die glücklichste seines Lebens.36 Zum ersten Mal wird er im Kreis einer Familie von menschlicher und geistiger Wärme umgeben. Die Wagners unterstützen Nietzsches Schriften, sind begeistert v.a. von der "Geburt der Tragödie” (1872), die als intellek-

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