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04. April 2006 in Erfurt

Zum Begriff des Sozialismus

Bevor ich zum Begriff des Sozialismus spreche, zunächst kurz zum Begriff selbst.

Was sind Begriffe?

Sie sind Festlegungen, die aus lang andau-ernden Diskussionsprozessen hervorgehen.

Sie verarbeiten historische Erfahrungen, soziale Auseinandersetzungen und wissen-schaftliche Überlegungen. Sie sind nicht beliebig, sondern nach Interessenlagen und sozialen Orientierungen differenziert. Sie schaffen Denkmodelle, um bestimmte Sei-ten aus der Wirklichkeit zu betonen, wäh-rend zugleich von anderen Seiten der Wirklichkeit abstrahiert wird und sie die-nen sozialen Bewegungen, Gewerkschaf-ten und Parteien als Identität stifGewerkschaf-tende Grundorientierungen.

Damit ist der Streit um Begriffe, ein sich immer wieder vollziehender Aushand-lungsprozess zur Selbstverständigung der Akteure unter Berücksichtigung historisch-konkreter Erfahrungen und Theorieent-wicklungen. Der Streit um Begriffe – ist letztlich immer auch ein Streit um die Sa-che selbst.

Der Begriff des Sozialismus hat ver-schiedene Wurzeln

Der Begriff des Sozialismus hat unter-schiedliche Wurzeln. Er hat, was den Be-griff, das konkrete Wort betrifft, viele Müt-ter und VäMüt-ter und mehr noch in der Sache selbst, wenn damit eine Gesellschaft ver-standen wird, die frei ist von Ausbeutung und Unterdrückung, eine Gesellschaft, die alle Schranken niederreißt, um Verhältnis-se umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlas-senes, ein verächtliches Wesen ist.

Zu seinen Wurzeln gehören erstens die Er-fahrungen und Kämpfe der sozialen Bewe-gungen, vor allem der Arbeiterklasse, die durch Auflösung der Feudalverhältnisse in

die moderne kapitalistische Gesellschaft hineingezogen und zugleich von ihrem Reichtum ausgeschlossen wurde und zu-nächst ohne politische Rechte blieb, die Frauenbewegung und die Befreiungs-bewegungen in den Kolonien, die Bewe-gungen gegen Rassismus und Unterdrü-ckung.

Zweitens zählen zu den Wurzeln des Sozia-lismusbegriffs ihre „geistigen“ Begründer, wie die Vertreter der Aufklärung, deren Ideen die politische Gleichheit der Rechte mit der sozialen Gleichheit der Rechte ver-binden. Aber auch sie hatten ihre geistigen Väter, wie die Vision von Thomas Morus1 in seinem Werk „Utopia“, deren zentrale Gedanken sich um eine Gütergemeinschaft gruppieren, die einhergehen soll mit der Abschaffung des Geldes, der Einführung einer menschenfreundlichen Arbeitskultur, einer allgemeinen kommunalen Kranken- und Altenpflege, eines allgemeinen und gleichberechtigten Bildungssystems. „Uto-pia“ ist für Thomas Morus 1516 nicht ein Land der Träume, sondern vor dem Hin-tergrund des Zerfalls feudaler Strukturen und der Ausprägung frühkapitalistischer Verhältnisse die notwendige Konsequenz für einen Staat, der Bestand, also Zukunft haben soll.

Saint-Simon, Robert Owen, Francois Ma-rie FouMa-rier und andere Vertreter der Auf-klärung des 18. Jahrhunderts wurden als Sozialisten bezeichnet, um damit eine geis-tige Strömung in Abgrenzung zum Libera-lismus und Konservatismus zu kennzeich-nen. Was sie von anderen unterscheidet, ist ihr Verhältnis zu den herrschenden Macht-strukturen (Konservierung oder radikale Veränderung gesellschaftlicher Struktu-ren), ihr Verhältnis zu individueller Frei-heit und zum Gemeinwesen. Ist Erhalt und

1 Siehe „Utopia“, eine auf rationale Gleichheits-grundsätze, Arbeitsamkeit und auf das Streben nach Bildung basierende Gesellschaft mit de-mokratischen Grundzügen von 1516

Ausweitung von individueller Freiheit das primäre Ziel von Politik oder aber die Bin-dung der Freiheit an Gleichheit und Ge-rechtigkeit – wie dies von den Sozialisten gefordert wurde? Sozialismus wurde so zu einem Synonym einer Bewegung für Gleichheit gegen jede Art von Privilegien der Herrschenden im Gegensatz zur formal rechtlichen Gleichheit bürgerlicher Demo-kratien. Marx beschreibt später in seinen Randglossen zum Gothaer Programm der deutschen Arbeiterpartei das formal glei-che Recht als ein Recht der Ungleichheit, dass allerdings erst dann überwunden wer-den kann, „nachdem die allseitige Ent-wicklung der Individuen auch ihre Produk-tivkräfte gewachsen (sind) und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen.“2 D.h., dass auch die von Rousseau formulierte befreiende Wirkung des Gesetzes, des Rechts immer wieder ihrem Inhalt nach geprüft und die formale Gleichheit mit Gerechtigkeit und Freiheit ins Verhältnis gesetzt werden muss.

Der Sozialismusbegriff hat auch weltan-schaulich unterschiedliche Zugänge; dar-unter jene, die Sozialismus und Religion miteinander verbinden.3 Von Beginn an begleitet eine christlich-theologische Tra-dition die Aneignung des Sozialismusbeg-riffs. Mit den religiösen Sozialisten zum Beginn des 20. Jahrhunderts4 und der Theologie der Befreiung5, die sich seit 1960 vor allem in Lateinamerika, aber auch Südafrika und einigen Ländern A-siens entwickelte, hat sich ein neues christ-lich begründetes sozialistisches

2 Karl Marx, Friedrich Engels (1980): Kritik des Gothaer Programmentwurfs von 1875, Dietz Verlag Berlin, S. 13

3 Der Begriff „vita socialis“ wird in der scholas-tischen Tradition eine eindeutig aus der christ-lichen Offenbarung abgeleiteten Vernunft be-stimmt.

4 Zu ihnen zählten u.a. Karl Barth, Ernesto Car-denal, Helmut Gollwitzer, Camillo Torres, Do-rothee Sölle

5 Der Begriff der Befreiungstheologie wurde von Gustavo Gutierrez, peruanischer Theologe 1972 mit seiner Schrift „Teología de la libera-ción“ geprägt.

ständnis herausgebildet. Vor allem in den Basisgemeinden der katholischen Kirche auf den untersten Ebenen der Gesellschaft wird die Interpretation des Neuen und Al-ten Testaments mit realen bedrückenden Lebensbedingungen zusammengeführt und zu einer geistigen Quelle gesellschaftlicher Veränderung entwickelt. Die Subjektwer-dung der Armen, ihre eigene Befreiung gehört zu den zentralen Prämissen der Be-freiungstheologie.

Eine Mehrzahl der Befreiungstheologen plädierte auf der Basis einer marxistischen Gesellschaftsanalyse für ein sozialistisches Wirtschaftssystem und lehnte den sog.

"Dritten Weg", wie er von verschiedenen Regierungen Lateinamerikas propagiert wurde, ab. Ihre Kapitalismuskritik bezog sich dabei sowohl auf die Weltmarktme-chanismen als auch auf die internen Wirt-schaftsstrukturen innerhalb der Entwick-lungsländer. Sie stützten sich auf national-revolutionäre Bewegungen und auf die Hoffnung scheinbar greifbarer, nationaler Entwicklungswege eines spezifisch latein-amerikanischen Sozialismus - selbst dort, wo gegen Militärdiktaturen gekämpft wur-de.6 In seinem Buch „Leben ist mehr als Kapital“ fordert Franz Hinkelammert, Be-freiungstheologe, die grundlegende Verän-derung der Perspektive ebenso wie die konkrete Umsetzung in alternative ökono-mische und politische Institutionen und Handlungsweisen. „Dabei kommt der Ei-gentumsordnung, die die Privatisierungs-ideologie überwindet, eine zentrale Bedeu-tung zu.“7

Nach der Befreiung vom Faschismus und in Auseinandersetzung mit autoritären So-zialismusauffassungen und in klarer Ab-grenzung zum sowjetischen Sozialismus-modell bzw. später vom Realsozialismus wurde der Begriff Sozialismus um das

6 Friedhelm Greis (1993): Die Situation der Befreiungstheologie nach dem Scheitern der Dependenztheorie und dem Zusammenbruch des Sozialismus

http://www.goldlay.de/haus/anz1.html

7 Frank (2002): Leben ist mehr als Kapital. O-berursel, S. 186

Wort „demokratisch“ erweitert, auch, um seinen notwendig demokratischen Charak-ter zu betonen. Willy Brand beschrieb am 8. Mai 1949 den demokratischen Sozialis-mus als ein in sich nicht abgeschlossenes System von Vorstellungen über eine Neu-gestaltung der gesellschaftlichen Verhält-nisse. „Sein formuliertes Programm wird immer nur die Summe gemeinsamer grundsätzlicher Überzeugungen in einer bestimmten Periode entsprechend dem jeweiligen Grad wissenschaftlicher Er-kenntnis sein können. Sie fußt auf dem Bekenntnis zur Freiheit und zum Huma-nismus, zum Rechtsstaat und zur sozialen Gerechtigkeit.“8

Der Sozialismusbegriff hat also sehr ver-schiedene Wurzeln: utopisch-kommu-nistische, kommuutopisch-kommu-nistische, sozialdemokra-tische, sozialissozialdemokra-tische, antifaschistische und pazifistische Wurzeln, Wurzeln denen un-terschiedliche Weltanschauungen zugrunde liegen. Er ist das Ergebnis konkreter Erfah-rungen und Kämpfe. Vor diesem Hinter-grund der Verschiedenheit der Wurzeln, der Verschiedenheit der Bewegungen, der eigenen, linken Erfahrungen unterschied-lichster Ab- und Ausgrenzung und dem Wissen darum, was es bedeutet, einzelne dieser Wurzeln zu verabsolutieren, wäh-rend andere gleichermaßen ignoriert wer-den, vor diesem Hintergrund werden brei-testete Bündnisse und demokratische Aus-handlungsprozesse zur notwendigen Kon-sequenz. Eine sozialistische Linke ist plu-ral oder sie ist nicht sozialistisch.

Der Begriff des Sozialismus formu-liert mit seinem Ziel gleichermaßen Wege und Mittel

Was ist das Ziel? Das Ziel ist eine Gesell-schaft, in der die Befreiung des Einzelnen von Ausbeutung und Unterdrückung die Voraussetzung für die Befreiung aller ist.

8 Willy Brandt (2000): Rede auf dem VI. Lan-desparteitag der Berliner SPD, 8. Mai 1949. In:

Landesparteitag der Berliner SPD, Hrsg. H.

Grebing, G. Schöllgen und H.-A. Winkler, Band 4, Bonn.

Marx formuliert das im Kommunistischen Manifest so: „An die Stelle der alten bür-gerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assozia-tion, worin die freie Entwicklung eines jeden, die Bedingung für die freie Entwick-lung aller ist.“9

Dazu gehört die Durchsetzung politischer und sozialer Rechte, dazu gehören gesell-schaftliche Bedingungen für ein selbst be-stimmtes Leben in sozialer Sicherheit, das friedliche Zusammenleben mit anderen Menschen und Völkern, eine gesunde Umwelt.

D.h. wenn die freie Entwicklung einer und eines jeden der Schlüssel zum Sozialismus ist, dann muss das Ziel sozialistischer Be-wegungen die Gleichheit aller in dem Sin-ne sein, die Freiheit zu haben, das eigeSin-ne Leben gestalten zu können. Freiheit ist dabei die Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, die Möglichkeit zu selbst bestimmtem Handeln. Dazu gehören ver-fügbare gesellschaftliche und individuelle ökonomische, politische, soziale und kultu-relle Ressourcen. Ohne Freiheit ist die Gleichheit Unterdrückung. „Wenn jemand euch euer Brot entzieht, beraubt er euch gleichzeitig eurer Freiheit. Aber wenn je-mand Euch euer Freiheit beraubt, dann wisst ihr, dass euer Brot bedroht ist, denn es hängt nicht mehr von euch und eurem Kampf ab, sondern von der Eigenmächtig-keit irgendeines Herren.“10

Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind der Inhalt von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit misst sich von unten; aber das „Unten“

einer Gesellschaft muss konkret bestimmt werden, vor allem in sich ausdifferenzie-renden Gesellschaften flexibilisierter Ar-beitsarbeitsbedingungen, working poor und Massenarbeitslosigkeit. Unter den Bedin-gungen wachsender Instabilität, Inkohä-renz, gesellschaftlicher Spaltung und offe-ner Unterdrückung ist der Sturz in die Pre-karität oder Arbeitslosigkeit allgegenwärtig

9 Karl Marx (1977) Manifest der kommunisti-schen Partei. Dietz Verlag Berlin, S. 51

10 Albert Camus (1997): Verteidigung der Frei-heit, S. 53

drohende Option bis weit in die Mittelklas-se. Dennoch muss Solidarität vor allem auf jene gerichtet sein, denen die Gesellschaft strukturell die Chancen am meisten ver-stellt wie z.B. MigrantInnen, kinderreichen Familien, allein stehende Frauen mit Kin-dern11. Gleichzeitig vollzieht sich die Um-gestaltung des Sozialstaates in einen Wett-bewerbsstaat. Das Prinzip der Subsidiarität

− sozial geprüfter Bedürftigkeit − wird reduziert auf ein Minimum und verfestigt soziale und politische Ausgrenzung, die sich längst nicht mehr auf das Proletariat reduziert, sondern die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft grundsätzlich in Frage stellt.

Wie aber lässt sich dieser Entwicklung Einhalt gebieten? Und wie lässt sich eine gesellschaftliche Alternative durchsetzen?

Was ist das Ziel und wie steht dieses Ziel zu ihren Wegen und Werten? Gibt es den einen Weg oder unterschiedliche Optio-nen?

Der emanzipatorische Ansatz des Begriffs Sozialismus als Einheit von Ziel, Mittel und Wegen

Die internationale Linke ist in ihrer gesam-ten Geschichte mit einem fundamentalen Problem konfrontiert, das immer wieder unter dem Stichwort „Sozialreform oder Revolution?“ (Rosa Luxemburg) in ver-schiedenen Variationen diskutiert und aus-gestritten wurde. Und es war dieses Prob-lem, dass wesentlich zum Schisma zwi-schen Sozialdemokraten und Kommunisten beigetragen hat. Es drückt aus sich in der Antinomie zwischen einer Reformkonzep-tion aus, die keine Überwindung des Kapi-talismus kennt, und einem Verständnis von sozialistisch/kommunistischer Revolution, die es nicht vermochte, die

11 15 Prozent der Kinder unter 15 Jahren und 19,1 Prozent der Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren sind in Deutschland betroffen. Die Zahl der Kinder, die von Sozialhilfe leben, stieg 2003 um 64.000 auf 1,08 Millionen und hat 2004/2005 1,45 Millionen erreicht.

http://de.wikipedia.org/wiki/Armut#Armut_in_

Deutschland

ten der Emanzipationsbewegungen zu be-wahren. Der Unwille der Bolschewiki, das demokratische und soziale Bündnis von revolutionärer russischer Sozialdemokratie und Sozialrevolutionären auf Dauer zu stellen, ihr Beschluss, eigene revolutionäre Visionen vor den Willen des breiten Vol-kes zu stellen, eigene Machtbehauptung anstelle demokratische Gestaltung einer sozialen Revolution musste sich auch auf das Schicksal der deutschen Revolution auswirken. Mit der bewaffneten Auflösung der Konstituierenden Versammlung durch Lenin im Januar 1918 war die Alternative klar: Sozialismus oder Demokratie. Diese falsche Alternative macht die Tragödie des revolutionären Sozialismus und Kommu-nismus des 20. Jahrhunderts aus.12

Die Diktatur des Proletariats, diese ur-sprüngliche Losung der Pariser Arbeiter von 1848, wurde zum Kernstück des Mar-xismus-Leninismus und diente letztlich zur Legitimierung eines Machtmonopols we-niger im Namen des Sozialismus. Ihre Voraussetzung war die proletarische Revo-lution – nur auf diesem Wege sollte es möglich sein, die bürgerlichen Produkti-onsverhältnisse abzuschaffen und die Pro-duktionsmittel in staatliches Eigentum zu überführen. Das waren die entscheidenden Kriterien, an denen das marxistisch-leninistische Revolutionskonzept den Sozi-alismus gemessen hatte: erstens an der Ausübung der politischen Macht der Ar-beiterklasse unter Führung ihrer marxis-tisch-leninistischen Partei im Bündnis mit der Klasse der Genossenschaftsbauern, der Intelligenz und anderen Werktätigen und zweitens am gesellschaftlichen Eigentum vor allem als staatlich-gesellschaftliches

12 Michael Brie (2003): Rosa Luxemburgs und Alexandra Kollontais Parteinahme für einen demokratischen Sozialismus. Beitrag für die Vorstellung der Diplomatischen Tagebücher Alexandra Kollontais am 5. Dezember 2003, Rosa-Luxemburg-Stiftung.

http://www.rosaluxemburgstiftung.de/cms/filea dmin/rls_uploads/

pdfs/Themen/RLS- Autoren/Brie_Michael/Brie_Kollontai-Luxemburg.pdf

Eigentum und als genossenschaftliches Eigentum.

In der praktischen Politik führte dies zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit und zwi-schenmenschlicher Konkurrenz, weitge-hend gleichen Zugang zu Bildung und Leistungen des Gesundheitswesens, be-zahlbare Wohnungen, flächendeckende Kinderbetreuung, hohen Aufwendungen für kulturelle Einrichtungen, Erprobung genossenschaftlicher Entwicklungswege, Verfolgung von Faschismus und Rassis-mus. Gleichzeitig aber war mit der Dikta-tur des Proletariats wirkliche Demokratie, Freiheit als Freiheit des Andersdenkenden unmöglich. Sobald es um eigenes Denken in Schulen und Universitäten ging, um ökonomische Reformen, die in Verdacht gerieten, zentralistische Macht zu gefähr-den, wurde das wirkliche innere Maß sozi-alistischer Entwicklung sichtbar: die Herr-schaft der Staatspartei. Letztlich diente die Reproduktion staatssozialistischer Gesell-schaften der erweiterten Macht der Staats-partei. Reformanstrengungen oder anderes Handeln wurde als Ökonomismus oder Reformismus abgelehnt. Damit einher ging die Negierung bisheriger demokrati-scher Emanzipationsbewegungen. Denn wenn das Neue – der Sozialismus – nur aus sich selbst entsteht, gibt es keinen Grund, das Alte zu wahren, aufzunehmen.

Die Diktatur des Proletariats ist geschei-tert. Was aber ist ihre Alternative?

Die Erfahrungen der Revolution von 1917 und 1918 führten Rosa Luxemburg über den Gegensatz Reform oder Revolution hinaus. Angesichts der Schwäche der Lin-ken suchte sie nach alternativen Wegen zum Sozialismus und griff dabei den Ge-danken der Räte wieder auf. „…dort liegt die Macht, wir müssen von unten den bür-gerlichen Staat aushöhlen, indem wir über-all die öffentliche Macht, Gesetzgebung, Verwaltung nicht mehr trennen, sondern vereinigen, in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte bringen.“13 D.h. Rosa Lu-xemburg sah nicht mehr die sozialistischen

13 Rosa Luxemburg (1987): Unser Programm und die Politische Situation. In: Gesammelte Werke Bd. 4, Dietz Verlag Berlin, S. 511

Umwälzungen ausschließlich als Tag der Entscheidung, sondern als einen Prozess der Veränderung von Kräfteverhältnissen.

Kontrovers diskutiert wird hierzu unter den Linken bis heute die Fragen darüber wie sich diese Kräfteverhältnisse verändern lassen. Geht es um den Aufbau von Ge-genhegemonien, oder aber muss die He-gemonie neoliberaler Politik aufgebrochen werden auch durch ein Bündnis mit sozial-demokratischen, liberalen Kräften. Ist aber mit einem solchen Bündnis ein transforma-torischer Prozess, d.h. eine über das beste-hende gesellschaftliche System hinauswei-sende Veränderung möglich?

Für die PDS bzw. Linkspartei bedeutet das Festhalten am Begriff des Sozialismus das Festhalten an einer gesellschaftlichen Al-ternative über das bestehende System hin-aus, die Zusammenführung von Ziel, Weg und Werten zu einem Identität stiftenden Begriff. In ihren Dokumenten und Pro-grammen beschreibt sie den demokrati-schen Sozialismus als ein notwendiges Ziel, für eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung des einzelnen zur Bedingung für die freie Entwicklung aller geworden ist. Er ist ein Weg und er ist eine Bewe-gung gegen Ausbeutung und ckung, gegen patriarchalische Unterdrü-ckung, gegen Ausplünderung der Natur, für die Bewahrung und Entwicklung menschlicher Natur, für die Durchsetzung der Menschenrechte, für eine Gesellschaft in der die Menschen ihre Angelegenheiten demokratisch und auf rationale Weise re-geln. Demokratischer Sozialismus wird beschrieben als ein Wertesystem, in dem Freiheit, Gleichheit und Solidarität, menschliche Emanzipation, soziale Ge-rechtigkeit, Erhalt der Natur und Frieden unmittelbar verbunden sind.14 Mit dem Begriff des Sozialismus als Ziel gesell-schaftlicher Entwicklung will sie sich be-wusst auch von anderen Parteien unter-scheiden.

14 Siehe hierzu das Partei des demokratischen Sozialismus (1993): Programm, Berlin, S. 7f und Partei des Demokratischen Sozialismus (2003) Programm, S. 5

Der Ansatz „demokratischer Sozialismus als transformatorisches Projekt“ bricht mit dem marxistisch-leninistischen Dogma, bei dem Sozialismus nur in Folge eines politi-schen Umsturzes in Gestalt sozialistischer Revolutionen denkbar ist. Im Gegensatz hierzu geht der transformatorische Prozess davon aus, dass dieses Projekt bereits in der kapitalistischen Gesellschaft an Kontu-ren gewinnen kann, dass alternative Poli-tikgestaltung auch innerhalb des Kapita-lismus möglich, sinnvoll ist und System überschreitende Elemente entwickeln kann, dass Reformen als Bestandteil einer längerfristigen sozialistischen Strategie über die Aufklärung und Organisierung der Arbeiterklasse hinaus einen Eigenwert haben15. Der transformatorische Ansatz bricht auch mit der Annahme, dass sich eine sozialistische Gesellschaft auf Staats-eigentum gründet und deshalb die Über-führung der Produktionsmittel in staatli-ches Eigentum unter Führung der marxis-tisch-leninistischen Partei als vorrangiges Ziel zu formulieren sei. D.h. dieses Herr-schafts- und Reproduktionsverhältnis und das sich daraus ableitende Verständnis des Staatssozialismus werden abgelehnt. An Stelle dessen liegen dem transformatori-schen Projekt die Wechselwirkungen der Kapitalreproduktion und Reproduktion allgemeiner gesellschaftlicher Reprodukti-onsbedingungen zugrunde, die im Verlaufe gesellschaftlicher Auseinandersetzungen neben der Akkumulation von Kapital auch zur Akkumulation von Zivilisationspoten-tialen (Soziallogik) führt. Beide Logiken sind also untrennbar miteinander verbun-den, stehen im Spannungsverhältnis zuein-ander. Ihr Widerspruchsverhältnis wird unter den konkreten Kräfteverhältnissen und Produktionsweisen immer wieder neu gesetzt und ausgehandelt.

Ein Beispiel: Die amerikanischen Gewerk-schaften haben 1865 erstmals die Forde-rung zur EinfühForde-rung des Acht-Stunden-Tags erhoben, eine Forderung, die sich in

15 Dieter Klein (2003): Sozialismus als transfor-matorisches Projekt. In: Sozialismus als Ta-gesaufgabe, S. 66ff

den entwickelten Industriegesellschaften seit langem durchgesetzt hat. Heute wird diese Errungenschaft unter den Bedingun-gen einer transnationalen informations-technologischen Produktionsweise mit einer, auf neue Weise organisierten und fragmentierten Arbeit, mit ihrer Tendenz zur Flexibilisierung und Entgrenzung d.h.

Entgrenzung von Arbeitszeit, Verflüssi-gung des Arbeitsortes (Tele-Heim-Arbeit) und offener inhaltlicher Arbeitsvorgaben erheblich relativiert. Gerade die IT-Beschäftigten leisten im Durchschnitt sechs Stunden pro Woche mehr, als sie vertraglich vereinbart haben.16 Auf europä-ischer Ebene wird mit der Neudefinition von Arbeits- und Bereitschaftszeiten das gegenwärtig geltende Arbeitszeit-Modell in Frage gestellt. Arbeitgebern soll es er-laubt sein, eine Wochenarbeitszeit von mehr als 48 Stunden zu vereinbaren.

Dies berücksichtigend kann ein transfor-matorischer Prozess kein harmonischer Prozess sein. Er vollzieht sich in „heftigen Auseinandersetzungen um die Verände-rung der gesellschaftlichen Kräfteverhält-nisse, Macht- und Eigentumsstrukturen.

Unterschiedlich bewertet wird unter den Linken – so auch in Deutschland- ob

Unterschiedlich bewertet wird unter den Linken – so auch in Deutschland- ob