8 Analyse und Fortschreibung des Migrationspotenzials nach Deutschland
8.6 Fortschreibung des Migrationspotenzials nach Deutschland
In den vorangegangenen Abschnitten wurde die Höhe des Migrationspotenzials in der kürzlichen Ver‐
gangenheit und die Wirkung verschiedener Einflussfaktoren untersucht, die für das Verständnis des Migrationspotenzials wichtig sind. Ausführlich wurde auch analysiert, wie sich das Migrationspotenzial hinsichtlich individueller Charakteristika zusammensetzt. In diesem Abschnitt folgt nun eine darauf auf‐
bauende Abschätzung der zukünftigen Migrationspotenziale.
Für die Berechnung des Migrationspotenzials innerhalb des Beobachtungszeitraums können, wie ge‐
zeigt wurde, direkt die Gallup‐Daten herangezogen werden. Dabei sind gewisse Disaggregationen mög‐
lich, beispielsweise nach Bildungsgrad und Geschlecht. Ist allerdings das Migrationspotenzial nach Deutschland von Interesse, drohen durch kleine Fallzahlen in den Mikrodaten Messfehler, die insbeson‐
dere jene Länder betreffen, in denen Deutschland als Zielland nicht sonderlich attraktiv erscheint.
Um Aussagen über die Zukunft treffen zu können, muss das Bevölkerungswachstum der Herkunftslän‐
der zur Migrationsneigung der Bevölkerung in Bezug gesetzt werden. Auf Basis der befragten Personen mit dem Charakteristikum e im Gallup World Poll aus dem Jahr t berechnen wir mittels Bevölkerungs‐
gewichten pro Herkunftsland den Anteil der Bevölkerung ab einem Alter von 15 Jahren, der nach Deutschland migrieren möchte. Diese Zahl ergibt das Migrationspotenzial aus dem gegebenen Her‐
kunftsland o nach Deutschland (d). Für die Fortschreibung des Migrationspotenzials in die kommenden Jahre nehmen wir an, dass der Anteil der Bevölkerung mit Migrationsintentionen nach Deutschland die kommenden Jahre konstant bleibt.77 Wir extrapolieren also den letzten verfügbaren Wert aus den Um‐
fragen (meist aus dem Jahr 2018) in die Zukunft. Das Migrationspotenzial aus allen Herkunftsländern lässt sich dann jederzeit aufsummieren, um das gesamte Migrationspotenzial nach Deutschland zum Zeitpunkt t zu erhalten.
77 Viele entscheidende Faktoren wie die geografische Lage Deutschlands und die Sprache verändern sich nicht.
Andere Faktoren wie eine veränderte bilaterale Migrationspolitik können einen deutlichen Einfluss haben (siehe Tabelle 8‐10, insb. Spalte 5). Für die Fortschreibungen nehmen wir diese abgesehen von den Auswirkungen des Brexits auf die EU‐Arbeitnehmerfreizügigkeit als konstant an. Eine starke Beziehung zwischen Zusammensetzung des Migrationspotenzials und Größe der existierenden Bestände in Deutschland kann auf Basis der Analysen in Abschnitt 8.4.1 ausgeschlossen werden.
𝑀𝑖𝑔𝑟𝑎𝑡𝑖𝑜𝑛𝑠𝑝𝑜𝑡𝑒𝑛𝑧𝑖𝑎𝑙 Individuen, würde man 20 Personen mit Migrationspräferenz für Deutschland weiter in Subgruppen aufteilen. Um nicht den Anschein von Präzision trotz großer Messungenauigkeit zu erwecken, müssen daher explizite vereinfachende Annahmen getroffen werden, wenn man so stark disaggregieren möchte. 78
78 Eine solche explizite Annahme wäre beispielsweise, für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe (z.B. hoch gebil‐
dete junge Frauen) innerhalb einer bestimmten Ländergruppe eine durchschnittliche Migrationsintention nach Deutschland anzunehmen und somit auf Basis der Herkunftsregion zu verallgemeinern. Hierbei würden mögliche Länderunterschiede allerdings deutlich unterschätzt. Besser wäre vermutlich das Migrationspotenzial pro Land anhand einer regionalen Zusammensetzung aus einzelnen Gruppen aufzuteilen.
Abbildung 8-10:
Bildungszusammensetzung des zukünftigen Migrationspotenzials nach Deutschland
Hinweis: Migrationspotenzial gemessen mittels Migrationsintentionen in Gallup und angegebenem Ziel Deutschland. Bevölkerungsprojektionen pro Bildungsgruppe aus SSP-Daten. Abweichungen im Vergleich zu direkter Hochrechnung im Gallup World Poll möglich, da diese dort über mitgelie-ferte Populationsgewichte stattfindet. In der Auswertung hier jedoch auf Basis der realen Bevölkerungszusammensetzung.
Quelle: Gallup (2009); Samir und Lutz (2017); Weltbank (2017); eigene Berechnungen
Abbildung 8-11:
Bildungszusammensetzung der Weltbevölkerung ab 15 Jahren
Hinweis: Migrationspotenzial gemessen mittels Migrationsintentionen in Gallup und angegebenem Ziel Deutschland. Bevölkerungsprojektionen pro Bildungsgruppe aus SSP-Daten. Abweichungen im Vergleich zu direkter Hochrechnung im Gallup World Poll möglich, da diese dort über mitgelie-ferte Populationsgewichte stattfindet. In der Auswertung hier jedoch auf Basis der realen Bevölkerungszusammensetzung.
Quelle: Gallup (2009); Samir und Lutz (2017); Weltbank (2017); eigene Berechnungen.
Im Vergleich der Regionen in Abbildung 8‐12 lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den wichtigen Herkunftsregionen finden. Sowohl in der EU als auch im restlichen Europa schrumpft die Gruppe der niedrig qualifizierten Personen mit Migrationsintention im Zeitablauf. In der EU ist das Verhältnis zwi‐
schen Personen mittlerer und hoher Bildung im Migrationspotenzial nach Deutschland ausgeglichener als im Rest Europas, wo die Gruppe mit mittlerer Bildung deutlich größer ist. In der MENA‐Region ma‐
chen die Niedriggebildeten aktuell noch die größte Einzelgruppe aus. Sollte der in der Abbildung erkenn‐
bare Trend jedoch weiterlaufen, so werden die Mittel‐ und Hochgebildeten im Laufe der 2030er‐Jahre anteilig mehr als zwei Drittel des Migrationspotenzials aus dieser Region ausmachen. Aktuell ist ihr An‐
teil noch niedriger. In Sub‐Sahara‐Afrika, also der Region mit dem größten Bevölkerungswachstum, ma‐
chen die Niedriggebildeten die größte Gruppe am Potenzial aus. Insbesondere die Gruppe der Men‐
schen mit mittleren Bildungsabschlüssen, die sich eine Migration nach Deutschland wünschen, wird je‐
doch in den kommenden Jahren unserer Projektion zufolge deutlich steigen.
Abbildung 8-12:
Approximative Bildungszusammensetzung des zukünftigen Migrationspotenzials nach Deutschland für die wichtigsten Herkunftsregionen
Hinweis: Migrationspotenzial gemessen mittels Migrationsintentionen in Gallup und angegebenem Ziel Deutschland. Bevölke-rungsprojektionen pro Bildungsgruppe aus SSP-Daten. Abweichungen im Vergleich zu direkter Hochrechnung im Gallup World Poll möglich, da diese dort über mitgelieferte Populationsgewichte stattfindet. In der Auswertung hier jedoch auf Basis der realen Bevölkerungszusammensetzung.
Quelle: Gallup (2009); Samir und Lutz (2017); Weltbank (2017); eigene Berechnungen.
Abbildung 8‐13 zeigt Ergebnisse einer analogen Disaggregation des Potenzials nach Altersgruppen. Ob‐
wohl der Bevölkerungsanteil der verschiedenen Altersgruppen zwischen den Regionen sehr unter‐
schiedlich ist, zeigt sich überall dasselbe Muster. Die Gruppe der Menschen zwischen 30 und 49 Jahren macht die größte Gruppe am Migrationspotenzial aus. In drei von vier gezeigten Regionen liegt das Mig‐
rationspotenzial der jungen Erwachsenen und der Erwachsenen zwischen 50 und 64 etwa gleichauf. Die jungen Erwachsenen sind zwar sehr mobil, unseren Schätzungen zufolge ist aber ihr üblicherweise prä‐
feriertes Zielland nicht Deutschland. Obwohl die Größe der Altersgruppe in einigen Herkunftsländern, beispielsweise in Teilen Sub‐Sahara‐Afrikas, stark wächst, sorgt dies nicht für ein massives Wachstum des Migrationspotenzials nach Deutschland.
Abbildung 8-13:
Approximative Alterszusammensetzung des zukünftigen Migrationspotenzials nach Deutschland für die wichtigsten Herkunftsregionen
Hinweis: Migrationspotenzial gemessen mittels Migrationsintentionen in Gallup und angegebenem Ziel Deutschland. Bevölke-rungsprojektionen pro Altersgruppe aus SSP-Daten. Abweichungen im Vergleich zu direkter Hochrechnung im Gallup World Poll möglich, da diese dort über mitgelieferte Populationsgewichte stattfindet. In der Auswertung hier jedoch auf Basis der realen Bevölkerungszusammensetzung.
Quelle: Gallup (2009); Samir und Lutz (2017); Weltbank (2017); eigene Berechnungen.
In Abbildung 8‐14 weisen wir die Zusammensetzung des Migrationspotenzials nach Geschlecht aus. In allen vier Weltregionen überwiegen die Männer, wie schon die ökonometrischen Auswertungen in den vorausgegangenen Abschnitten nahegelegt haben. In Europa sind die Unterschiede jedoch weniger stark ausgeprägt als in Sub‐Sahara‐Afrika und insbesondere dem Mittleren Osten und Nordafrika. In diesen Regionen geben Frauen mit wesentlich geringerer Wahrscheinlichkeit als Männer an, lieber in Deutschland leben zu wollen. Das Bevölkerungswachstum ist im Falle der Geschlechterunterscheidung von wenig Interesse, weil beide Geschlechter jeweils etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und sich dieses Verhältnis in den migrationsrelevanten Altersgruppen nicht durch Bevölkerungswachstum verschiebt.79
79 Eine Ausnahme hiervon bilden Länder mit großen alten Bevölkerungsanteilen wie Deutschland, insbesondere wenn durch Konflikte in der Vergangenheit eine besondere Übersterblichkeit der männlichen Bevölkerung vorlag.
Dies ist jedoch in den wichtigen Herkunftsländern in der jüngeren Vergangenheit nicht der Fall gewesen. Es gibt somit durch Bevölkerungswachstum keine systematischen Verschiebungen der Geschlechterzusammensetzung der relevanten Bevölkerungen.
Abbildung 8-14:
Approximative Geschlechterzusammensetzung des zukünftigen Migrationspotenzials nach Deutschland für die wichtigsten Herkunftsregionen
Hinweis: Migrationspotenzial gemessen mittels Migrationsintentionen in Gallup und angegebenem Ziel Deutschland. Bevölke-rungsprojektionen pro Geschlecht aus SSP-Daten. Abweichungen im Vergleich zu direkter Hochrechnung im Gallup World Poll möglich, da diese dort über mitgelieferte Populationsgewichte stattfindet. In der Auswertung hier jedoch auf Basis der realen Bevölkerungszusammensetzung.
Quelle: Gallup (2009); Samir und Lutz (2017); Weltbank (2017); eigene Berechnungen.
8.7 Diskussion und Zusammenfassung
Insgesamt sollte das Migrationspotenzial nach Deutschland nicht überschätzt werden, da es viele an‐
dere attraktive Zielländer gibt, die über einen ähnlich starken Arbeitsmarkt und dieselbe politische Sta‐
bilität verfügen. In diesem Kapitel wurden die unterschiedlichen Einflussgrößen auf das Migrationspo‐
tenzial nach Deutschland untersucht.
Der erste wichtige Einflussfaktor sind die individuellen Charakteristika und Lebensumstände der poten‐
ziellen Migranten, die die generelle Neigung gegenüber Migration determinieren. Junge, noch unge‐
bundene Menschen sind tendenziell mobiler, sodass sie im Migrationspotenzial Im Vergleich zur Ge‐
samtbevölkerung des Herkunftslandes überrepräsentiert sind. Besonders ältere Menschen sind eher emigrationsunwillig. Das Migrationspotenzial besteht daher vor allem aus Erwachsenen im besten Er‐
werbsalter. Insgesamt sind Männer im Migrationspotenzial nach Deutschland gegenüber Frauen über‐
repräsentiert. Das Ausmaß variiert je nach Weltregion, was unter anderem mit kulturell bedingt höhe‐
ren Migrationspotenzialen unter Männern zu tun hat.
Der zweite wichtige Einflussfaktor sind die Charakteristika verschiedener möglicher Herkunftsländer, die die relative Attraktivität der Zielländer beeinflussen. Geht es um die Wahl zwischen verschiedenen Industriestaaten als Zielland, die alle über gute Lebensumstände und hohe Löhne verfügen, spielen Fak‐
toren, die die Migrationskosten und Erfolgschancen im Zielland beeinflussen, eine entscheidende Rolle.
Dies sind zum einen statische Faktoren wie Geografie oder im jeweiligen Land vorherrschende Spra‐
chen. Letztere sind von besonderer Bedeutung, da sie dafür sorgen können, dass Migranten ihre Fähig‐
keiten nicht vollständig einsetzen können. Zum anderen gibt es auch über die Zeit veränderliche Deter‐
minanten. Die beiden wichtigsten sind die bilaterale Immigrationspolitik sowie Migrationsnetzwerke.
Erstere kann im Gegensatz zur Geografie oder Sprache aktiv gestaltet werden, sodass sich besonders hier für Deutschland Möglichkeiten bieten, seine Attraktivität für potenzielle Zuwandernde zu erhöhen.
Die aus realisierter Migration resultierenden Netzwerke sorgen dann für Pfadabhängigkeiten bei der Entwicklung von Migrationsmustern, wie man im Falle Deutschlands beispielsweise an der ursprünglich aus der Gastarbeiteranwerbung entstandenen türkisch‐deutschen Migrationsgeschichte sieht. Für die aktive Gestaltung von Migrationspotenzialen erscheint es sinnvoll, Immigrationspolitik unter Berück‐
sichtigung der sonstigen statischen und veränderlichen Rahmenbedingungen zu gestalten. Geografisch und historisch bedingt hat Deutschland in Europa und der MENA‐Region besonders hohe Migrations‐
potenziale, während die Migrationspotenziale auf dem amerikanischen Kontinent oder in Süd‐ und Ost‐
asien deutlich geringer sind. Daher wird für die zukünftige Entwicklung der Migrationspotenziale nach Deutschland auch die Bevölkerungsentwicklung in den geografisch näheren Ländern von besonders ho‐
her Relevanz sein, besonders jene in den Ländern mit enger bilateraler Migrationsbeziehung.
Es bleibt festzuhalten, dass unseren Fortschreibungen zufolge die kommenden Jahre zu einem langsa‐
men Wachstum des Migrationspotenzials nach Deutschland führen wird. Dabei werden insbesondere die Anteile der mittel und höher gebildeten potenziellen Migrantinnen und Migranten steigen. In den europäischen Herkunftsländern wird das Migrationspotenzial niedrig gebildeter Personen durch die Al‐
terung der Bevölkerung in den kommenden Jahren sinken. Diese Reduktion wird vom Bevölkerungs‐
wachstum niedrig qualifizierter Personen außerhalb der EU kaum wettgemacht, sodass das Migrations‐
potenzial dieser Gruppe weitgehend stagnieren wird.
Anders als im folgenden Kapitel für die zu erwartenden Migrationsflüsse führen wir bezüglich des Po‐
tenzials keine Szenarioanalysen durch. Bedingt durch die Verbesserung des Bildungszugangs in wichti‐
gen Herkunftsländern (siehe auch Weltbank 2018) und die Alterung eher niedrig gebildeter Bevölke‐
rungsgruppen werden die Anteile von Personen am Potenzial, die mittlere und höhere Bildung haben, im Zeitablauf aller Voraussicht nach mittel‐ und langfristig steigen.
Kurzfristig wird das Migrationspotenzial vermutlich von COVID‐19 beeinflusst. Wir haben hier keine An‐
nahmen darüber getroffen, wie sich die Pandemie auf die Wahrscheinlichkeit auswirkt, dass Deutsch‐
land als Zielland präferiert wird. Wie in den vorangegangenen Abschnitten analysiert wurde, kann eine Verschlechterung der Lebensumstände zu größeren Migrationswünschen führen, insbesondere dann, wenn auch das Vertrauen in die Institutionen des Landes erschüttert wird. Darüber, ob aber die Sorge vor den gesundheitlichen Risiken einer Migration, die sich möglicherweise je nach Schwere der Pande‐
mie in verschiedenen Ländern unterscheidet, für kurzfristig höhere oder niedrigere Migrationspotenzi‐
ale nach Deutschland sorgen wird, lässt sich nur spekulieren. Hinsichtlich der Zusammensetzung des Migrationspotenzials ist die aus unserer Sicht plausibelste Annahme, dass die Bildungszusammenset‐
zung des Migrationspotenzials trotz eines etwaigen Pandemieeffekts ähnlich bleibt wie in der Vergan‐
genheit, da in den meisten Ländern alle Bevölkerungsgruppen vom Pandemieschock betroffen sind.
Dort, wo die eher niedrig gebildeten Gruppen besonders schwer von der Krise getroffen sind, könnten die Migrationspotenziale dieser Gruppe überproportional steigen. Gerade in dieser Gruppe ist jedoch die Wahrscheinlichkeit einer Realisation der Migration nach Deutschland besonders gering, sodass die Auswirkungen auf tatsächliche Migrationsflüsse unter Umständen gering sein werden.
Im folgenden Kapitel verwenden wir das Migrationspotenzial, wie im Kapitel 4 bereits eingeführt, als einen der zentralen Erklärungsfaktoren im Prognosemodell der Bruttozuwanderung nach Deutschland.