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4 Komplexität von Vignetten, Lerneffekte und Plausibilität im Faktoriellen Survey

4.3 Forschungsstand und Hypothesen

Im Folgenden berichten wir den Forschungsstand zu den drei benannten methodischen Problemen und leiten daraus Hypothesen zu den Effekten auf das Antwortverhalten ab. Aufgrund der unzureichenden Forschungslage zu Faktoriellen Surveys ziehen wir mitunter Literatur zu verwandten Verfahren der Marktforschung und Umwelt- und Gesundheitsökonomie heran (Conjoint- und Choice-Experimente).

4.3.1 Komplexität von Vignetten: Anzahl der Dimensionen

Wie bereits erwähnt, ist der Faktorielle Survey insbesondere für Fragestellungen geeignet, bei denen komplexe Bewertungen vorzunehmen sind. Der Wunsch, über viele Dimensionen eine möglichst detaillierte und alltagsnahe Beschreibung zu erhalten, kollidiert allerdings mit der eingeschränkten Verarbeitungskapazität der Befragten. Die Entscheidung für eine bestimmte Anzahl von Dimensionen ist somit von weitreichender Bedeutung (Rossi/Anderson 1982). Dies gilt, weil die Anzahl der Dimensionen über die Länge der Situationsbeschreibungen und damit die Komplexität der Bewer-tungsaufgabe entscheidet. Eine Vielzahl von Dimensionen erzeugt für die Befragten eine möglicher-weise nicht mehr oder nur schwer handhabbare Komplexität. Die Folge wäre, dass die entsprechenden Urteile – falls es nicht zum vorzeitigen Abbruch kommt – im ungünstigsten Falle nur noch Artefakte darstellen. Jasso (2006) schlägt vor, nur solche Dimensionen auszuwählen, von denen eine Relevanz für die Bewertung bekannt ist. Dies kann durch theoretische Überlegungen, vorherige Untersuchungen oder aufgrund von Alltagsbeobachtungen geschehen. In Anknüpfung an kognitionspsychologische Arbeiten argumentiert sie zudem, dass Personen nur wenige Dimensionen zur Meinungsbildung heranziehen. Rossi und Anderson (1982) empfehlen, sich auf sechs Dimensionen zu beschränken. In den bislang durchgeführten Faktoriellen Surveys reicht die Anzahl der verwendeten Dimensionen unseres Wissens von drei (Berk/Rossi 1977) bis 21 (Shlay et al. 2005). In der Mehrzahl der Studien werden fünf bis sieben Dimensionen verwendet. Man stützt sich dabei allerdings nur auf eine

„Daumenregel“ aus den Informations- und Kognitionswissenschaften, wonach Menschen sieben plus/minus zwei Informationen am besten verarbeiten können (Zimbardo 1988: 275). Es zeigt sich also, dass die bisherige Forschungspraxis durch sehr unterschiedliche Vorgehensweisen bestimmt ist.

Die in der Literatur zu findenden Empfehlungen gehen über allgemeine Ratschläge nicht wirklich hinaus, etwa wenn Beck und Opp (2001: 287) raten, die Ausprägungen aus Hypothesen zu generieren und nur solche zu verwenden, bei deren Variation man einen tatsächlichen Einfluss vermutet.6

Die zunächst nahe liegende, grundsätzliche Annahme lautet, dass die kognitive Anforderung für die Befragten mit der Anzahl der Dimensionen steigt, bis hin zu einer eventuell nicht mehr handhabbaren Komplexität (Rossi/Anderson 1982; für Choice- und Conjoint-Analysen: DeShazo/

Fermo 2002; Melles 2001). Weitaus weniger klar ist, wie sich die dann zu erwartende Tendenz zur       

6 Neben der Anzahl der Dimensionen ist auch die Zahl der Ausprägungen pro Dimension relevant, weil damit die Größe des Vignettenuniversums festgelegt wird. Als Vignettenuniversum wird die Gesamtheit aller mög-lichen Varianten der Situations- bzw. Objektbeschreibung bezeichnet.

   

Vereinfachung äußert. Neben einem kompletten Befragungsabbruch und Item-Nonresponses kommt ebenso ein inkonsistenteres Antwortverhalten in Frage. Alternativ sind Heuristiken in Form eines vollständigen Ausblendens inhaltlich weniger relevanter (oder vergleichsweise unauffällig operationa-lisierter, da z. B. mit weniger Ausprägungen vorgegebener) Dimensionen erwartbar (Wason et al.

2002; für Befunde bei Choice- und Conjoint-Analysen: DeShazo/Fermo 2002; Melles 2001;

Swait/Adamowicz 2001). Vertreten wird bei Choice- und Conjoint-Analysen zudem auch die Gegen-hypothese eines konsistenteren Antwortverhaltens bei mehr Dimensionen (Sauer 2009). Die dahinter stehende Annahme ist, dass in den wenig-dimensionalen Vignetten urteilsrelevante Informationen fehlen, die daher von den Befragten selbst konstruiert werden müssen.7 Gegenüber der expliziten Vorgabe durch den Forscher bedeutet die „Unterkomplexität“ eine geringere inhaltliche Kontrolle über das Vignettenexperiment, was zumindest befragtenübergreifend eine höhere Varianz und damit geringere Präzision der Schätzungen erwarten lässt (Caussade et al. 2005: 632; DeShazo/Fermo 2002;

Johnson 2006: 46f.). Ähnlich wird vermutet, dass unkontrollierte Framing-Effekte wahrscheinlicher werden (dazu z. B. Melles 2001: 186). Und schließlich gilt auch ein Informationsmangel als kognitiv belastend, weil es beispielsweise bei wenigen Merkmalsvorgaben schwieriger ist, Unterschiede in den Fallbeispielen zu erkennen und damit zwischen ihnen zu differenzieren (s. Hensher 2006 für dieses Argument bei Choice-Experimenten). Als ein erster Beleg für einen solchen information-underload können die Befunde einer Wiederholungsbefragung gewertet werden, bei der Studierende zu drei Messzeitpunkten mit jeweils denselben Vignetten befragt wurden: Die Stabilität der Urteile erwies sich bei acht Dimensionen höher als bei fünf Dimensionen (Liebig et al. 2006).

Für alle Effekte ist jedenfalls unklar, ab welcher Dimensionszahl mit ihnen zu rechnen ist. Für die vorliegende Untersuchung wird daher mit fünf versus zwölf Dimensionen bewusst ein starker Kontrast gewählt. Die – gemessen an den vorliegenden Studien mit überwiegend fünf bis neun Dimensionen – überdurchschnittliche maximale Dimensionszahl von zwölf lässt ein Durchschlagen des „Über-forderungseffektes“ erwarten. Es ergeben sich zwei Teilhypothesen:

H1a: Bei zwölf Dimensionen sind Befragungsabbrüche häufiger als bei fünf Dimensionen.

H1b: Das Urteilsverhalten ist bei zwölf Dimensionen inkonsistenter als bei fünf Dimensionen.

Alternativ ist von einer vereinfachten Urteilsstrategie in Form einer Ausblendung einzelner Merkmale auszugehen (s. zu dieser dimensional reductions-Strategie bei Choice-Anaylsen: Swait/Adamowicz 2001: 137):

H1c: Bei zwölf Dimensionen sind einzelne Vignettenvariablen weniger urteilsrelevant, zeigen also geringere Einflüsse auf die Urteile als bei fünf Dimensionen.

      

7 In Vignettenstudien zur Einkommensgerechtigkeit könnte ein solches Informationsdefizit z. B. in der Berufs-erfahrung der Einkommensbezieher bestehen.

4.3.2 Lern- und Ermüdungseffekte

In fast allen Vignettenstudien sollen die einzelnen Befragten mehrere Vignetten beurteilen. Gängig sind zehn bis 20 Vignetten, in einer Studie waren es ganze 95 Vignetten pro einzelnem Befragten (Beck/Opp 2001; Rossi et al. 1974). Die mehrfache Präsentation von Vignetten ermöglicht es, selbst bei geringen Befragtenzahlen noch ausreichend viele Urteilszahlen zur Hypothesentestung zu sam-meln (Auspurg et al. 2009). Zudem erlaubt sie, befragtenspezifische Urteils- und Entscheidungsregeln (so genannte within subjects-Effekte) aufzudecken. Mit der wiederholten Bewertungsaufgabe sind allerdings Lerneffekte zu erwarten, die mit anderen Kennzeichen der Erhebungssituation in Wechselwirkung stehen. Sehr deutlich ist dies bei der Anzahl der Dimensionen. Bei einer höheren Dimensionszahl benötigen Lernprozesse länger, gleichzeitig könnten Ermüdungserscheinungen früher einsetzen. Lern- und Ermüdungseffekte sind wechselseitige Aspekte von Komplexität. Beim Lernen geht es um ein zunehmend konsistentes Antwortverhalten sowie um das Vermögen, mehr Dimen-sionen gleichzeitig in ein Urteil zu integrieren.8 Ermüdungs- und Langeweile-Effekte schlagen sich umgekehrt in einer sinkenden Konsistenz und in einer Beachtung weniger Merkmale oder anderen vereinfachten Entscheidungsregeln nieder (für Choice-Analysen: Carson et al. 1994: 335f.).9 Die Rolle und das Ausmaß von Lern- und Ermüdungseffekten sind für Vignettenstudien bislang unerforscht.

Ebenso ist es eine noch völlig ungeklärte Frage, ab welcher Vignettenzahl mit einem Umkippen von Lern- in Ermüdungseffekte zu rechnen ist.

Als ein erster Orientierungspunkt können Erfahrungen aus den verwandten Choice-Experimenten herangezogen werden. Demnach nimmt die Urteilskonsistenz bis etwa zum zehnten Urteil zu, um danach wieder abzusinken (z. B. Bradley/Daly 1994: 180; Caussade et al. 2005: 631f.). Da selbst bei Vignettenstudien mit 50 oder mehr Vignetten bislang keine nennenswerten Probleme im Hinblick auf die Urteilsgüte berichtet werden (Jasso 2006), scheint bei der vorliegenden Fallzahl von maximal zehn Vignetten pro Befragten (dazu mehr in Abschnitt 4.4) eine Dominanz der Lerneffekte plausibel. Es ergeben sich die folgenden Annahmen:

H2a: Mit der Position der Vignetten steigt die Konsistenz des Antwortverhaltens und/oder die Anzahl berücksichtigter Dimensionen.

H2b: Diese Lerneffekte treten stärker bei zwölf als bei fünf Dimensionen auf.

      

8 Eine im Befragungsverlauf zunehmende Beachtung von Dimensionen wird zudem damit begründet, dass die Probanden die in der Realität korrelierten Merkmale zu Beginn als redundant ansehen. Erst wenn sie nach einer ganzen Reihe von präsentierten Vignetten erkennen, dass sie im experimentellen Design unabhängig von-einander variieren, schenken sie ihnen mehr Aufmerksamkeit bzw. lassen sie separat in ihr Urteil einfließen (für Conjoint-Analysen: Melles 2001: 118).

9 Grafisch ist also ein umgekehrt u-förmiger Zusammenhang zwischen der Bearbeitungsabfolge der Vignetten und der Konsistenz bzw. Anzahl berücksichtiger Dimensionen zu erwarten.

   

4.3.3 Behandlung unlogischer Fälle

Bevor die tatsächlich zu bewertenden Vignetten zusammengestellt werden (also eine Auswahl aus dem Universum aller möglichen Kombinationen von Merkmalsausprägungen getroffen wird; dazu Beck/Opp 2001; Dülmer 2007; Steiner/Atzmüller 2006), ist es bisher gängige Praxis, „unlogische“

und „unplausible“ Fälle zu eliminieren. Es werden also solche Vignetten ausgeschlossen, die offen-sichtlich ungewöhnliche oder unsinnige Merkmalskombinationen enthalten. Ein Beispiel dafür wären erwerbstätige Personen ohne Schul- oder Berufsausbildung in einem Beruf, bei dem eine Ausbildung unabdingbar ist (etwa Richter, Hochschullehrer). Der Ausschluss solcher Fälle wird vor allem mit den zu erwartenden Folgen für das Antwortverhalten begründet. Offensichtlich unsinnige Fälle würden die Ernsthaftigkeit der Bewertungsaufgabe in Frage stellen und zu einem Anstieg der Item-Non-Response-Quote, oder gar zum völligen Befragungsabbruch führen (Faia 1980; Jasso 2006).

Dieses Argument ist durchaus einleuchtend, doch sind die Kriterien, was als unlogisch oder un-sinnig zu gelten hat, sehr vage. In vielen Faktoriellen Surveys geht es darum, möglichst unabhängig von den gängigen Normen, bestehenden Gesetzen und empirischen Beobachtungen Bewertungen vor-nehmen zu lassen, um so auch die kontrafaktischen Meinungen und Überzeugungen der Befragten zu erheben. Die Norm eines „logischen Falles“ wird durch empirische Regelmäßigkeiten und damit zusammenhängende Erwartungshaltungen geprägt. Faktorielle Surveys bieten jedoch die seltene Möglichkeit, die Probanden bewusst mit abweichenden Fällen zu konfrontierten – und gerade in der Reaktion auf solche abweichende Fälle kann ein Erkenntnisziel liegen. In dieser Hinsicht sind Eingriffe in die Merkmalskombinationen problematisch, engen sie doch die Variation der Situations- und Objektbeschreibungen a priori auf ein empirisch vorfindbares Maß ein (Beck/Opp 2001).

Solides methodisches Wissen besteht bislang ausschließlich im Hinblick auf die statistischen Folgen. Durch den gezielten Ausschluss einzelner Fälle wird die Orthogonalität der Dimensionen im Vignettenuniversum eingeschränkt, Multikollinearität wird also erzwungen (zu deren Konsequenzen für Schätzverfahren: Greene 2003: 56-59; Wooldridge 2003: 96-100). Die Relevanz des Ausschlusses von Fällen für die Balanciertheit und Unkorreliertheit von Vignettensamples ist inzwischen gut ein-schätzbar (Dülmer 2007: 391f.; Kuhfeld et al. 1994: 551; Steiner/Atzmüller 2006) und es liegen Algo-rithmen vor, welche die Einbußen an Effizienz gezielt minimieren (dazu Kuhfeld 2005). Aufgrund des andernfalls hohen Effizienzverlustes lautet daher die eindeutige Empfehlung, diese Algorithmen auch einzusetzen.

Die Auswirkungen der unplausiblen oder unlogischen Fälle auf das Antwortverhalten sind dage-gen weitaus strittiger, was vor allem durch fehlende einschlägige Untersuchundage-gen bedingt ist.10 Trifft die oben angesprochene Vermutung zu, dass durch unplausible Vignetten der grundsätzliche Glaube an den Wert der Befragung und damit den Nutzen eigener Mitarbeit beeinträchtigt wird, sind Befra-      

10 Die zwischen dem Autorenteam Rossi/Alves (1980) und Faia (1980) ausgetragene Diskussion über die (Un-) Sinnigkeit und den Nutzen unplausibler Vignetten ist daher nach wie vor nicht mit empirischen Argumenten zu entscheiden.

gungsabbrüche und invalide Antworten zu erwarten (Response-Sets oder flüchtige und inkonsistente Urteile). Es ergeben sich daher zunächst die folgenden Hypothesen:

H3a: Werden den Befragten unplausible Fälle vorgelegt, sind Befragungsabbrüche häufiger als wenn dies nicht der Fall ist.

H3b: Werden die Befragten mit unplausiblen Fällen konfrontiert, ist die Konsistenz ihres Antwort-verhaltens geringer, als wenn dies nicht der Fall ist.

Faia (1980) erwartet zudem, dass die für die Unplausibilität ursächlichen Dimension in den Vorder-grund geraten – die Befragten würden ihre Aufgabe in einen reinen „Intelligenztest“ zur Entlarvung von „Anomalien“ uminterpretieren. Gerade dies würde die Gültigkeit der Urteile beinträchtigen und verdient daher eine Überprüfung:

H3c: Nach einer Konfrontation mit unplausiblen Fällen beziehen die Befragten primär die für die Unplausibilität verantwortlichen Dimensionen in ihre Urteile ein, gewinnen diese somit relativ zu allen anderen Dimensionen an Bedeutung.

Als alternative Begründung hierfür lässt sich ein Lerneffekt anführen: Die Befragten bemerken erst bei einer empirisch seltenen Kombination, dass die Merkmale unabhängig voneinander variieren und somit nicht redundant sind. Ähnlich könnte sich so eine sinkende Bereitschaft zu differenzierten Urtei-len manifestieren: Dimensionen verlieren durch ein Umschwenken auf ein vereinfachtes, weniger Merkmale einbeziehendes und daher kognitiv weniger belastendes Antwortverhalten an Relevanz.

Die Diskussion dieser drei Problemstellungen verdeutlicht, dass komplexe Wechselwirkungen zwischen den methodischen Aspekten von Faktoriellen Surveys zu erwarten sind. Wir können hier schon aus Platzgründen nur die besonders nahe liegenden Zusammenhänge analysieren, im genannten DFG-Projekt wird derzeit ein weitaus größeres Spektrum methodischer Effekte untersucht.