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Forschungsüberblick von 1886 bis 1989 (Zusammenfassung)

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Die in dieser Studie betrachtete Forschungsgeschichte zum ‚Naumburger Meister’

begann recht eigentlich mit einem Vortrag Wilhelm Vöges im Jahr 1905, als dieser die Werke des bis heute namentlich nicht bekannten, um die Mitte des 13.

Jahrhunderts am Naumburger Dom tätigen Bildhauers mit Skulpturenfragmenten im Mainzer Dom verglich. Vöges Hinweis auf stilistische Gemeinsamkeiten zwischen Mainz und Naumburg, die in der Folgezeit in der Forschung anders interpretiert werden sollten - Vöge nahm noch eine Abhängigkeit der Mainzer von den Naumburger Arbeiten an -, schuf die Grundlage für die Herausbildung des kunsthistorischen Notnamens ‚Naumburger Meister’. Dieser Name, unter dem bis heute die Forschung personalisierend und zusammenfassend eine Gruppe stilistisch eng verwandter Werke betrachtet, hatte mit einem nationalen oder nationalistischen Konzept nichts zu tun. Der Name verdankte sich vielmehr allein dem kunsthistorischen Vergleich von Werken an verschiedenen Orten, die den Gedanken an eine gemeinsame Künstlerpersönlichkeit nicht verstummen ließen, welche diese Werke entworfen und gemeißelt haben könnte.

Die systematische wissenschaftliche Beschäftigung mit den Skulpturen im Naumburger Dom - und mit dieser die vorliegende Studie - setzte bereits früher mit Wilhelm Bodes Geschichte der deutschen Plastik von 1886 zu einem Zeitpunkt ein, als der namensgebende Vergleich der Naumburger Skulpturen mit Arbeiten im Mainzer Dom noch nicht zum Thema wissenschaftlicher Beschäftigung geworden war. Damals wurde in der kunsthistorischen Literatur ganz unabhängig von einem Meisternamen das Verhältnis der Skulptur in Naumburg zur zeitgenössischen französischen Produktion erörtert, welches auch heute noch eines der zentralen Themen der Forschung darstellt. In seiner Geschichte der deutschen Plastik leugnete Wilhelm Bode noch jeden französischen Einfluss auf die Skulpturwerke im Naumburger Dom. Für Bode standen diese Arbeiten allein in der sächsischen Tradition; sie seien Bollwerke gegen die aus Frankreich kommende gotische Stilentwicklung, welche in der Architektur schon früher ihren Siegeszug in Deutschland angetreten habe, in den Naumburger Skulpturen aber noch auf den Widerstand einer einheimischen Stilentwicklung gestoßen sei.

Dagegen stellte Franz v. Reber im selben Jahr 1886 in seiner Kunstgeschichte des Mittelalters die Gegenthese zu Bode auf, indem er die französische Stilentwicklung explizit als Voraussetzung der Naumburger Skulpturen benannte, welche die romanische Gebundenheit der früheren sächsischen Werke in Freiberg und Wechselburg durch eine naturnahe Gestaltung überwunden hätten. Auch wenn v.

Reber dem Bildhauer attestierte, dass er durchaus deutsch sieht und empfindet, so machte

Vöge 1905 / Bode 1886 - Reber 1886 Forschungsüberblick 1886-1989 / XXIV

er doch deutlich, dass die Naturnähe der Naumburger Skulpturen sich dem Anstoß durch das französische Vorbild verdanken würde, eine Auffassung, die 1890 auch Wilhelm Lübke vertrat, welcher die Naumburger Stifterfiguren unter dem Gesichtspunkt eines durch französische Vorbilder initiierten Fortschritts zu größerer Naturwahrheit betrachtete.

Die Suche nach konkreten französischen Vorbildern für Skulpturarbeiten an Domen im deutschen Reichsgebiet, die bei v. Reber und Lübke als Voraussetzung unterstellt aber noch nicht an bestimmten Bildhauerarbeiten aufgezeigt worden war, unternahm Georg Dehio 1890 in einem Aufsatz über die Bamberger Domskulptur.

Darin zeigte er die Reimser Heimsuchungsgruppe als vorbildgebend für die Bamberger Figuren auf und bezeichnete es gleichzeitig als Desiderat einer zukünftigen Forschung, auch die sächsisch-thüringische Skulptur auf etwaige französische Anregungen hin, sei es direkte, sei es indirekte, zu untersuchen.

1892 legte August Schmarsow die erste umfangreiche Monographie zur Naumburger Skulptur vor. Er sprach zwar gleichfalls vom französischen Vorbild für die Naumburger Bildwerke, bezeichnete diese dann aber - ähnlich wie Bode - als heimische Frucht, welche das französische Vorbild übertroffen habe. Wie Bode machte Schmarsow einen Unterschied zwischen der Aneignung französischer Architektur und der Aneignung französischer Skulptur in Deutschland. Während sich die Qualität der Architektur des Naumburger Westchors im Grad der geglückten Aneignung des französischen Vorbildes zeige, liege der Wert der Skulptur gerade darin, dass sie von französischen Vorbildern unberührt geblieben sei. Der Schwerpunkt von Schmarsows Monographie von 1892 lag so nicht in einer Untersuchung des Verhältnisses der Naumburger Kunst zu den französischen Voraussetzungen, sondern in einer formalen und inhaltlichen Analyse der Skulpturen von Westchor und Westlettner im Naumburger Dom. Hierbei besprach Schmarsow Themen, welche die Naumburg-Forschung bis heute beschäftigen sollten.

Er gab einen Überblick zur Baugeschichte und eine charakterisierende Beschreibung aller Figuren und Reliefs, beleuchtete den geschichtlichen Hintergrund des Stifterzyklus anhand von Dokumenten und schlug hinsichtlich der Figuren verschiedene Deutungsversuche vor. Im Chorpolygon wollte er aufgrund von geschichtlichen Hinweisen einen Zweikampf als Gottesgericht erkennen, eine Deutung, die Schmarsow in seiner Abhandlung schließlich durch eine andere, liturgische Interpretation ersetzte.

Für den Westabschluss des Naumburger Dombaus im 13. Jahrhundert stellte Schmarsow die These einer Planänderung auf. Durch das Vorbild des wenig früheren Domneubaus in Bamberg, dessen Weihe der Naumburger Bischof Engelhard 1237 vorgenommen hatte, sei der anfängliche Plan einer Westvorhalle zugunsten des

XXIV / Forschungsüberblick 1886-1989 Lübke 1890 - Dehio 1890 - Schmarsow 1892

heutigen Westchors aufgegeben worden. Bei Schmarsow klang ferner eine These an, die bis heute als Voraussetzung des Naumburger Stifterzyklus diskutiert wird: Das ehemalige Domstift in Zeitz habe sich mit der 1028 erfolgten Verlegung des Bischofssitzes lange Zeit nicht abfinden wollen. Die Folge sei ein jahrhunderte-langer, immer wieder aufflackernder Bistumsstreit mit Zeitz gewesen, zu dem Schmarsow eine Urkunde von 1231 (nach der Beilegung des Streits 1230 auf einer Synode in Merseburg) wiedergab, in welcher König Heinrich (der Sohn Kaiser Friedrichs II.) dem Naumburger Bischof Engelhard bestätigte, dass niemand den Naumburger Bischof noch ‚Bischof von Zeitz’ nennen dürfe, und wer dies ferner zur Verkleinerung oder Verletzung des Naumburgers wage, solle mit hundert Mark Goldes dafür büssen. Schmarsow teilte auch in Auszügen den berühmten Spendenaufruf Bischof Dietrichs und des Naumburger Domkapitels von 1249 mit, dem er einen vorläufigen Programmcharakter für den Figurenzyklus im Naumburger Westchor zuschrieb. Zur Identifizierung der Stifterfiguren zog Schmarsow daneben noch weitere Quellen heran. Für die auffallende Figur des Dietmar im Chorpolygon (Ditmarus comes occisus) verwies er auf die Annalen des Lambert von Hersfeld und einen Nekrolog des Sankt Michaels-Klosters in Lüneburg, aus denen die Identität des Gefallenen und die Umstände seines Todes hervorgingen. Danach handelte es sich um den bei einem Zweikampf in der Pfalz zu Pöhlde gefallenen Billunger Grafen Dietmar, der des Hochverrats an Kaiser Heinrich III. beschuldigt, durch die Hand seines eigenen Vasallen Arnold fiel. Ausgehend vom Schicksal dieser Figur würden die beiden daneben stehenden Gestalten, Sizzo und Wilhelm, zu Richter und Zeuge in einem Gottesgericht, und als Gegner des Dietmar bestimmte Schmarsow die vierte Figur im Chorpolygon, Timo, ohne jedoch den angenommenen szenischen Zusammenhang der vier Figuren - Dietmar und Timo als Gegner, Sizzo und Wilhelm als Unparteiische - mit letzter Konsequenz für seine Interpretation auszuwerten. Denn mit der Beschreibung der Gerburg genannten Figur im Chorquadrum vollzog Schmarsow den Übergang von einer historischen zu einer religiösen Deutung des Stifterzyklus, nach welcher die sakrale Bestimmung des Ortes den Figuren ihre Bedeutung zumesse. Diese bildeten am Ende für ihn eine fürstliche Versammlung um den Hochaltar, an dem das Messopfer gefeiert werde.

Der Aufforderung Georg Dehios, für die sächsisch-thüringische Skulptur nach ähnlichen Zusammenhängen und Vorbildern zu suchen, wie Dehio sie selbst für die Bamberger und Reimser Heimsuchungsgruppe festgestellt hatte, kam Artur Weese, ein Schüler Dehios, in einer 1897 erschienenen Dissertation zur Bamberger Skulptur nach. Weese wurde freilich nur bei der Bamberger Skulptur selbst mit weiteren Beispielen von Vorbildern an der Kathedrale von Reims fündig. Der Naumburger Bildhauer dagegen, auf den Weese in seiner Dissertation vergleichend zu sprechen

Schmarsow 1892 - Weese 1897 Forschungsüberblick 1886-1989 / XXIV

kam, sei nur von der allgemeinen Strömung, die von Frankreich aus die deutsche Kunst ergriffen habe, erfasst worden, habe diese aber im Innersten verwandelt. Der Naumburger Bildhauer finde seine eigentliche Grundlage in der sächsischen Schule. Die unterschiedliche Stellung der Bildhauerwerkstätten in Bamberg und Naumburg gegenüber dem französischen Vorbild zeige sich am Charakter der Skulpturen selbst. Einem derben Geschlecht in Naumburg stünden die schlankeren Gestalten von feinerem Knochenbau im Bamberger Dom gegenüber, einem sächsischen Gesichtstypus eine ganz andere Physiognomie der Bamberger Figuren, dem Realismus in Naumburg die Idealgestalten in Bamberg.

Nachdem August Schmarsow in seiner Naumburg-Monographie von 1892 die französischen Voraussetzungen nur am Rande gestreift hatte, unternahm er in einer Abhandlung von 1898 den grundlegenden Versuch, die französische Skulptur in ihrem Verhältnis zur Architektur und dann im Unterschied zur deutschen Skulptur zu bestimmen. Die französische Skulptur der Gotik sei in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Bauwerk entstanden. Die enge Bindung an die Architek-tur habe der französischen SkulpArchitek-tur bei aller Monumentalität einen dekorativen Cha-rakter verliehen; sie stehe der Freifigur, dem Standbild, eigentlich fremd gegenüber, was umgekehrt den wenigen deutschen Bildwerken dieser Zeit einen Vorzug vor ihren französischen Vorbildern gebe - eine These, die Wilhelm Pinder in den 1920er und 1930er Jahren noch weiter ausführen und populär machen sollte.

Eine grundlegende Revision der Datierung der Bamberger und Naumburger Skulptur, welche die Forschung bis dahin in die 1270er und 1280er Jahre gesetzt hatte, leitete Max Hasak 1899in seiner Geschichte der deutschen Bildhauerkunst im 13.

Jahrhundert ein. Hasaks neues Datengerüst - das in der späteren Forschung fälschlich Adolph Goldschmidt zugeschrieben wurde - orientierte sich an den Bauüberlieferun-gen und Weihedaten zu den Domen in Bamberg und Naumburg. Hasak revidierte die bisherigen Datierungen der Forschung um einige Jahrzehnte und setzte die Arbeiten der Jüngeren Bamberger Bildhauerschule in die Zeit vor der Domweihe von 1237.

Auf eine Überlegung von Dehios Aufsatz von 1890 eingehend hielt Hasak es für möglich, dass die Naumburger Skulpturen von einem jüngere(n) Künstler, der im Bamberger Atelier gelernt hat, geschaffen worden sein könnten. In jedem Fall aber müssten die Bildhauer beider Werkstätten - nicht nur derjenigen in Bamberg - ihre Schulung in Frankreich erhalten haben.

1899 und 1900 erschien in zwei Teilen ein Aufsatz Karl Franck-Oberaspachs zum Eindringen der französischen Gotik in die deutsche Skulptur, in dem der Autor Beispiele für die Mobilität von Architekten und Steinmetzen im 13. Jahrhundert untersuchte. Am Neubau des Bamberger Doms sei die Zusammenarbeit verschiedener Ateliers an

XXIV / Forschungsüberblick 1886-1989 Schmarsow 1898 - Hasak 1899 - Franck-Oberaspach 1899/1900

ein und demselben Bauwerk zu beobachten. Gleichzeitig mit dem Bau der West-Türme seien die Skulpturen der Jüngeren Bildhauerwerkstatt gefertigt worden, die auf der viel entwickelteren Stilstufe der Kathedrale von Reims stünden, während für die Architekturformen der Westtürme die Kathedrale von Lâon vorbildlich gewesen sei.

Die Tatsache einer Orientierung an verschiedenen französischen Vorbildern und einer unterschiedlichen Schulung und Fertigkeit der Bamberger Werkleute hatte nach Franck-Oberaspach einen arbeitsteiligen Vorgang an den französischen Kathedralbauhütten zur Voraussetzung. Die in Bamberg beobachtete Zusammenarbeit spezialisierter Werkstätten sei eine Voraussetzung gewesen für die Herstellung der riesigen Menge von Skulpturen an den französischen Kathedralen.

Anders als in Bamberg verhalte sich die Sache in Naumburg. Dort speisten sich Architektur und Skulptur aus einer einzigen Quelle, für die Franck-Oberaspach explizit die Kathedrale von Reims benannte (auch wenn die Westtürme in Naumburg gleichfalls das Vorbild von Lâon zitierten).

Zwölf Jahre nach Erscheinen seines Aufsatzes von 1890, in dem er die deutsche Forschung zur Untersuchung der französischen Voraussetzungen der sächsisch-thüringischen Skulptur aufgefordert hatte, nahm Georg Dehio 1902 das Erscheinen einer Abhandlung Adolf Goldschmidts zur Goldenen Pforte (1902) in Freiberg in Sachsen zum Anlass, einer Beschränkung dieser Forschung auf das durch ihn selbst angeregte Ausfindigmachen bestimmter Vorbilder entgegen zu treten, wenn dadurch der entscheidende Punkt einer Verarbeitung und Umformung des französischen Vorbildes geleugnet würde. Goldschmidt nehme an, der Künstler der Goldenen Pforte in Freiberg könne nicht selber in Frankreich gewesen sein, weil sein Portalentwurf keine Nachahmung eines französischen Vorbildes darstelle. Damit würde Goldschmidt implizit unterstellen, dass die unmittelbare Kenntnis eines französischen Vorbildes den sächsischen Bildhauer zu einer direkten Nachahmung seines französischen Vorbildes gezwungen hätte. Dehio machte deutlich, dass dem geringfügig scheinenden Streit zwischen ihm und Goldschmidt eine grundlegendere Bedeutung zukomme, insofern dieser Streit den Unterschied von Nachahmung und produktiver Verarbeitung eines Vorbildes betreffe. Bei qualitätsvollen Arbeiten aber müsse man immer von einer produktiven Umformung und nicht von einer bloßen Nachahmung ausgehen.

1903 erschien Heinrich Bergners Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Naumburg, in welcher der Autor die eigentümliche Wirklichkeitsnähe der Bildwerke von Westchor und Westlettner aus der produktiven Phantasie ihres mittelalterlichen Schöpfers abzuleiten suchte. Schlüssel zum Verständnis dieses Bildhauers sei dessen Studium des Menschen, den dieser

Goldschmidt 1902 - Dehio 1902 - Bergner 1903 Forschungsüberblick 1886-1989 / XXIV

Meister mit vollständigem Realismus erfasst und in seinen Skulpturen wiedergegeben habe, ohne sich um einen Schönheitskanon zu kümmern. Neben dem eigentümlichen Gewandstil der Bildwerke, den Bergner unter der Bezeichnung Lodenstil in die kunstgeschichtliche Diskussion einführte, sei es die physiognomische Darstellung, welche das eigentliche Erkennungszeichnen des Naumburger Bildhauers ausmache. Zur Deutung des Stifterzyklus griff Bergner auf Schmarsows Zweikampfthese zurück, welche dieser Autor 1892 bei seinem Erklärungsversuch auf halbem Wege hatte liegen lassen. Doch scheiterte auch Bergners Versuch, einen Zweikampf im Chorpolygon an den Figuren selbst aufzuzeigen und historisch plausibel zu begründen. In Ermangelung eines Gegners, der in der historischen Überlieferung der Vasall des getöteten Dietmar sein musste, fingierte Bergner - wie Schmarsow - Timo als Gegner. Weil aber zu einem Zweikampf auch ein Motiv gehörte, erfand Bergner das Motiv einer verbalen Provokation, die unmittelbar vor dem Zweikampf gefallen sein sollte, weshalb in seiner Version erst der Zweikampf im Naumburger Chorpolygon die Gegner zusammenbrachte, damit sie sich beleidigen und einen Zweikampf austragen konnten - eine absurde Tautologie. Als erster Forscher stellte Bergner in seiner Beschreibenden Darstellung einen Werkkatalog für den Bildhauer auf. Im Naumburger Dom erweiterte Bergner das Œuvre des Bildhauers durch vier Werke: dieser habe neben den Skulpturen von Westchor und Westlettner den Pultträger, das Bischofsgrabmal, eine halbfertige Deesis-Gruppe im Ostchor sowie ein Johannesmedaillon geschaffen. Obwohl Bergner die Existenz einer Werkstatt unterstellte, wurden Fragen der Händescheidung von ihm nicht thematisiert, sondern von vornherein im Sinne einer einzigen überragenden Künstlerpersönlichkeit beantwortet. Bergner ergänzte schließlich die zuvor durch Bode und Schmarsow vertretene Auffassung von der obersächsischen Herkunft des Bildhauers durch die These, dieser habe in der Werkstatt der Goldenen Pforte in Freiberg gelernt und der Wettiner Bischof Dietrich II. habe den Bildhauer aus seiner Heimat mitgebracht oder herangezogen, um ihm schließlich die Aufgabe im Naumburger Bischofsdom anzuvertrauen.

1905 wies - wie erwähnt - Wilhelm Vöge zum ersten Mal auf motivische und stilistische Zusammenhänge zwischen Arbeiten im Mainzer Dom und in Naumburg hin. Die Mainzer Arbeiten würden aus einer doppelten Quelle gespeist: aus Reims und aus Naumburg. Während Vöge zwischen der Mainzer Deesis und der vergleichbaren, erst kurz zuvor durch Bergner in die Diskussion eingeführten Gruppe am Naumburger Ostchor nur motivische Zusammenhänge sah, bildeten die Passionsreliefs des Naumburger Westlettners für Vöge (wie dann für die folgende Forschung) stilistisch den eigentlichen Bezugspunkt für die Mainzer Arbeiten. Die Physiognomien seien hier wie dort die gleichen und würden sich charakteristisch

XXIV / Forschungsüberblick 1886-1989 Vöge 1905

von französisch geprägten Physiognomien abheben, wie man sie an den Portalen von Straßburg oder Freiburg im Breisgau studieren könne. Der Naumburger Gesichtstypus sei in Mainz und Naumburg ein breiter Gesichtstypus. Vöge berührte auch die Frage einer möglichen Identität der Bildhauer in Mainz und Naumburg, meinte aber, dass trotz der engen stilistischen Verwandtschaft zwei verschiedene Meister an beiden Orten tätig gewesen seien, von denen sich der Mainzer durch einen minder herben Charakter von seinem Naumburger Kollegen unterscheide.

Zwei Jahre später (1907) versuchte Adolph Goldschmidt in einem Vortrag vor der Berliner kunsthistorischen Gesellschaft, vor welcher auch Vöge seine These über den Zusammenhang der Mainzer und Naumburger Skulpturen vorgetragen hatte, eine Interpretation des Stifterzyklus zu liefern, die jeden geschichtlichen Gehalt als Erklärungsmoment aus den Figuren verbannte und in Geschlechterphysiognomik und dem artistischen Prinzip der Variation die Bestimmungsgründe für die Individualisierung der Stifterfiguren sah. Eine bewusst realistische Darstellung traute Goldschmidt dem Naumburger Bildhauer des 13. Jahrhunderts nicht zu, weshalb er den Realismus dieser Figuren als bloßen Schein interpretierte und die inhaltsleere Variation zum Ausweg eines mittelalterlichen Künstlers erklärte, dem zum richtigen Realismus die Fähigkeit mangelt.

Ohne Kenntnis des vier Jahre zuvor veröffentlichten Vortrags von Wilhelm Vöge bestimmte Alfred Stix 1909 das Verhältnis der Mainzer zur Naumburger Skulptur ganz ähnlich wie Vöge, wobei er wie dieser von der Annahme ausging, dass Naumburg der gebende, Mainz aber der nehmende Teil in diesem Verhältnis gewesen sei. Bestimmte Motive wie das Motiv der vorgezogenen Kapuze beim Mönch im Fragment mit der Gruppe der Seligen, habe der Mainzer Bildhauer von seinem Lehrer in Naumburg übernommen. Stix untersuchte der Reihe nach Motivübereinstimmungen an Mainz-Naumburger ‚Figurenpaaren’ und definierte diese Übereinstimmungen als Abhängigkeit der Mainzer von der Naumburger Skulptur, indem er sich die Mainzer Arbeiten als Werke eines aus der Naumburger Werkstatt hervorgegangenen und nach Mainz abgewanderten Gesellen vorstellte.

Das durch Vöge und Stix angenommene doppelte Abhängigkeitsverhältnis der Mainzer Skulptur - einerseits von Reims, andererseits von Naumburg - wurde durch Georg Dehio in seinem 1911 erschienenen Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Südwestdeutschland in Frage gestellt. Dehio kehrte das Verhältnis zwischen Mainz und Naumburg um und äußerte die Annahme, derselbe Meister, der den Westlettner in Mainz geschaffen habe, sei auch für den Ostlettner mit der Tragefigur verantwortlich gewesen. Ferner äußerte Dehio die feste Überzeugung, dass die Bildhauer von Ost- und West-Lettner in Mainz aus Reims gekommen seien.

Goldschmidt 1907 - Stix 1909 - Dehio 1911 Forschungsüberblick 1886-1989 / XXIV

Unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkrieges waren die Vorbereitungsarbeiten für ein ambitioniertes Projekt der deutschen Kunstgeschichtsforschung zur Erfassung und wissenschaftlichen Bearbeitung deutscher Kunstdenkmäler in der Denkmälerkommission des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft abgeschlossen worden. In der Publikation des Vereins von 1914 wurden die Arbeitspläne und Vorberichte veröffentlicht. Die Denkmälerkommission hatte den Stoff für die Sektion Skulptur nach Epochen in 8 Abteilungen untergliedert, wobei Adolph Goldschmidt die Leitung der Abteilungen 1-4 (bis zum Ende der romanischen Epoche), Wilhelm Bode aber die der Abteilungen 5-8 (beginnend mit der gotischen Epoche) übernehmen sollte. Hierbei ergab sich der merkwürdige Sachverhalt, dass die Naumburger Skulptur des 13. Jahrhunderts, den konträren wissenschaftlichen Auffassungen der beiden Sektionsleiter zufolge, in die Abteilung des jeweils anderen Kollegen fallen musste. Denn die 3. durch Goldschmidt betreute Abteilung (die 4.

betraf die Elfenbeine) hatte zum Programm: ‚Korpus aller monumentalen Skulpturen von den Ottonen bis zum Eindringen der Gotik ...’, die 5. durch Bode betreute Abteilung aber sah als Untersuchungsgegenstand die gotische monumentale Plastik vor. Nun hielt aber Goldschmidt die Naumburger Skulptur für gotisch, Bode dagegen für noch romanisch.

Der vorprogrammierte Konflikt zwischen Bode und Goldschmidt wurde schließlich dadurch aus der Welt geschafft, dass die 5. Abteilung (Gotische monumentale Plastik) der Arbeitsgruppe unter Adolph Goldschmidt zugeschlagen wurde, so dass nach dieser endgültigen Einteilung die deutsche Skulptur des 13. Jahrhunderts in ein und demselben Arbeitszusammenhang bearbeitet werden konnte.

Für die sächsische Skulptur des 13. Jahrhunderts übernahm Hermann Giesau im Rahmen der Arbeitsgruppe Goldschmidt das methodische Grundsatzreferat bei der

Für die sächsische Skulptur des 13. Jahrhunderts übernahm Hermann Giesau im Rahmen der Arbeitsgruppe Goldschmidt das methodische Grundsatzreferat bei der

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