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Forschungen von ILO und NGOs

Im Dokument Manfred Liebel Kindheit und Arbeit (Seite 33-37)

2. Die Arbeit der Kinder im Blick der Sozialforschung. Eine internationale

2.1 Forschungen von ILO und NGOs

Das Interesse an der sozialwissenschaftlichen Forschung zur Arbeit von Kin-dern in ihren zeitgenössischen Formen war bis in die 1980er Jahre gering. Seit-dem hat es an Umfang und Intensität rasch zugenommen. Die weitaus meisten Studien beschäftigen sich mit der Arbeit von Kindern im globalen Süden. In den 1990er Jahren fand in den Sozialwissenschaften auch die Arbeit von Kin-dern im globalen Norden wachsende, wenn auch noch immer vergleichsweise geringe Beachtung. Vergleichende Studien über die Arbeit von Kindern im Süden und Norden gibt es bis heute nicht.

Der größte Teil der Forschungsliteratur wurde zunächst unter der Schirm-herrschaft der ILO herausgegeben oder unter ihrem Namen veröffentlicht. Seit 1979 verfügt die ILO über ein eigenes Forschungsprogramm zur Kinderarbeit.

Die ersten Untersuchungen wollten das ganze Panorama der Kinderarbeit er-fassen, weltweit, in den sog. Entwicklungsländern ebenso wie in den industri-alisierten Ländern, insbesondere Gesetzgebung, Arbeitsformen, Arbeitssekto-ren, Arbeitsbedingungen, ohne jeden dieser Aspekte mit der notwendigen Tiefe behandeln zu können (vgl. Mendelievich 1979). Der Fokus lag zudem hauptsächlich auf dem formalen Sektor der Wirtschaft, in dem nur ein ver-schwind geringer Teil der arbeitenden Kinder zu finden ist.

Einen bemerkenswerten theoretischen und methodologischen Beitrag zur Forschung über die Arbeit von Kindern bildet der von Gerry Rodgers und Guy Standing (1981a) im Auftrag der ILO herausgegebene Sammelband Child

Work, Poverty and Underdevelopment. Darin wurde zum ersten Mal der Ver-such unternommen, wirtschaftliche Aktivitäten der Kinder zu klassifizieren, und es wurde auf die Schwierigkeiten dieser Aufgabe eingegangen. Insbeson-dere der einleitende Beitrag von Rodgers und Standing sowie die im selben Band enthaltenen Artikel von Manga Bekombo (1981) und Enid Schildkrout (1981) zu Afrika und der Artikel von Leela Dube (1981) zu Indien heben die Notwendigkeit hervor, die Arbeit der Kinder in ihrem soziokulturellen Kontext zu studieren und zu bewerten. Aus dem Beitrag von Rodgers und Standing seien die abschließenden Bemerkungen ausführlich zitiert:

Viele Formen der Arbeit von Kindern sind eine Quelle von Aktivitäten, die für die Kinder interessant und möglicherweise kreativ sind und die auf signifikante Weise zum Familieneinkommen oder zur Erhaltung der Familie beitragen. Konventionelle Sichtweisen der normalen Dauer von Kindheit oder der Wünschbarkeit des pflichtenden Schulbesuchs (formal schooling) tendieren dazu, diese Punkte zu ver-bergen. […] [Man muss] versuchen, die Ansicht zu korrigieren, wonach Kinderar-beit ein Hindernis effektiven Lernens darstellt. […] Wo die ArKinderar-beit der Kinder ge-genteilige Effekte hat […], kann dies üblicherweise ebenso mit den sozioökonomi-schen Rahmenbedingungen in Verbindung gebracht werden, unter denen Kinder ar-beiten, wie mit der Arbeit selbst. Deshalb ist die Verhinderung (suppression) von Gelegenheiten zur bezahlten Arbeit nicht geeignet, das Wohlergehen der Kinder zu erhöhen, solange nicht gleichzeitig die Einkommensquellen ersetzt und Alternati-ven für die persönliche Entwicklung geboten werden. […] Aktionen zur Arbeit der Kinder müssen feinfühlig an den Bedürfnissen und Empfindungen der Kinder selbst orientiert werden. Sie müssen ebenfalls basieren auf einem ernsthaften Verstehen der Motive, die hinter der Arbeit der Kinder stehen, ihren Funktionen und den indi-viduellen Vorteilen, sei es der Kinder selbst, sei es anderer, die aus ihrer Arbeit Nut-zen ziehen (Rodgers & Standing 1981b, S. 42 f.).

Ohne die Vorgaben dieses Bandes besonders zu beherzigen, war die ILO in den folgenden Jahren vor allem darauf konzentriert, statistische Daten zur Kin-derarbeit in den einzelnen Ländern und Regionen sowie weltweit zu erstellen und die Instrumente für ihre Erfassung zu verfeinern. Dies sollte dazu dienen, nationale Aktionsprogramme zur Bekämpfung der Kinderarbeit aufstellen zu können (vgl. Bequele & Boyden 1988). Sie führten 1992 zur Gründung des

„Internationalen Programms zur Abschaffung der Kinderarbeit“ (IPEC) (vgl.

ILO 1996, Liebel 1998b). Wichtige Orientierungskriterien bildeten die „Richt-linien für ein Projektdesign“, die Alec Fyfe (1993) im Auftrag der ILO entwi-ckelt hatte. In der Zeit von 1996 bis 2017 hat die ILO sechs Global Reports zur Kinderarbeit veröffentlicht. In ihnen wird ein kontinuierlicher Rückgang des Ausmaßes der Kinderarbeit konstatiert, aber auch die Notwendigkeit be-tont, die politischen Anstrengungen zur Abschaffung der Kinderarbeit erheb-lich zu beschleunigen, um dieses (immer wieder auf später verschobenen) Ziel zu erreichen (ILO 1996; 2002; 2006; 2010; 2013; 2017). Die Kriterien und die Berechnungsweise der Global Reports ist unter Fachleuten umstritten. Zum Beispiel wird der ökonomistisch verengte Begriff von Kinderarbeit kritisiert,

der die Arbeiten im Familienzusammenhang, die keine monetären Äquivalente hervorbringen, weitgehend vernachlässigt. Den Trendberechnungen liegen nicht nur zu wenige Daten zugrunde, um repräsentative Aussagen machen zu können, sondern die herangezogenen Daten basieren auch auf gänzlich schiedenen Kriterien und Erhebungsmethoden und sind folglich nicht ver-gleichbar. Nur wenige der herangezogenen Datensätze entsprechen zudem den Maßstäben der ILO-eigenen Arbeitsstatistik, dem sog. SIMPOC-System.9 Bourdillon et al. (2010, S. 25) machen auch darauf aufmerksam, dass die poli-tischen Kampagnen gegen Kinderarbeit von falschen empirischen Vorausset-zungen ausgehen. Unter Verweis auf eine Studie von Edmonds und Pavcnik (2005) in 36 Ländern des globalen Südens zeigen sie, dass nur eine kleine Min-derheit der arbeitenden Kinder in bezahlten wirtschaftlichen Tätigkeiten au-ßerhalb der Familie tätig war. Daraus schließen sie, dass die Kinder, die in den internationalen Kampagnen gegen Kinderarbeit im Zentrum stehen, nur eine winzige Minderheit (unter 5 Prozent) betreffen.

In Verbindung mit den Reports hat die ILO vier sog. Weltkonferenzen zur Kinderarbeit veranstaltet, zu denen neben Regierungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen auch NGOs eingeladen wurden, die arbeitenden Kinder und ihre Organisationen aber ausgeschlossen blieben (siehe Kapitel 10). Seit 2008 beansprucht die ILO die Meinungsführerschaft in allen Fragen der Kinderarbeit (vgl. Fyfe 2008) und war zu diesem Zweck mit UNICEF und der Weltbank eine Allianz zur „Schaffung einer Wissensbasis“ über Kinderar-beit eingegangen (Understanding Children’s Work; ILO 2017). Sie wurde in-zwischen durch die sog. 8.7 Alliance abgelöst, die sich die Verwirklichung des entsprechenden Punkts der UN-Agenda für Nachhaltige Entwicklung zum Ziel gesetzt hat (vollständige Abschaffung der Kinderarbeit bis 2025; vgl. ILO 2018).

Neben der ILO haben auch andere internationale Inter-Regierungsorgani-sationen (INGOs) wie das UN-Kinderhilfswerk UNICEF, die Weltgesund-heitsorganisation (WHO) und die Weltbank Untersuchungen zur Kinderarbeit in Auftrag gegeben. Während sich die WHO vor allem den gesundheitlichen Risiken zuwandte (vgl. z.B. WHO 1987), legte UNICEF den Schwerpunkt ih-rer Studien auf die sog. Straßenkinder. Einen wichtigen Forschungsbeitrag leistete UNICEF mit der Bestimmung, dass in allen Ländern, in denen

9 Auf der 18. International Conference of Labour Statistics, die 2008 in Genf stattfand, wurden neue erweiterte „statistical definitions of children’s work“ beschlossen. Auf dieser Konferenz wurde zwischen einer umfassenden statistischen Definition von wirt-schaftlichen Tätigkeiten und der normativ-moralischen Definition von ‚schlechten‘

wirtschaftlichen Tätigkeiten (also child labour im Sinne der ILO) von Kindern unter-schieden. Mit dieser Unterscheidung wollte die Konferenz den Erfordernissen einer re-alitätsadäquaten Statistik entsprechen, ohne die Definitionsmacht der ILO über child labour infrage zu stellen. SIMPOC (Statistical Information and Monitoring Programme on Child Labour) ist der statistische Arm des ILO-eigenen Internationalen Programms zur Abschaffung der Kinderarbeit (IPEC).

UNICEF vertreten ist, eine Situationsanalyse durchgeführt werden sollte.

Diese Analysen sollten vergleichbare Informationen hervorbringen über die Lebensbedingungen von „Minderjährigen in besonders schwierigen Lebens-umständen“ (UNICEF), worunter auch arbeitende Kinder gefasst wurden. Ein frühes gelungenes Beispiel hierfür ist die spanischsprachige Studie Auf der Straße. Arbeitende Straßenkinder in Asunción (Espinoza et al. 1989), die mit der Situationsanalyse wichtige Daten über die Lebensbedingungen von arbei-tenden Kindern erheben konnte. UNICEF hat ähnlich wie viele Kinderrechts-organisationen gelegentlich die Auffassung geäußert, dass die Arbeit von Kin-der differenziert zu betrachten sei, sich aber in ihrer politischen Agenda immer wieder der ILO angeschlossen und auf die vollständige Abschaffung jeglicher Kinderarbeit gedrängt.

Viele Veröffentlichungen zur Arbeit von Kindern stammen auch von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Entweder wurden sie geschrieben, um ihre Bemühungen zur Durchsetzung von Kinderrechten zu unterstützen oder um die Aufmerksamkeit allgemein auf die Lebensbedingungen der Kinder zu lenken, denen sich ihre soziale und pädagogische Praxis widmet. Die Au-tor*innen waren zunächst meistens Aktivist*innen der Organisation mit wenig Erfahrung in der Anwendung von Forschungsmethoden. Am Anfang standen lokale oder landesspezifische Situationsbeschreibungen, in die häufig die Er-fahrungen der Aktivist*innen mit arbeitenden Kindern und ihr Bestreben, die Lebensbedingungen der Kinder zu verbessern, einflossen. Der größte Kritik-punkt an diesen Berichten ist, dass sie vorbehaltlos Sekundärliteratur verwen-den, vor allem aus den Medien, ohne Ergebnisse einer eigenen Forschung mit-einzubeziehen oder ohne anzugeben, auf welchen Erhebungsmethoden sie ba-sieren. Dadurch waren diese Berichte wenig hilfreich für die Entwicklung von Indikatoren zur Situationsanalyse von arbeitenden Kindern und fast nicht brauchbar für vergleichende Studienvorhaben.

Trotz ihrer methodologischen Schwächen haben die Veröffentlichungen der NGOs über die Jahre dazu beigetragen, dass die Lebensbedingungen arbei-tender Kinder überhaupt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, der Hilfsorga-nisationen, Regierungen und Forschungsinstitutionen gedrungen sind. Einige Berichte hatten eine bahnbrechende Wirkung, wie zum Beispiel die Schilde-rungen der Arbeitsbedingungen von Kindern in der Teppichindustrie, Textil-industrie, auf den Straßen der großen Städte, in Leibeigenschaft und in der Prostitution. Ein frühes Beispiel sind die acht Berichte von Anti-Slavery-Inter-national für das ständige UN-Komitee gegen moderne Formen der Sklaverei, das genauere Informationen über die Arbeitsbedingungen von Kindern in ver-schiedenen Industrie- und Tätigkeitsbereichen haben wollte.10 Wichtig war auch die von mehreren NGOs unterstützte Gründung der International

Wor-10 Anti-Slavery-International (London) gab in den Jahren 1979 bis 1987 mehrere Berichte über Kinderarbeit in Marokko, Indien, Thailand, Süd-Afrika, Spanien, Italien, Jamaika und Großbritannien heraus.

king Group on Child Labour (IWGCL). Sie hat seit Mitte der 1990er Jahre in zahlreichen Ländern des globalen Südens und Nordens Erhebungen durchge-führt, die einer differenzierten und den kulturellen Kontext berücksichtigenden Betrachtung der Arbeit von Kindern förderlich waren (vgl. IWGCL 1998;

Bourdillon et al. 2010, S. 1-6). Aufgrund von Differenzen zwischen den betei-ligten NGOs und mit den Mitarbeiter*innen wurde die IWGCL 1998 schon wieder aufgelöst (vgl. IWGCL 1997; 1998).

In den folgenden Jahren haben die von NGOs durchgeführten oder in Auf-trag gegebenen Studien noch erheblich an Qualität gewonnen. Vor allem die International Save the Children Alliance (ISCA) hat zum Teil aufwendige Feldforschungen in mehreren Ländern initiiert, die auch in methodologischer Hinsicht innovativ waren. Hierfür hat sie auch Leitfäden entwickelt, die eine aktive Rolle der Kinder bei der Erforschung ihrer Lebensbedingungen und der Entwicklung von Aktionsprogrammen vorsehen (als Beispiel vgl. Save the Children 2004). Die International Terre des Hommes Federation hat zusam-men mit der deutschen NGO Kindernothilfe und dem kanadischen Zweig von Save the Children in den Jahren von 2015 bis 2017 unter dem Motto It’s time to talk in mehreren Kontinenten eine großangelegte Erhebung durchgeführt, an der mehr als 1.800 arbeitende Kinder teilnahmen (O’Kane, Barros & Meslaoui 2017). Ziel der Studie war, die Sichtweisen und Wünsche arbeitender Kinder zur Sprache zu bringen und sie auf der IV. Global Child Labour Conference der ILO im November 2017 in Buenos Aires zu präsentieren (siehe dazu Ka-pitel [IV]1). Die All India Working Group for Rights of Children in Contact with Railways, in der Vertreter*innen mehrerer indischer NGOs zusammenar-beiten, hat im September 2018 einen Report vorgelegt, in dem auf differen-zierte Weise die Situation der Kinder analysiert wird, die in Bahnhöfen und Zügen verschiedene Arbeiten ausüben (AIWG-RCCR 2018). Besondere Auf-merksamkeit wird der Agency der Kinder und der Verteidigung ihrer Rechte gewidmet.

Im Dokument Manfred Liebel Kindheit und Arbeit (Seite 33-37)