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„Durch die Form nämlich, welche die Verwirklichung des Stoffes ist, wird der Stoff zu einem wirklich Seienden und zu diesem bestimmten Etwas.“205

Thomas von Aquin

„Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler ‚Form‘ nen-nen, als Inhalt, als ‚die Sache selbst‘ empfindet.“206

Friedrich Nietzsche

„Ganz ‚Künstler‘, mache ich sogar die Form zum Inhalt.“207 Roland Barthes

Wohl kaum ein Romancier des 20. Jahrhunderts hat derart vehement „die Pri-orität der Form vor den Inhalten“ (WdD 163) postuliert, wie Doderer dies getan hat : „Wo keine Form ist, dort ist das Nichts.“ So spitzt er das, was er in seinem poetologischen Großessay „Grundlagen und Funktion des Romans“

(erschienen 1959 ; entstanden 1957–59) halbwegs systematisch entwickelt hat,208 in seinem „Repertorium“, dem „Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen“, aphoristisch zu (vgl. R 199). Wer die „Form“ nicht nur zu den höheren, sondern, wie man unschwer hören kann, zu den höchsten „Lebens-Sa-chen“ überhaupt zählt, der dürfte den einen oder anderen Hinweis darauf hin-terlassen haben, wie sie denn konkret beschaffen sein sollte, die besagte „Form“.

Bei einem derart dehnbaren Begriff, wie es derjenige der „Form“ ist, der ja laut Adorno den „blinden Fleck von Ästhetik“209 bilde, ist es natürlich von besonde-rem Interesse, was ein „Form“-Besessener darunter versteht und wie sich

die-205 Thomas von Aquin : Über das Sein und das Wesen. Deutsch-lateinische Ausgabe. Darmstadt 1961, S. 21.

206 Friedrich Nietzsche : Nachgelassene Fragmente 1887–1889. In : Sämtliche Werke ; Bd. 13. Mün-chen 1980, S. 9 f.

207 Roland Barthes : Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a.M. 1998, S. 221.

208 Rudolf Helmstetter verdanken wir den Hinweis darauf, dass sich zahlreiche Überlegungen aus „Grundlagen und Funktion des Romans“ „bereits in Texten der 30er Jahre und den Tagebüchern der 40er Jahre“ finden lassen. Vgl. Rudolf Helmstetter : „Die versteinernde Fülle fertiger Formen“. Sprache, Fiktion und Ornament bei Heimito von Doderer. In : Ralph Kray/

Kai Luehrs-Kaiser (Hg.) : Geschlossene Formen. Würzburg 2005, S. 110–123 ; hier : S. 112.

209 Theodor W. Adorno : Ästhetische Theorie. In : Gesammelte Schriften ; Bd. 7. Frankfurt a.M.

1970, S. 211.

Die Form 51 ses – wohl nicht zuletzt auch durch Oswald Spengler210 und Otto Weininger211 inspirierte – übermäßige „Form“-Bewusstsein in seinem literarischen Werk nie-dergeschlagen haben könnte.

Dass Doderers Formideal die Musik ist, dass er ihren ‚begriffs-‘ und ‚namen-losen‘ Möglichkeiten literarisch nachstrebt, darf inzwischen als bekannt voraus-gesetzt werden. Um seine musikliterarischen Bemühungen gebührend würdigen zu können, ist es daher notwendig, sich zunächst einmal mit den „mannigfal-tigen Verbindungen und Problemen von Sprache und Musik, Wort und Ton, Dichtung und Musik“212 vertraut zu machen (vgl. Kap. 3.1). Alsdann ist zu klä-ren, welche konkreten musikalischen Kenntnisse bei Doderer vorausgesetzt werden können (vgl. Kap. 3.2). Hernach steht die knappe Bekanntschaft mit Herkunft und Wesen des ‚musikalischen‘ Divertimentos an (vgl. Kap. 3.3). Die Beschäftigung wiederum mit der Genese des ‚literarischen‘ Divertimentos (vgl.

Kap. 3.4), wie sie sich aus Doderers weit verstreuten poetologischen Reflexio-nen rekonstruieren lässt, ist auch deswegen spanReflexio-nend, weil sie nebenbei über des Autors sich wandelndes Formverständnis aufklärt : Zunächst „einseitig die Bedeutung der Form“ hervorhebend,213 ohne dies allerdings dezidiert auszu-sprechen (Divertimento-Phase), gelangt Doderer über die Versuche mit einer eher stoff- und inhaltsbezogenen Literatur (seit Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre),214 wobei er allerdings immer wieder auf das frühere, mu-sikalisch inspirierte Formprojekt zurückgreift (die drei Versuche, ein siebtes Divertimento zu schreiben), zu der Forderung, dass eine „Identität von Inhalt und Form“ bestehen müsse (TB 1142, 21. 1. 1939), bzw. zu der nicht sonderlich neuen Erkenntnis, dass „die Form die Entelechie jedes Inhaltes“ sei (WdD 172).

Die Vehemenz, mit der er gleichzeitig die besagte „Priorität der Form vor den Inhalten“ (WdD 163) einfordert, soll nun offenbar darüber hinwegtäuschen, dass in seiner Literatur längst die Inhalte das Kommando übernommen haben.215 Ehe

210 Zur Inspiration durch Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“, „mit dem der Stu-dent Doderer 1922 schon bestens vertraut ist“, vgl. Loew-Cadonna, Vom Soda-Whisky zum Whisky-Soda, S. 62.

211 „Der Mann ist die Form, das Weib Materie.“ Otto Weininger : Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Im Anhang Weiningers Tagebuch, Briefe August Strindbergs sowie Beiträge aus heutiger Sicht v. Annegret Stopczyk, Gisela Dischner u. Roberto Calasso. Mün-chen 1997, S. 394.

212 Scher, Einleitung, S. 9.

213 Sören Kierkegaard : Entweder – Oder. Gesamtausgabe ; Bd 1. München 2005, S. 61.

214 „[Z]ur Prosa, ein Wort : jeder mit ihr gemachte esoterische Versuch wird sie bereichern und neu ernähren ; aber sie wird immer wieder in ihre Grundlage zurückschwirren, wenn man sie aus dieser gebracht hat“ (T 280, 15. 1. 1945 ; vgl. auch RE 188).

215 „Es ist ratsam, Doderer bei solchen Standard-Sätzen wie der ‚Priorität der Form vor den

In-Die Form

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ich einige abschließende Bemerkungen zum grundsätzlich Problematischen des Form-Begriffs nicht nur bei Doderer anfügen möchte, sei der Vollständigkeit hal-ber auf das abschließende Unterkapitel des Form-Abschnitts der vorliegenden Studie verwiesen, worin der theoretische Rahmen für die Analyse der spezi-fischen ‚musikalischen‘ Ausprägungen in den „Divertimenti“ gelegt wird (vgl.

Kap. 3.5).

Problematisch ist der Form-Begriff nicht nur bei Doderer vor allem deshalb, weil er einerseits eine Qualität rühmt, „ein gelungenes Werk, das Ziel einer Produktion und der Ausgangspunkt einer Komsumtion“,216 andererseits häufig eine Selbstverständlichkeit emphatisch beschwört, nämlich ein organisches Ganzes,

das aus der Verschmelzung verschiedener vorgängiger Erfahrungen (Ideen, Emoti-onen, HandlungsdispositiEmoti-onen, Materien, Organisationsmuster, Themen, Argumente, vorfixierter Stileme und Interventionsakte) entsteht.217

Bei Verwendung des Form-Begriffs in einem qualifizierenden Sinne ist noch immer nicht geklärt, was genau die gelungene Form auszeichnen könnte, auch nicht, weshalb gerade sie den Vorrang vor einer wie auch immer gearte-ten anderen genießen sollte. Wie widersprüchlich nicht nur der Form-Begriff allgemein,218 sondern speziell derjenige im Fall Heimito von Doderers ist, wird allein schon daraus ersichtlich, dass seine berühmtesten Werke, „Die Strudlhof-stiege“ (1951) und „Die Dämonen“ (1956), von den einen als formale Meister-stücke gefeiert, von den anderen hingegen als formlose Zufallsprodukte angese-hen werden. Während erstere, die in der Überzahl sind, die komplexen Strukturen rühmen, deren Kenntnisnahme erst den wahren Kunstgenuss bedeute,219 halten

halten‘ nicht ganz zu trauen, zumal die Entstehungsgeschichte aller seiner Schriften nachhaltig von der Auseinandersetzung mit diesen Inhalten tingiert ist.“ Wendelin Schmidt-Dengler : Das Verbrechen, die Verbrecher und der Autor als Leser. Zu Heimito von Doderers Romanfrag-ment „Der Grenzwald“. In : Einsätze, S. 246–262 ; hier : S. 252.

216 Umberto Eco : Das offene Kunstwerk. Frankfurt a.M. 1973, S. 14.

217 Ebd.

218 Einen guten Überblick darüber, „in einem wie hohen Grade verschiedenartige Angelegen-heiten mit diesen beiden Worten [Form und Inhalt, M.B.] benannt werden“, gibt Roman In-garden : Das Form-Inhalt-Problem im literarischen Kunstwerk. In : Helicon 1 (1938), H. 1–2, S. 51–67 ; hier : S. 63.

219 So bewunderte etwa Otto F. Beer, „wie sehr diese Monster-Epen [„Die Strudlhofstiege“ und

„Die Dämonen“, M.B.] Reißbrettarbeit waren, in wie hohem Grade Heimito von Doderer (1896 bis 1966) mathematische Konstruktionsprinzipien erdacht und hinterher mit erzähle-rischem Fleisch angereichert hat“. Otto F. Beer : Zweigprosa [sic] gegen Großroman. In : Die

Die Form 53 letztere – mit Martin Mosebach an der Spitze –220 dieselben Strukturen für keines-falls geplant,sehen in ihnen mitnichten geniale Konstruktionsleistungen, können vermutlich auch keinen Genuss aus ihnen ziehen.

Bei Verwendung des Form-Begriffs in einem aristotelischen Sinne müsste eigentlich davon abgesehen werden, dies als eine besondere Leistung zu be-werten, handelt es sich bei der ‚Erkenntnis‘, dass die Form, „aristotelisch ge-„aristotelisch ge-sprochen, nicht weniger als die Entelechie des Inhalts“221 sei, doch ‚lediglich‘

um eine logische Schlussfolgerung.222 Obwohl der Autor, hierin übrigens vor allem durch Thomas von Aquin beeinflusst,223 in späteren Jahren unter der Form nicht länger eine „Gußform für die Materie“ verstand, „sondern ein prä-gendes, zugleich sich selbst ausgestaltendes Prinzip“,224 drückt sich in seiner Wertschätzung dieses Zusammenhangs zweifellos weiter ein hohes Bewusst-sein davon aus, dass der Wert des Kunstwerks in Bewusst-seiner Gestaltung (Ausfor-mung) begründet liege. Die ständige Beschwörung jener „Einheit von Inhalt und Form“ (TB 1159, 26. 2. 1939), ohne dass ihr Wesen freilich jemals in einer

Zeit vom 23. Februar 1973. Ganz ähnlich spricht Michael Horowitz : „Für die Konstruktion der Romane galt immer das Prinzip der mathematischen Genauigkeit. Als Hilfe für die kompli-ziert gebauten Handlungsabläufe verwendete der Pedant Doderer Tafeln, graphisch gestaltete Entwürfe und vor allem die auf Reißbretter angehefteten ‚Kompositionsskizzen‘.“ Michael Ho-rowitz : Heimito von Doderer (Versuch einer Biographie). In : Begegnung, S. 131–188 ; hier : S. 168.

220 „Sagen wir es roh : was an Konstruktion in diesen Büchern erkennbar ist, wirkt derart an den Haaren herbeigezogen, derart verstiegen, unglaubwürdig, daß an dem notorischen Reißbrett allenfalls ein verrückt gewordener Hilfsingenieur tätig geworden sein kann, dem es nur darauf ankam, die närrische Idee, alles mit allem irgendwie zu verknüpfen, möglichst pedantisch und ohne Rücksicht auf Wahrscheinlichkeit und innere Logik abzuwickeln.“ Martin Mosebach : Die Kunst des Bogenschießens und der Roman. Zu den „Commentarii“ des Heimito von Doderer.

München 2006, S. 16.

221 Brief an Roman Czyzek (25. 10. 1962). Zit. nach einer Kopie des Originals im Doderer-Archiv, Wien.

222 Die Entelechie im aristotelischen Sinne ist „das Wachstum, die – organische, d.h. quasi voraus-geplante – Entwicklung zu den wesentlichsten Bestimmungen der (organischen) Struktur“.

Albert Wellek : Die Polarität im Aufbau des Charakters. System der konkreten Charakterkunde.

Dritte, neubearbeitete u. wesentlich erweiterte Auflage. Bern, München 1966, S. 64.

223 „Wenn ich aber sage, nur die Form sei schöpferisch und vermöge die Inhalte mit dem bitteren Gewürz der Dauer zu durchdringen und zu konservieren, dann verstehe ich allerdings unter Form nicht rein das, was der Römer darunter verstand, also äußeren Erscheinungsumriß, son-dern ich fasse das [sic] Vokabel im Sinne der Scholastik auf und würde den Satz des Konzils zu Vienne (1311) ‚Anima forma corporis‘ laienhaft zu übersetzen wagen : ‚Die Seele ist das Ge-staltungsprinzip des Leibes‘, oder ‚Seele gliedert den Leib‘.“ Heimito von Doderer : Das wahre Licht der Form. In : Freude an Büchern 3 (1952), H. 1, S. 80–81 ; hier : S. 81.

224 Vgl. Fleischer, Das verleugnete Leben, S. 295.

Die Form

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zufriedenstellenden Weise näher bestimmt würde,d.h. das stete Verlangen danach, die „Trennung von Inhalt und Form“ (WdD 117), die eine schädliche Errungenschaft des 19. Jahrhunderts sei, wieder aufzuheben, könnte darüber hinwegtäuschen, dass Doderer ein entschieden moderner Autor ist,225 dem es vor allem darum geht, formal spürbar,226 d.h. formal avanciert zu schrei-ben.227

Wie Doderer in dem zuletzt zitierten, 1946 entstandenen Aufsatz „Von der Unschuld im Indirekten“ erklärt hat, könnten „die wichtigsten Grundentschei-dungen des Lebens“ niemals nur „ein Direktes“ betreffen, „einen Inhalt, ein bloßes Was“, sondern immer müsste damit „auch eine formale Erheblichkeit gesetzt werden, ein Indirektes, ein Wie, ein jeder wirklichen Kunstleistung ana-loger Akt“ (WdD 125).228 Wer Sprache lediglich als Informationsträger begreife, wem es also selbstverständlich sei, „das Wort für einen Transport von Inhalten zu nehmen“ (WdD 114), wie dies dem „Geist des Positivismus“ (WdD 114) ent-sprechen würde,229 der habe als Künstler, dem es weniger auf die Mitteilung als auf den Ausdruck ankommen sollte,230 gründlich versagt (laut Doderer nahezu

225 So hat etwa Peter Bürger als eine der herausragenden Eigenschaften moderner Prosa genau das Gegenteil von dem ausgemacht, was Doderer verlangt, nämlich „die affirmativen Folgen des Postulats der Form-Inhalts-Identität zu durchbrechen“. Peter Bürger : Prosa der Moderne.

Unter Mitarbeit v. Christa Bürger. Frankfurt a.M. 1992, S. 56.

226 „Aber wie kommt man zu dieser Form ? Nur durch das Opfer aller bildungsmäßigen, mei-nungsmäßigen, anschauungsmäßigen und schon gar ideologischen Fixierungen, welche dem entscheidenden, dem grammatischen Zündschlag den Weg verlegen könnten. Also : Zurück-weichen ins Chaos, in die unterste Schicht, ins Ruppige, Namenlose, in jenes ‚höchst affektive Gebiet‘ […] : in diesem Sinne bin auch ich magischer Realist, meinetwegen Avantgardist“. Do-derer, Das wahre Licht der Form, S. 81.

227 Zu dieser Einschätzung kommt etwa auch Helmstetter, „Die versteinernde Fülle fertiger For-men“, S. 111 f.

228 Übrigens ganz im Sinne Niklas Luhmanns, der als spezifisches Kriterium der Moderne eine

„Beobachtung zweiter Ordnung“ konstatiert : „Sie stellt sich resolut von einer Was-Perspektive auf eine Wie-Perspektive um.“ Niklas Luhmann : Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.

1977, S. 163.

229 Wohin dies führe, hat Doderer wie folgt veranschaulicht : Das Wagnis des 19. Jahrhundert be-stehe darin, „das Wissen gleichsam außerhalb des Menschen zu deponieren, es zu kapitalisie-ren“ : „Im zwanzigsten Jahrhundert folgte dem Wissen das nach außen verlegte Gewissen. Die unmittelbaren Folgen sind bekannt.“ WdD 116.

230 „Die ideale Form der Mitteilung ist die Einheit von Inhalt und Form (Identität), also das Kunst-gebild. Es ist eine Mitteilung ohne Mitteilungsdrang, ein paradigmatischer Monolog, also ein Ausdruck. Dieser dringt nie gegen eine andere Person vor, verhält sich ganz passiv, und bildet nicht das eine Ufer einer Dialektik, welche auf die Gegenseite sich beziehen muss.“ TB 1159, 26. 2. 1939.

Die Form 55 alle Romanciers des 19. Jahrhunderts).231 Der ‚reinen‘ Kunst, dem l’art pour l’art, dem „Bewußtsein vom Sprachlichen als einer autonomen Kategorie“ (WdD 116), wird hier gar ein „eminent[ ] sittliche[r] Wert“ (WdD 116) zugeschrie-ben. Es wäre mehr der „indirekten und kurvenreichen Organik des Lebens“

(WdD 118 f.) gemäß, der Ausrenkung des 19. Jahrhunderts mit einer „Unschuld im Indirekten“ (WdD 119) gegenüberzustehen.232 Was hieraus konkret für den Künstler resultiert, hat Doderer erst in „Grundlagen und Funktion des Romans“

ebenso präzise wie unmissverständlich formuliert :233

Des Künstlers Schicksal ist letzten Endes ganz in seiner Technik enthalten, im tech-nischen Glück und Unglück : und nur dann ist er schicksalsgesund. Seine Arbeit wird gleichsam mit niedergeschlagenen Augen verrichtet – niedergeschlagen auf das Technische seiner Kunst – und das Höhere, was da im glücklichsten Falle vielleicht hinzugegeben wird : es ist für die anderen da. (WdD 157)

Oder, wie es der Autor in seiner unwiderstehlich kauzigen Art in einem Brief an Ernst Jandl einmal auf den Punkt gebracht hat : „[W]er in der Kunst nicht technisch was wagt, gehört auf den Mist“.234

231 Die Gedanken, die Doderer in seinem Essay „Von der Unschuld im Indirekten“ eher rätselhaft andeutet, finden sich präziser ausformuliert schon bei Oskar Walzel. Der berühmte österrei-chische Literaturwissenschaftler macht besonders in dem Kapitel „Wilhelm von Humboldt über Wert und Wesen der künstlerischen Form [1913]“ seiner Schrift „Das Wortkunstwerk“

(1926) ebenfalls den „Relativismus, der im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Geisteswissen-schaften sich immer kräftiger durchgesetzt hatte“, für den Verfall der künstlerischen Form verantwortlich. Schärfer noch als Doderer formuliert Walzel, „daß um 1800 der Formbegriff deutschen Denkern und Künstlern noch feststand. Nur im Fahrwasser einer immer materialis-tischeren Weltanschauung ging er uns fast verloren.“ Vgl. Oskar Walzel : Das Wortkunstwerk.

Mittel seiner Erforschung. Unveränderter reprografischer Nachdruck der ersten Auflage, Leip-zig 1926. Heidelberg 1968, S. 56–76 ; hier : S. 65 f.

232 „Die Indirektheit letzten Endes allein ist’s, was den Roman (als Kunstwerk) von aller zu ir-gendeinem Zwecke gebrauchten Prosa (als Kunstgewerbe) trennt. Kunstprosa – die Sprache als Material der Gestaltung – und Gebrauchsprosa – die Sprache als zweckvolles Vehikel eines nennbaren Themas – sind einander, geistesmechanisch genommen, entgegen gesetzt.“ CII 505, 27. 7. 1966.

233 In der „Innsbrucker Rede“, einer Vorstufe zu „Grundlagen und Funktion des Romans“, klingt das bereits an : „Das Technische versteht sich immer von selbst. Es bildet des Künstlers Mor-gen, Tag und Nacht. Sind seine geistesmechanischen Substruktionen wohlbeschaffen, ist er, um es konkreter zu sagen, schicksals-gesund, so wird ihm alles ins Technische eingehen.“ Heimito von Doderer : Innsbrucker Rede. Zum Thema Epik. In : Akzente 2 (1955), H. 6, S. 522–525 ; hier : S. 522.

234 Brief an Ernst Jandl (30. 9. 1966). Zit. nach einem Faksimile in Kristina Pfoser-Schewig (Hg.) : Für Ernst Jandl. Texte zum 60. Geburtstag. Werkgeschichte. Wien 1985, S. 72.

Die Form

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Wenn in der vorliegenden Arbeit von Form die Rede ist, dann stets in jener allgemeinen Bedeutung, die hier bereits angesprochen wurde.235 Mit dem Be-griff Form ist also ein organisches Ganzes bezeichnet, das aus der Summe ver-schiedenster Entscheidungen entsteht (vor allem kompositorischer und stilisti-scher Natur), die ein Künstler trifft (egal, ob er hierüber poetologisch reflektiert hat oder nicht),236 um einen Inhalt bzw. Stoff zu bewältigen. Quasi synonym hierzu kommt der Begriff der Struktur zur Anwendung :

eine Struktur ist eine Form nicht als konkreter Gegenstand, sondern als System von Relationen, von Relationen zwischen ihren verschiedenen Ebenen (der seman-tischen, syntakseman-tischen, physischen, emotiven ; der Ebene der Themen und der Ebene der ideologischen Inhalte ; der Ebene der strukturellen Beziehungen und der struktu-rierten Antwort des Rezipierenden ; usw.)237

Von einer tiefer gehenden Analyse des Form-Inhalt-Verhältnisses, deren Auf-gabe es wäre, die nach wie vor zahlreich bestehenden unauflösbaren Bezie-hungsrätsel zwischen diesen beiden, in unteilbarer Einheit existierenden Sei-ten der Dichtung zu klären, soll bewusst abgesehen werden.238 Wie bei so vielen Problematiken, die letztlich wohl unergründlich sind, droht nämlich auch demjenigen, den „dieser ganze Unsinn von ‚Form‘ und ‚Inhalt‘“ (RE 233) zu sehr beschäftigt, die Gefahr zu verzweifeln :

die Aufteilung nach Inhalt und Form ist […] ein ungelöstes Dilemma der neuzeitlichen Kunst ; sei es daß über eine eventuelle Vorrangigkeit diskutiert wird, sei es daß ihre

Ein-235 Zur Geschichte der ästhetischen Form vgl. Klaus Städtke : Form. Zur Geschichte eines ästhe-tischen Grundbegriffs. In : Kray/Luehrs-Kaiser (Hg.), Geschlossene Formen, S. 13–33.

236 Wie gesagt, steht bei Doderer der großen Menge an bloßen Behauptungen von Form eine ver-gleichsweise geringe Menge an konkreten Aussagen darüber gegenüber, wie sie denn eigent-lich beschaffen sein sollte, die viel beschworene Form. Den Aufsatz „Grundlagen und Funk-tion des Romans“ zum Maßstab nehmend, der ebenfalls nur spärlich Auskunft hierüber erteilt, läuft allerdings alles auf ein sozusagen musikalisches Operativprogramm hinaus. Wie Johannes Mittenzwei, der im Oktober 1959 in der Berliner „Urania“-Gesellschaft einem Vortrag von Doderer beigewohnt hatte, in einer Fußnote zu seinem Aufsatz „Die Beziehungen zwischen Musik und bürgerlicher Dekadenz in den Werken Thomas Manns“ festgestellt hat, basiert die Romantheorie Doderers vor allem auf der Idee, dass „die zukünftige Form bedeutender Prosa“ nicht so sehr durch Gedanken und Inhalte bestimmt werde, sondern vielmehr durch den „Zwang des Autors zu neuen technischen, insbesondere musikalisch-kompositorischen Mitteln“. Vgl. Johannes Mittenzwei : Das Musikalische in der Literatur. Ein Überblick von Gott-fried von Straßburg bis Brecht. Halle (Saale) 1962, S. 314–367 u. S. 547–550 ; hier : S. 549.

237 Eco, Das offene Kunstwerk, S. 14 f.

238 Vgl. hierzu etwa den Abschnitt „Gehalt und Gestalt“ in Seidler, Die Dichtung, S. 138–145.

Literatur und Musik – zwei Partnerkünste 57

heit betont wird, auf jeden Fall erlangt die zwiespältige Anschauung eine Bedeutung, die der Zweiheit von Autonomie und Spiegelung entspricht. Und so weiter : sowohl innerhalb der Form als auch des Inhalts tritt diese Spannung auf (innere Form, äußere Form, manifester und impliziter Inhalt usw.). Die Reihe findet kein Ende ; das Werk läßt sich immer weiter auseinandernehmen, ohne daß wir jemals zu einem Abschluß gelan-gen würden – lediglich die Enttäuschung ist es, die eine Steigerung erfährt.239

3.1 Literatur und Musik – zwei Partnerkünste

„Wie die Musik zu werden ist das Ziel jeder Kunst.“240 Arthur Schopenhauer

„Jede K[unst] hat mus[ikalische] Princ[ipien] und wird vollendet selbst Musik“241 Friedrich Schlegel

„die Sprache bleibt unbestritten das höchste musikalische Wunderwerk der Natur“242 Friedrich Nietzsche

„Was die Form betrifft, ist die Musik der Inbegriff aller Kunst.“243 Oscar Wilde

„Ein Künstler, dem nicht das Letzte seiner Kunst Musik ist, befindet sich im Puppenstadium.“244

Gerhart Hauptmann

„Und die Musik […] ist eines der wenigen wahrhaft magischen, wahrhaft zaube-rischen Mittel, über welche auch heute noch die Dichtung verfügt.“245

Hermann Hesse

239 László F. Földényi : Melancholie. Zweite, erweiterte Auflage. Berlin 2004, S. 158.

240 Arthur Schopenhauer : Neue Paralipomena. Vereinzelte Gedanken über vielerlei Gegenstände.

In : Handschriftlicher Nachlaß. Hg. v. Eduard Grisebach. Band 4. Leipzig o.J. [1930], S. 31.

241 Friedrich Schlegel : Literarische Notizen 1797–1801. Literary Notebooks. Hg., eingeleitet u.

kommentiert v. Hans Eichner. Frankfurt a.M. u.a. 1980, S. 151.

242 Friedrich Nietzsche : Nachgelassene Fragmente 1869–1874. In : Sämtliche Werke ; Bd. 7. Mün-chen 1980, S. 232.

243 Oscar Wilde : Das Bildnis des Dorian Gray. Zürich 1986, S. 6.

244 Gerhart Hauptmann : Kunst und Literatur. In : Sämtliche Werke ; Bd. VI : Erzählungen.

Theoretische Prosa. Frankfurt a.M., Berlin 1963, S. 1026–1035 ; hier : S. 1029.

245 Zit. nach Werner Dürr : Hermann Hesse. Vom Wesen der Musik in der Dichtung. Stuttgart

245 Zit. nach Werner Dürr : Hermann Hesse. Vom Wesen der Musik in der Dichtung. Stuttgart

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