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kindlichen Signale bei den meisten Eltern ein kontinuierlicher Lernprozess, der sich über die ersten Lebenswochen bis -monate erstreckt (siehe Kapitel 2).

Für die sich entwickelnde Bindungsqualität spielt dies keine Rolle – ent-scheidend ist vielmehr, dass Eltern die Signale ihres Kindes nicht dauerhaft fehlinterpretieren, zum Beispiel wenn es ihnen schwerfällt, sich in das Baby einzufühlen.25 Eine verzerrte, wenig objektive Wahrnehmung der kindlichen Signale entsteht oft dann, wenn Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Kinder zu Interpretationen neigen, die mehr ihren eigenen Wünschen, Stimmungen und Fantasien entsprechen als dem, was das Baby gerade im Moment zum Ausdruck bringt.

Die Herausforderung besteht darin, klar erkennen und trennen zu können, welche Gefühle, Bedürfnisse oder Erwartungen wir an das Kind in einer be-stimmten Situation haben, und welche Gefühle und Bedürfnisse das Kind mit seinem Verhalten in diesem Moment zum Ausdruck bringt.

GUT ZU WISSEN

Gelingt die Trennung eigener und kindlicher Bedürfnisse nicht …

• so besteht die Gefahr, dass Eltern, die selbst müde und erschöpft sind, das Quengeln des Kindes um Aufmerksamkeit als Müdigkeit interpretieren,

• könnten Eltern, die gerade unter Zeitdruck stehen, jede Verlang-samung des Essens beim Füttern als Sättigung interpretieren,

• oder könnten Eltern, denen es schwerfällt, die Bedürfnisse des Kin-des zu akzeptieren, das Verhalten Kin-des KinKin-des als aggressiv ihnen gegenüber oder als zu fordernd interpretieren.

Solche Verzerrungstendenzen haben ihre Ursache meist entweder in der aktuellen Überforderung mit einer Situation oder auch in eigenen negativen Bindungserfahrungen.26 Aber sie sind veränderbar, wenn man sie erkennt (siehe Kapitel 1 und 6). Die Signale der Kinder vergleichsweise objektiv und verzerrungsfrei wahrnehmen zu können, setzt also eine gewisse Einsicht in die eigenen Wünsche und Bedürfnisse voraus und ein Bewusstsein darüber,

dass das eigene Verhalten und die eigene Stimmung auch das Verhalten des Kindes beeinflussen kann.

Um zu erkennen, was das Baby gerade in diesem Moment braucht, müssen sich die Eltern zudem in das Baby einfühlen können und die Situation aus der Perspektive des Kindes betrachten. Gelingt das nicht, kann das beispielsweise dazu führen, dass Eltern nicht erkennen, wie schlimm eine Situation für das Kind in dem Moment gerade ist, und das Kind beispielsweise necken, damit es wieder gute Laune hat, oder es nachmachen, auslachen oder einfach igno-rieren.

Angemessen auf die Signale des Kindes reagieren

Angemessen bedeutet im Wesentlichen, dass die elterliche Reaktion immer die aktuelle Situation, den Entwicklungsstand des Kindes und die Persönlich-keit des Kindes berücksichtigen sollte. Zumindest im ersten Lebensjahr be-deutet dies, dem Baby möglichst immer das zu geben, was es seinen Äuße-rungen nach gerade möchte. Mary Ainsworth beschrieb dies folgendermaßen:

»Sie (gemeint ist die Mutter, soll heißen die Eltern, Anm. der Autorinnen) ant-wortet sozial auf seine (des Kindes) Versuche, eine soziale Interaktion zu begin-nen, und spielerisch auf seine Versuche, ein Spiel zu beginnen. Sie nimmt es auf, wenn es so aussieht, ob es sich das wünscht, und setzt es ab, wenn es explorieren will. Wenn es verzweifelt ist, weiß sie, welche Art und welches Ausmaß an Trost es braucht, um sich wieder wohlzufühlen – und sie weiß, dass manchmal nur ein paar Worte oder Ablenkung alles sind, was es braucht. Wenn es hungrig ist, sorgt sie dafür, dass es bald etwas zu essen bekommt, und sie gibt ihm vielleicht eine Kleinigkeit zu essen, wenn sie ihm seine regelmäßige Mahlzeit noch nicht sofort geben will. Auf der anderen Seite versucht eine Mutter, die unangemessen antwortet, mit dem Baby in soziale Interaktion zu treten, wenn es hungrig ist, mit ihm zu spielen, wenn es müde ist, oder es zu füttern, wenn es versucht, mit ihr eine soziale Interaktion zu beginnen.« 27

Ab dem zweiten Lebensjahr kommt es auch vermehrt zu Situationen, in de-nen Eltern den Wünschen des Kindes nicht mehr uneingeschränkt

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zwischen einerseits der Notwendigkeit, manchmal auch Grenzen zu setzen und gegen den Willen des Kindes zu entscheiden, und andererseits der Ge-fahr, dem Kind den eigenen Willen aufzudrängen, gegen seine Bedürfnisse zu handeln und es zu Unterordnung und Gehorsam zu erziehen.

Das Thema »Grenzen setzen« wird in den Kapiteln 3 und 4 noch weiter the-matisiert – wichtig ist dabei vor allem, Grenzen im Sinne des Kindes zu set-zen, sodass seine emotionalen Grundbedürfnisse dabei so wenig wie möglich verletzt werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Angemessenheit besteht darin, Situatio-nen klar zu strukturieren, sodass die Interaktion für das Kind nachvollziehbar, abgerundet und vollständig ist – zum Beispiel das Kind nach einem Schreck so lange auf dem Arm zu behalten und zu trösten, bis es sich wieder erholt hat. Die Eltern können das daran erkennen, dass es von sich aus seine Auf-merksamkeit wieder auf andere Dinge lenkt und sich selbst beschäftigt. Erst dann ist ein »sicherer Interaktionszyklus« abgeschlossen. Weniger feinfühli-ges Verhalten zeigt sich beispielsweise darin, dass Eltern das Kind zu früh ab-setzen und zum Spiel ermutigen oder dass sie in schneller Abfolge eine Viel-zahl von Strategien oder Lösungsmöglichkeiten ausprobieren, was beim Kind Unsicherheit und Verwirrung auslösen kann.

Prompt auf die Signale des Babys reagieren

Dies ist ein weiterer wichtiger Aspekt der elterlichen Feinfühligkeit, denn (ge-rade für sehr kleine) Babys ist es wichtig, einen Zusammenhang zwischen ei-gener Mitteilung und Reaktion der Eltern zu erkennen. Nur so lernt es, sich selbst als kompetent und selbstwirksam wahrzunehmen. Auch wenn das Baby sich noch nicht selbst trösten kann, wenn es Kummer hat oder sich nicht selbst etwas zu essen holen kann, wenn es Hunger hat, lernt es, dass es durch

Je jünger das Baby, desto schneller