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Das Geplante und Inszenierte erscheint als ein maßgebliches Kennzeichen zur Unterscheidung von Feier und Fest. Daraus wiederum entsteht der Unterschied in den Bewusstseinszuständen, der bei der Feier über das bedeutsame Handeln das Bewusstsein bewirkt, bedeutend zu sein. Geschichte und Tradition sind dabei entscheidende Bedeutungsträger. Dem gegenüber steht das spontan ent-zündbare Festgefühl.

Trotz aller Gegensätzlichkeiten gibt es Überschneidungen, Grenzpunkte, an denen aus dem einen das andere wird und umgekehrt oder wo beides zur gleichen Zeit am gleichen Ort existiert.

Dieses Kapitel widmet sich den Veranstaltungen, die durch Planungs- und Traditionsimpulse entstehen. Sie sind als Ausdruck von Geschichts- und gesellschaftlichem Klassenbewusstsein allgemeinen Erwartungen ausgesetzt, deren Erfüllung schließlich eine alltagsstärkende, identitätsversichernde Bestä-tigung liefert oder liefern soll.

Besonders interessant erscheinen hierbei die Grenzpunkte zur festlichen Gestimmtheit wie die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung von Erwartungshaltungen.

Dabei entscheidet nicht nur der Rahmen des Festes, sondern auch die insze-nierenden und erlebenden Figuren, wie auch der ‘festliche Raum’, vor allem aber die Haltung des Erzählers maßgeblich über den Grad von Feier- und Festlichkeit der Veranstaltung.

2.1.1 Bälle, Diners, Soupers, Gesellschaften – Rituale des ‘gehobenen Daseins’?

Diese Form des gleichrangigen Verkehrs im Zusammensein auf Festen machte das eigent-liche Leben der Vornehmen aus. In ihnen genoß man die Erhebungen des Daseins[.]83 Bälle, Diners, Soupers und Gesellschaften sind Veranstaltungsformen, die – nicht zuletzt wegen der notwendigen Finanzmittel – vorrangig in der Welt des vermögenden Adels und der Hautefinance anzutreffen sind und somit

83 Richard Hamann / Jost Hermand: Gründerzeit, München: 1971, S. 148.

tiniert für die Welt des ‘Romans der guten Gesellschaft’ erscheinen. Peter Demetz, der diese Romanform an Fontanes Erzählungen untersucht hat, stellt dementsprechend fest, dass „die Architektur der Fontaneschen Romane […] in überraschender Häufigkeit von den Erzählphasen des festlichen ‘Dîners’ und der

‘Landpartie’ bestimmt“84 sei. Ähnlich, wenn auch weiter zugespitzt, dominiert das gesellige Ritual das Leben von Keyserlings Adeligen. Gruenter etwa meint:

alle Mitglieder der Schloßgeschichten begegnen uns in der Doppelrolle und im Rol-lentausch von Wirt und Gast. Gäste, Gastlichkeit, Bewirtung, ‘organisierte’ Ab-wechslung, bestimmen das Geselligkeitssystem von Wirt und Gast, das gleichsam im

‘Gesamtkunstwerk’ des Festes gipfelt. 85

Beide Autoren nutzen dieses ‘Kunstwerk’ so in besonderer Weise zur Darstellung ihrer ‘Gesellschaften‘.

Kompositorisch sind große Feste, sprich Bälle, bei Fontane erst im Verlauf der Erzählung platziert und erscheinen – wenn nicht als direkte Wendepunkte – als Hervorhebung unterschwelliger Veränderungen oder Zustände. Das Diner steht hingegen für gewöhnlich am Anfang einer Erzählung und dient der Exposition der erzählten Welt wie des handlungsbestimmenden Konflikts, der bei eben diesem Diner seinen Anfang nimmt. Die narrative Ausgestaltung der Festlichkeiten ist bei Fontane dabei vornehmlich durch das szenische Element und die Aufgliederung der Erzählphasen gekennzeichnet. Tisch- und Nachge-spräche spiegeln so die behandelten Themen aus verschiedenen Blickwinkeln und lassen sie daher multiperspektivisch relativiert erscheinen.

Deutlicher im Zeichen des Wendepunkts ist das Fest bei Keyserling angelegt.

Es führt Entwicklungen einer Entscheidung oder einer Zuspitzung zu. Zudem ist der vorausweisende Aspekt bei Keyserlings Geselligkeiten besonders stark aus-geprägt und präsentiert sich bei den untersuchten Anlässen auf verschiedenen Ebenen: erstens als eine gesellschaftliche Entwicklung, die die dargestellte soziale Schicht in ihrem Fortbestand und in ihrer Authentizität thematisiert.

Zweitens als eine Entwicklung figurativer Beziehungen, erotischer oder ehelicher Natur oder – wie meist – einer Verquickung von beidem und drittens als eine kathartische Entwicklung, die die Festinszenierung in eine verhängnis-volle Realität umdeutet oder in ihrer Künstlichkeit offenlegt.

84 Peter Demetz: Formen des Realismus: Theodor Fontane, Kritische Untersuchungen, München: 1964, S. 139. Mit dieser Aussage verweist Demetz auf frühere Beobachtungen von Gottfried Kricker wie von Mary-Enole Gilbert.

85 Gruenter: Schloßgeschichten Keyserlings, S. XV.

Beide Autoren stellen bei den Festlichkeiten Repräsentations- und Begegnungsbedürfnisse der Figuren in den Vordergrund, während Unterhaltungs- und Ablenkungsbedürfnisse an zweiter oder – vornehmlich bei Fontane – unbedeutender Stelle rangieren. Dabei gilt für die untersuchten Erzählungen die verallgemeinernde Formel: Je geringer der Repräsentations-anspruch der Festlichkeit, desto größer sind emotionale Hochgestimmtheit und Vergnügen.

Die Fokalisierung der Festteilnehmer handhaben die Autoren wiederum gegensätzlich. Fontanes Erzählungen verwehren meist eine Sicht in das Innere der Figuren, während Keyserling gerade diese Innensicht in den Vordergrund rückt. Zudem besteht ein aufschlussreicher Unterschied in der Folgewirkung der Feste: Fontanes Geselligkeiten setzen einen Konflikt in Gang oder bleiben gänzlich folgenlos, während für Keyserlings Figuren der auf das Fest folgende Alltag meist nicht leichter, sondern schwerer zu ertragen ist. Das Fest hat bei Keyserling so – entgegen allgemeiner Feststellungen der Festforschung – eine Negativ-Wirkung auf den Alltag.

Zum Beleg und zur Illustration vorgenannter Ergebnisse ist angesichts der Fülle der feierlichen und festlichen Geselligkeiten in den untersuchten Erzählungen das Treffen einer begrenzten Auswahl unerlässlich. Sowohl bei Fontane, dem Erzähler von Landpartie und Diner als auch bei Keyserling, dessen Landadel bereits jedes ‘gewöhnliche’ Diner als Festakt zelebriert, soll im Folgenden daher versucht werden, einen Querschnitt durch Gesellschaftsschichten und Veranstaltungsformen zu geben. Dazu werden betrachtet: die Silvesterbälle in L’Adultera, Effi Briest und Mathilde Möhring, die Bälle in Beate und Mareile und Prinzessin Gundas Erfahrungen und Soiree und Ball in Vor dem Sturm. Weiter das Souper in Abendliche Häuser und die Diners in Dumala, Der Stechlin und Frau Jenny Treibel und schließlich die Gesellschaften in Vor dem Sturm und Stine, eine Geburtstagsgesellschaft in Die Dritte Stiege und ein Tanzabend in Fräulein Rosa Herz.

2.1.1.1 Soiree und Ball

Bei Fontane bewegt sich die Erzählung des „Gesellschaftsrituals“86 zwischen einer auffälligen Kürze, die nur wenige Sätze beansprucht und einer nicht minder auffälligen Länge von mehreren Kapiteln. Dabei ist die deutliche Mehr-heit seiner ‘großen’ Feiern (Soiree und Ball) von der ‘kleinen’, sprich kurzen Darstellung betroffen. Gryczinskis Silvesterball in L’Adultera etwa füllt nur knapp eine Buchseite und wird durch die Kennzeichnung als „kleine[r] Ball[]“87 zudem in seiner Bedeutsamkeit reduziert, ja sogar mit einem Adjektiv des Alltäglichen versehen. Der Ball wird damit – zumindest auf den ersten Eindruck – narrativ88 wie semantisch als Alltag behandelt.

Einziger Inhalt der Ballschilderung ist die Bewertung Melanies als „die Schönste“.89 Das geschieht allerdings aus der Sicht ‘unbekannter’ Offiziere, was die Veranstaltung wie die Bewertung gleichsam mit dem Eindruck von Fremd-heit und Distanz belegt. Thematisch bezieht sich die Ballschilderung vor allem auf das außereheliche Liebesverhältnis zwischen Melanie und Rubehn. Dabei erhält die Festlichkeit vor allem über die Ballblumen, die Rubehn für Melanie ausgewählt hat, eine vorausweisende Funktion, die auch die Kapitelüberschrift

„Entschluss“ 90 vermittelt. Die rote ‘Granatblütengarnitur’ steht gleich in einem mehrfachen Kontext: Erstens verleiht Melanie unbeobachtet und daher in-offiziell ihrem Liebhaber Rubehn mit der Aufgabe der Blumenauswahl die offizielle Rolle ihres ‘Ballherrn’, wodurch der Ehebruchskonflikt hinsichtlich Heimlichkeit versus Öffentlichkeit thematisiert wird. Zweitens zeigt sich in der von Melanie erwarteten und von Rubehn tatsächlich getroffenen Wahl der Granatblüten eine gegenseitige Kenntnis und Übereinstimmung, die im Kontrast zu der Gegensätzlichkeit zwischen Melanie und van der Straaten steht. Drittens

86 Demetz: Fontane, S. 140.

87 L’Adultera, Bd. 2, S. 90.

88 Unter dem Aspekt der Dauer zeigt Genette das Summary oder die summarische Erzählung als „den normalen Übergang zwischen zwei Szenen“, „den ‘Hintergrund’“, „mithin das Bindegewebe par excellence der Romanerzählung“. Auf das Phänomen Alltag bezogen, ließe sich schlussfolgern, dass diese „Reduktion der Erzählung“ als Zusammenfassung von belanglosen Ereignissen den Eindruck von Alltäglichkeit erzeugt, so wie die iterative Erzählung durch die abstrakte Zusammenfassung von Wiederholungen. Iteration betont also den Wiederholungs-, sprich Gewohnheitsaspekt des Alltags, Summary dessen Gewöhnlich-keit. Vgl. Genette: Die Erzählung, S. 69f.

89 L’Adultera, Bd. 2, S. 90.

90 Ebd., S. 88.

erscheint mit der Beschreibung Melanies während des Balles als „‘[…] Pracht-kopf mit den Granatblüten […]’“ ein Verweis auf Rubehn. In diesem Zusammenhang fällt ihr „Lachen“91 auf dem ‘neutralen Boden’ des Ballsaals auf, das mit Melanies leidendem Zustand in van der Straatens Einflussbereich vor und nach dem Ball deutlich kontrastiert. Viertens wird dem ‘Granat’ eine Vielzahl von Wirkungen zugesprochen, die in bezeichnender Weise zu Melanies Situation stimmen und auf eine gemeinsame Zukunft der Liebenden hindeuten:

Der Granat soll Geister austreiben, neue Energie spenden, um sich gegen Mutlosigkeit und Enttäuschungen durchzusetzen. Des weiteren ist er bekannt, gegen Herz- und Gemütskrankheiten zu helfen und man soll mehr Stärke und Selbstvertrauen aus-strahlen. Der Granat soll helfen Krisen zu überwinden, indem er Widerstandskraft, Ausdauer und Durchhaltevermögen stärkt. Man sagt er löse Hemmungen und Tabus und er soll dynamisch und kreativ machen.92

Damit trägt der Ball den Keim einer Veränderung des Alltags in sich, wobei der

‘Keim’ allerdings weniger aus dem Fest an sich als aus Melanies Gefühlslage resultiert. Der Ball fungiert in diesem Sinne eher als ‘Treibhaus’, das den Keim sich entwickeln lässt, weil in ihm als Traumwirklichkeit die Ehe entgrenzt und der Geliebte in der Rolle des ‘legitimen (Ball-)Herrn’ erlebt werden kann.

Melanie gewinnt aus dem Fest so mehr den Impuls für einen veränderten, neuen Alltag als eine Stärkung für den gewohnten Alltag.93

In Effi Briest schildert Fontane noch zur ‘Kessiner Zeit’ zwei Silvesterbälle.

Ersterer wird angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung abermals in erstaun-licher Kürze abgehandelt:

Der Silvesterball hatte bis an den frühen Morgen gedauert, und Effi war ausgiebig be-wundert worden, freilich nicht ganz so anstandslos wie das Kamelienbukett, vom dem man wußte, daß es aus dem Gieshüblerschen Treibhause kam. Im übrigen blieb auch nach dem Silvesterball alles beim alten, kaum daß Versuche gesellschaftlicher An-näherung gemacht worden wären, und so kam es denn, daß der Winter als recht lange dauernd empfunden wurde.94

91 Ebd., S. 91.

92 http://www.naturalgems.de/granat.html, Zugriff am 29.12.2008.

93 Nach dem Ball leidet Melanie unter dem folgenden Alltag umso mehr und umso dringender wird ihr Wunsch nach Veränderung: „Ja, Melanie lachte wirklich. Aber wer sie die folgenden Tage gesehen hätte, der hätte die Beauté jenes Ballabends nicht wiedererkannt, am wenigsten wär’ er ihrem Lachen begegnet. Sie lag leidend und abgehärmt, uneins mit sich und der Welt, auf dem Sofa“ und „und sie schluchzte und jammerte, daß sie dieses Lügenspiel nicht mehr ertragen könne. ‘Steh mir bei, hilf mir, Ruben, oder du siehst mich nicht lange mehr. Ich muß fort, fort, wenn ich nicht sterben soll vor Scham und Gram“ (L’Adultera, Bd. 2, S. 91 u. 92).

94 Effi Briest, Bd. 4, S. 101.

Ähnlich wie in L’Adultera dient der Ball als Spiegelrahmen, in dem die Gesell-schaft als Spiegel und die weibliche Hauptfigur als zu spiegelndes Subjekt erscheinen. In narrativer Hinsicht unterstreicht dabei der rein externe Fokus gegenüber den Frauen die Bedeutungslosigkeit des individuellen Gemüts-zustandes für das Gesellschaftsritual, das stellvertretend für die gesellschaftliche Ordnung an sich steht.

Die ‘ausgiebige Bewunderung’ Effis wird durch den Kontrast zu der

‘anstandslosen Bewunderung’ des Kamelienbuketts als Summe nur ritueller Gesellschaftsphrasen entlarvt und das ‘freilich’ lässt die ‘Beanstandung’ Effis in einem Licht der Selbstverständlichkeit erscheinen. Das wiederum deutet auf die Deplatziertheit Effis an der Seite Innstettens (und) in dem provinziellen Kessin und auf eine Zwangsläufigkeit der daraus folgenden gesellschaftlichen Reaktion.

Des Weiteren auffällig ist der Verweis auf die Folgenlosigkeit des Balles.95 Sie steht in direktem Widerspruch zu der vielfach konstatierten Funktion von Festlichkeit, den folgenden Alltag erträglicher zu machen. In dem Leben von Effi hat der Silvesterball nichts verändert. Damit erfährt der Ball eine Ein-gliederung in das Alltägliche und Gewöhnliche, anstatt sich von dem Alltag ab-zuheben. Er entbehrt jeder Bedeutung für Effi und die Geselligkeitsfunktion der Veranstaltung dient vielmehr der Sichtbarmachung ihrer (gesellschaftlichen) Isolation.

Diese tritt auf dem zweiten Ball umso deutlicher hervor, als dass Effi nicht tanzt, sondern „ihren Platz bei den alten Damen“96 einnimmt. Walter Salmen meint dazu: „Ihre Tanzverweigerung kann als ein deutliches Zeichen der Entfer-nung aus den sozialen Netzwerken ihres Gatten gedeutet werden“.97 Stimmig ist die Ballschilderung auf ein Gespräch über ‘Anfechtungen’ zwischen Effi und

95 Eine ähnliche Beobachtung lässt sich in Vor dem Sturm machen, wo ein Silvesterball mit all seinen Spuren und Auswirkungen keine 24 Stunden später von dem Alltagszustande komplett getilgt ist: „In dem ‘Wieseckeschen Saal auf dem Windmühlenberge’, in dem erst am Abend vorher der große Silvesterball stattgefunden hatte, waren am Neujahrstage wohl an hundert Stammgäste mit ihren Frauen und Kindern versammelt. Alles war wieder an seinem alten Platz, und auf derselben Stelle, wo sich vor kaum vierundzwanzig Stunden die Paare gedreht hatten, standen jetzt, als ob der Ball nie stattgefunden hätte, die grüngestrichenen, etwas wackeligen Tische mit den vier Stühlen drum herum; und zwischen den Stühlen und Tischen, hin und her und auf und ab, preßte sich eine Schar von Verkäufern, die hier seit vielen Jahren heimisch und fast ein zugehöriger Teil des Lokals geworden waren“ (Vor dem Sturm, Bd. 3, S. 309f.)

96 Effi Briest, Bd. 4, S. 165f.

97 Walter Salmen: „‘Am Sylvester war Ressourcenball …’, Tänze und Bälle bei Theodor Fontane“, in: Fontane Blätter 88, Berlin: 2009, S. 104-126, hier S. 120.

der Ritterschaftsrätin von Padden reduziert. Es ist auch nicht Innstetten, der zu einem Gespräch an den Tisch tritt, sondern Crampas, dessen Verhältnis mit Effi nur wenige Tage zuvor seinen Anfang genommen hat. Der Ball fungiert damit als eine Art Krisenbarometer der Geschichte. Indem Effi sich vom gesell-schaftlich akzeptierten Festlichkeitserleben (Tanz) separiert, wendet sie sich gegen die Rolle der jungen Ehefrau. Weder repräsentiert sie, noch partizipiert sie und zeigt dadurch, wenngleich in sehr gemäßigter Form, einen Trotz gegen die ihr gesellschaftlich aufoktroyierte Rolle.

In Mathilde Möhring schließlich erscheint der Ball weniger als Zuspitzung einer Situation, denn als Wendepunkt der Geschichte. Mathilde, der in der Rede des Landrats „‘[…] Muck, Rasse, Schick […]’“98 zugesprochen wird, kann einen Erfolg nach dem anderen verzeichnen, zählt sich selbst gar zu den ‘oberen Zehntausend’.99 Ihr verträumter Ehemann Hugo hingegen beneidet bei der

„Theateraufführung“ am Silvesterabend seinen Freund Rybinski, den Schau-spieler. „Hugo hätte gern mitgespielt, mußte aber verzichten, weil es sich nicht passe“.100 Gegen Ende des Balles geleitet er den Landrat und dessen Frau bis zu ihrem Schlitten, erkältet sich dabei und fiebert schon eine Stunde später

„furchtbar“.101 Die Erkrankung führt schließlich, nach vorübergehender und nur scheinbarer Genesung, zu Hugos Tod.

So mag man folgern, dass das Begleiten des ländrätlichen Paares als Be-standteil eines gesellschaftlichen Rituals und damit die Anforderungen der Gesellschaft das sind, was Hugos Leben gefordert hat. Schon vorher hat Hugo auf diesen gesellschaftlichen Zwang mit einer inneren Abwehr reagiert, für die seine Krankheiten ein deutliches Indiz sind. Ähnlich Choluj stellt fest:

Zweimal in seinem Leben wird er [Hugo] schwer krank: Zuerst vor dem Examen und dann als Bürgermeister nach einem großen Empfang, bei dem er seine alten Träume vom Theater verdrängen mußte. Diese Momente zeugen davon, daß Fontane das Motiv der Krankheit wieder sehr gezielt einsetzt. Hugos Krankheiten können als eine Flucht vor einem Leben zu verstehen sein, zu dem er sich verpflichtet und in dem er sich überfordert fühlt.102

Der Silvesterball vereinigt damit in sich Höhepunkt und Niedergang von Mathildes Erfolgsgeschichte und deutet zugleich auf die Position der Frau hin,

98 Mathilde Möhring, Bd. 4, S. 657.

99 Vgl. Mathildes Ausführungen ebd., S. 656.

100 Ebd.

101 Ebd., S. 657.

102 Choluj: Alltag als Enge, S. 121.

deren gesellschaftlicher Aufstieg in vollkommener Abhängigkeit zum Mann steht. Mathildes eigene Berufswahl, die sich an den Tod ihres Mannes an-schließt, knüpft an die durch den Tod ihres Vaters verhinderte Ausbildung an.103 Als Deutungsmöglichkeit ließe sich darin eine Wiederherstellung der ursprüng-lichen Ordnung sehen, als deren regulierende Kraft der Ball, dann als Feier, erschiene.

Die Ballschilderung, die bei Mathilde Möhring abermals mit nur einer Buch-seite sehr knapp gefasst ist, wird im Unterschied zu den anderen Silvesterbällen (Effi Briest, L’Adultera) in seinem Ablauf gegeben: Eröffnet wird der Ball von Hugo und der Landrätin mit einer ‘Polonaise’. Um ein Uhr wird der Tanz „auf eine Stunde“ für das Souper unterbrochen und „gegen den Schluß hin“, tanzt Hugo noch eine ‘Radowa’ mit der Landrätin.104 Diese Details werden jedoch nur in wenigen Sätzen gegeben und verweisen in ihrem zusammenfassenden Charakter eher auf erzählte Alltäglichkeit als auf das singulativ Besondere.

Gesteigert wird dieser Eindruck durch die szenischen Reden von Mathilde und dem Landrat. Mathilde redet von Politik, zitiert eine Rede des Landrats und macht so einen tiefen Eindruck auf denselben, den er Hugo gegenüber auch verbalisiert. Als Bühne für Mathildes ehrgeizig berechnendes Schaffen ist der Ball damit eher potenzieller Werktag. Darauf allein lenkt der der Erzähler den Blick. Ganz richtig bemerkt Salmen, dass Tanzveranstaltungen „mit ihren differenzierenden Gesellschaftsritualen“ für Fontane mehr bedeuteten „als das Wohlergehen, ein Lustgewinn und glitzernder Sinnenrausch“.105 Tatsächlich scheint der Ball als rauschendes Fest bei Fontane kaum relevant zu sein.

Vielmehr geht es um den Einzelnen in seinem gesellschaftlichen Gefüge und die Festlichkeit dient dabei lediglich der Zusammenführung des Kollektivs, um eben diese Verhältnisse abzubilden:

Das Wechselspiel von Sehen (‘Tanzensehen’) und Gesehenwerden machte den Reiz der Teilnahme an Tanzveranstaltungen aus, in den Ballsälen entschieden sich persön-liche und politische Geschicke.106

Stimmig zu dieser zurückhaltenden Festlichkeitsdarstellung ist auch der Anlass Silvester nicht eindeutig bestimmbar. Silvester ist sowohl ein sich jährlich wiederholender Feiertag (= Feier) wie als Übergang zwischen den Jahren ein

103 Vgl. die Aussage der Mutter: „‘[…] un wenn dein Vater länger gelebt hätte, wärst du jetzt Lehrerin, wie du’s wolltest […]’“ (Mathilde Möhring, Bd. 4, S. 589).

104 Ebd., S. 656f.

105 Salmen: Tänze und Bälle bei Fontane, S. 106.

106 Ebd., S. 104.

Grenzübergang (= Fest). Daneben unterstreichen die Veranstaltungsform ‘Ball’

als Tanzveranstaltung107 wie auch die üppig exotischen Ballblumen von Melanie und Effi zunächst eine etwaige festliche Prägung des Ereignisses. Doch wird durch Fontanes summarische Erzählung und die als Gesellschaftsecho und

‘Arbeit’ angelegten szenischen Einschübe wiederum eher auf Alltag und Werk-tag verwiesen.

Die einzige ausführliche Ballschilderung in Fontanes Erzählungen erscheint bezeichnenderweise aus der Perspektive eines Gastes, dessen Verfassung durch

„Mißstimmung“108 und „Kopfweh“109 gekennzeichnet ist. Lewin von Vitzewitz ist von der Einladung zum vierten Januar wenig begeistert, weil sie seinen Vor-stellungen von einem Abend als „häusliche[m] Idyll“110 zuwiderlaufen. Sowohl das ungewöhnliche Datum der ‘Soiree’ – vier Tage nach dem üblichen

‘Silvesterballtermin’, zudem ein Montag – wie auch die kurzfristige Einladung111 kontrastieren mit Fontanes anderen Festlichkeiten und betonen so den Ausnahmecharakter des Festes nicht nur als Ausnahme vom Alltag, sondern auch als Ausnahme von den im geschichtlichen Kontext stehenden Feiern.

Ebenso steht die umfassende Schilderung, die das ganze fünfte Kapitel „Soiree und Ball“112 einnimmt, den kurzen Erwähnungen der Silvesterbälle entgegen.

Nachdem Lewin das Entree durchquert hat, dessen Besonderheit von dem Erzähler in einer Lewin angepassten ‘anti-festlichen’ Haltung bestritten wird („Es war im übrigen ein Entree wie andere mehr“113), betritt er das Arbeits-zimmer des Geheimrats,

das aber heute, um es als Gesellschaftsraum mitverwenden zu können, eine voll-ständige Umgestaltung erfahren hatte. Wo sonst das Windspiel und die Goldfischchen ihre bevorzugten Plätze hatten, standen Blumenkübel mit eben damals in die Mode gekommenen Hortensien, während vor den hohen, jeder Wegschaffung spottenden Aktenrealen dunkelrote, mit einer schwarzen, griechischen Borte besetzte Gardinen gespannt worden waren. Nur das Bild der Frau von Ladalinski war geblieben. Der große Schreibtisch hatte einem vielfarbigen Diwan und einer Anzahl zierlich

107 Bollnow bemerkt, dass am Tanz „das Wesen des Festlichen am reinsten zum Ausdruck“

komme (Bollnow: Anthropologie des Festes, S. 226f).

108 Vor dem Sturm, Bd. 3, S. 355.

109 Ebd., S. 356.

110 Ebd., S. 355.

111 Vgl. den Brief Tubals: „erst vor wenigen Stunden geschrieben […] ‘4. Januar. Seit vorgestern abend sind wir wieder hier. Papa, der uns schon früher von Guse zurückerwartet hatte, hat auf heute (Montag) eine Soiree angesetzt. […]’“ (Ebd., S. 355).

112 Ebd., S. 353-366.

113 Ebd., S. 356.

goldeter Ebenholzstühle Platz gemacht, die sich um einen chinesisch übermalten Tisch gruppierten.114

In der Schilderung des Zimmers zeichnet sich eine deutliche Veränderung des alltäglichen Zustands ab. Funktionale Alltagsmöbel und -gegenstände wurden

‘verhängt’ oder ‘weggeschafft’ und durch eine festliche Dekoration ersetzt. Die

‘eben damals in Mode gekommenen Hortensien’ verweisen zudem auf Zeitgeist und Modernität der Veranstaltung, die so – wie bereits über das Datum – von traditionellen und geschichtlichen Bezügen gelöst ist. Demgemäß wurde für diesen Abend ein enormer Aufwand betrieben, der auf festliche Verausgabung und Verschwendung hinweist und sich unter anderem in einem „Livreediener, augenscheinlich für diesen Abend nur eingekleidet“115 zeigt.

Bei dieser festlichen Umgestaltung fällt der einzige Gegenstand, der im Zimmer des Geheimrats verblieben ist, zwangsläufig auf: das Bild der Frau von Ladalinski. Als einziges Objekt, das sowohl den Alltagsraum als auch den Festraum kennzeichnet, nimmt das Bild einen symbolhaften Charakter für das Romangeschehen an. Es deutet auf den „rätselhaften Zug der Natur“, der Ladalinski darin hindert, seine Frau, die ihn wegen eines anderen Mannes verließ, zu vergessen und vielleicht ebenso daran hindert, das Bild für die Fest-dekoration zu verhängen, umzudekorieren oder zu entfernen.

Er war niedergeschmettert, und doch konnte er die kurze Forderung, die sie stellte:

‘Vergiß mich’, nicht erfüllen. […] Der rätselhafte Zug der Natur war mächtiger in ihm als alle Vorstellung.116

Dieser ‘rätselhafte Zug’ birgt eine vorausdeutende Qualität in sich, wodurch das Ballkapitel „als Peripetie des Romans gelesen werden kann“.117 Der ‘rätselhafte Zug’ ist im Ballgeschehen gleichermaßen für zwei Handlungsstränge gültig.

Ersterer betrifft politische Neigungen und Überzeugungen und zeigt sich in den Reaktionen der Ladalinskis und des Grafen Bninski auf die Nachricht von der Kapitulation Yorks. Es entbrennt eine kurze Diskussion über den Begriff der Treue, der sich thematisch durch die ganze Erzählung zieht und gerade hier im Kontext des ‘rätselhaften Zugs der Natur’ steht.118 Schließlich ‘gelingt’ es der politischen Nachricht

114 Ebd., S. 358f.

115 Ebd., S. 361.

116 Ebd., S. 327.

117 Salmen: Tänze und Bälle bei Fontane, S. 113.

118 Vgl. dazu auch Conrad Wandrey: „Die Forderung der Treue, des Ehrlichen, Schein- und Prätentionslosen, der Drang zu den Dingen und Verhältnissen, wie sie wirklich sind, losgelöst