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4. Fall Mia

4.1 Fallskizze

Informationen zu diesem Fall stammen aus den Unterlagen des zuständigen ASDs, aus den Unterlagen der KJP sowie aus eigenständig geführten Interviews mit den zuständigen Fach-kräften in dem Fall (siehe Anhang). Die Angaben wurden anonymisiert und es wurden fiktive Namen verwendet. Exakte Geburtsdaten liegen nicht vor. Die Familienkonstellation wird in einem Genogramm dargestellt.

Abb. 1: Genogramm

Erkenntnisquelle

Der Fall handelt von Mia und ihrer Mutter. Mia stellte sich im Mai 2014 gemeinsam mit ihrer Mutter in einer Institutsambulanz vor. Zum Zeitpunkt des Erstgesprächs befand sich Mia in der KJP, aufgrund latenter Suizidalität und massiven Selbstverletzungen. Daraufhin wurde das Ju-gendamt informiert. Die Familie ist dem JuJu-gendamt seit Juni 2014 bekannt. Seit Anfang 2014 fanden immer wieder stationäre Behandlungen bzw. Kriseninterventionen in der KJP aufgrund von selbstverletzendem und suizidalem Verhalten statt. Mia befindet sich aktuell in einer indi-vidualpädagogischen Maßnahme im Ausland.

Chronologische Auflistung des Hilfeprozesses

 2011 – 2013: Massiver sozialer Rückzug von Mia; Schulabsentismus; Beginn von selber-verletzendem Verhalten

 März 2014: Erste Krisenintervention in der KJP, aufgrund von Selbstverletzung und suizi-dalen Gedanken; Information der Kindesmutter: Mia sei mit acht Jahren missbraucht wur-den (von einem Freund der Familie)

Paul 50 J.

Ute 37 J.

Peter 46 J.

Ella 9 J.

Mia 16 J.

 Juni 2014: Zweite Krisenintervention in der KJP; Mia habe dort von einem zweiten sexuel-len Missbrauch im Jahr 2013 berichtet, der ihr widerfahren sei (Halbbruder der Mutter)  Kontaktaufnahme zum Jugendamt

 September 2014: Erneute Aufnahme in die KJP (geschlossene Unterbringung); Kindesmut-ter äußert, dass sie sich das Leben nehme, wenn Mia sich umbringt. KindesmutKindesmut-ter kann Mia nicht schützen, demnach kann Mia nicht nach Hause zurück (seitdem lebt Ella bei ihrem Vater)

 Oktober 2014 – März 2015: Geschlossene Unterbringung in der KJP; es wird eine Ergän-zungspflegschaft für Teilbereiche des Sorgerechts eingerichtet (Aufenthaltsbestimmungs-recht, behördliche und schulische Angelegenheiten, Einweisungen in Kliniken)

 März 2015 – August 2015: Unterbringung von Mia in einer Wohngruppe für psychisch kranke, junge Menschen nach §35a SGB VIII  enge Anbindung an die KJP; immer wieder treten Suizidgedanken und Suizidversuche auf; Mia hält sich tage- bzw. wochenweise in der KJP auf; sie schluckt Rasierklingen, nimmt verordnete Tabletten in Überdosis ein, ver-sucht sich von einer Brücke zu stürzen

 Seit August 2015: erneute geschlossene Unterbringung in der KJP; die Kindesmutter wird ebenfalls in der Erwachsenenpsychiatrie aufgenommen; es wird versucht, die destruktive, symbiotische Beziehung zwischen Mia und ihrer Mutter zu bearbeiten, leider erfolglos

 November 2015: Beschluss des Gerichts, dass Mia in der KJP bleiben soll, bis eine geeig-nete therapeutische Einrichtung für sie gefunden ist

 nach November 2015: Mia kommt in eine individualpädagogische Maßnahme im Ausland;

sie befindet sich dort auch aktuell

Ob Mia wirklich in der Vergangenheit vergewaltigt oder ob ihre Mutter ihre eigenen Miss-brauchserfahrungen auf ihr Kind projiziert hat (siehe dazu Abschnitt 2.1.1.2) ist unklar, da keine Akten o.ä. dazu vorhanden sind, obwohl die Mutter die Täter angezeigt habe. Da Mia in einer Wohngruppe für psychisch kranke junge Menschen gemäß §35a SGB VIII untergebracht wurde, wird im Nachfolgenden dieses Angebot kurz erläutert. Der §35 a SGB VIII regelt die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche.

„(1) 1Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und

2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beein-trächtigung zu erwarten ist. […]

(1a) 1Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1

1. eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, 2. eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder

3. eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kinder und Jugendlichen verfügt, einzuholen. […]

(2) Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall 1. in ambulanter Form,

2. in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen, 3. durch geeignete Pflegepersonen und

4. in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstige Wohnformen geleistet“ (Gesetze für die Soziale Arbeit 2013, S. 1700 f.).

Im Zuge des §35 a SGB VIII werden die KJH und die KJP zu einer Kooperation “gezwungen“.

Es treffen zwei Hilfesysteme aufeinander, die sich strukturell, aber auch in ihren Haltungen und Arbeitsweisen unterscheiden (siehe Abschnitt 3.1 f.). Im nächsten Abschnitt wird die familiäre Situation in dem Fall erläutert.

4.1.1 Familiäre Situation

Die Mutter lebt bei einer Freundin. Die Mutter verfügt über geringe wirtschaftliche Ressourcen.

Sie stamme aus einem stark belasteten Familiensystem (depressive Mutter, Vater habe eine Borderline-Persönlichkeitsstörung). Als Jugendliche habe sie sexuelle Gewalt erfahren und sie sei heroinabhängig gewesen. Als sie mit Mia schwanger war, sei sie nach eigenen Angaben clean gewesen. Die Mutter habe sich von Mias Vater getrennt, als sie mit Mia schwanger war, da es immer wieder zu gewalttätigen Handlungen seitens des Vaters gekommen sei. Im Jahr 2000 sei die Mutter mit Mia, Ella und dem Vater von Ella zusammengezogen. Das Verhältnis zwischen Mia und ihrer Mutter wird als symbiotisch und ambivalent erlebt. Das Verhältnis zu ihrem Stiefvater ist belastet. Aktuell habe Mia zu ihrem Stiefvater keinen Kontakt. Zu ihrem leiblichen Vater habe Mia noch nie Kontakt gehabt. Nachdem sich die Mutter vor einigen Jah-ren von Mias Stiefvater tJah-rennte, musste sie, aufgrund akuter Suizidalität, zweimal in einer Psy-chiatrie aufgenommen werden. Die Mutter äußerte immer wieder suizidale Absichten, wenn Mia sich umbringt. Daraufhin wurden ihr im Jahr 2014 Teile des Sorgerechts entzogen und Ella ist zu ihrem leiblichen Vater gezogen.

4.1.2 Mutter-Kind Beziehung

Das Erziehungsverhalten der Mutter ist laut Aussagen der zuständigen Fachkräfte von Überfor-derung geprägt. Sie konnte aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht auf die Bedürfnisse von Mia eingehen. Mia hat keine altersgerechten Zuwendungen erfahren. Die Mutter habe in der Vergangenheit immer wieder versucht, sich über ihre Tochter zu stabilisieren. Demnach

zwischen der Mutter und ihrer Tochter sei durch Ambivalenz geprägt. Es wurde bereits in der Vergangen erfolgslos versucht, die symbiotische Beziehung zwischen Mia und ihrer Mutter zu bearbeiten.