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F LÜCHTLINGSLAGER Das dreifache Organigramm

Polyhierarchische Strukturen

F LÜCHTLINGSLAGER Das dreifache Organigramm

Die Besucherin eines Flüchtlingslagers wird bereits dann, wenn sie im Ge-ländewagen einer Organisation mitfährt, auf die mehrfachen administrativen Bezüge der Akteure aufmerksam. Wie viele Flüchtlingslager liegen auch die hier untersuchten in der Peripherie des Aufnahmelandes. Dort, außerhalb der Fest- und Mobilfunknetze, sind Telefonate und Emailverkehr nur mittels Satellitentelefon möglich und entsprechend beschwerlich und teuer. Wenn Organisationsmitarbeiter untereinander über Distanzen hinweg kommuni-zieren, verläuft dies zu einem großen Teil über Funkgeräte. Die verwende-ten Codes verweisen auf organisationale Zuordnungen: Es ist von „Mike 7“

und „Mike 11“, von „Alpha 3“, „Charly Base“ und „Delta 2“, von „Hotel Lima“ und „Hotel Sierra“ die Rede. Ein im Auto von MSF befestigter Zettel erklärt einen Teil dieser Ausdrücke, weiteres ergibt sich aus Fragen und Zu-hören. Der jeweils erste Buchstabe dieser Codes, die dem international ge-bräuchlichen Funkalphabet folgen, steht für eine der im Flüchtlingslager tä-tigen Organisationen. Die hinzugesetzten Zahlen stehen für bestimmte Mit-arbeiter der Organisation, Buchstabenkürzel geben Standorte an, und damit auch die Organisationsebenen. So ist „Romeo 1“ der oberste Mitarbeiter der sambischen Regierung im Flüchtlingslager, der Refugee Officer. „Hotel“

steht für den Buchstaben H und bezeichnet den UNHCR, „Hotel Sierra“

meint das Field Office in Solwezi und „Hotel Lima“ das Regionalbüro in Lusaka. In der Regel orientieren sich die Codes an den Namen der Organisa-tionen.1 Bestimmte Positionen der Lagerverwaltung schließlich haben eige-ne Kürzel, die in das Funkalphabet ‚übersetzt‘ werden; der LWF-‚Project Coordinator‘ etwa, kurz PC, ist „Papa Charly“. Die Funkkommunikation hat im Arbeitsalltag des fest angestellten Personals in den Flüchtlingslagern ei-nen so festen Platz, dass die entsprechenden Bezeichnungen auch in die sprachliche Kommunikation von Angesicht zu Angesicht eingehen.2

In diesen Funkcodes manifestiert sich die dreifache organisatorische Einbindung der einzelnen Mitarbeiter im Flüchtlingslager. Sie wird in drei unterschiedlichen Arten von Organigrammen deutlich, die im Folgenden betrachtet werden.3 Das erste ist das Organigramm der Organisationseinheit auf Lagerebene, das zweite das der Gesamtorganisation über die Lagergren-zen hinaus, das dritte Organigramm repräsentiert die Konstellation der ver-schiedenen Organisationen innerhalb des Flüchtlingslagers. Für die Akteure im Flüchtlingslager bestehen mit diesen Organigrammen drei mögliche Be-züge für das eigene Handeln. Die Auswahl des Kontexts, in den sich ein Handelnder in einer konkreten Situation setzt und anhand dessen er diese interpretiert, liegt zwar häufig, aber nicht immer auf der Hand. Mit den Op-tionen variiert gleichzeitig auch die Trennlinie zwischen dem, was als die eigene Organisation wahrgenommen wird, und der Umwelt.

Die eigene Organisation auf Lagerebene

Im Lageralltag muss sich das Personal zunächst im Bezug auf die Hierarchie und Arbeitsteilung der eigenen Organisation orientieren. Die in einem Flüchtlingslager präsenten Organisationszweige können von sehr unter-schiedlicher Größe sein. Dabei erreichen auch kleinere NGOs schon eine beträchtliche Anzahl von Mitarbeitern, bezieht man die als Gelegenheitsar-beiter beschäftigten Flüchtlinge und Einheimischen mit ein. Eine lead agen-cy weist bereits bei ihren vertraglich beschäftigten Mitarbeitern komplexe Strukturen auf, und auch hier kommen sogenannte casuals hinzu. Das Orga-nigramm von CARE, der lead agency in Nangweshi zum Zeitpunkt der Feldforschung, macht die Komplexität einer NGO-Präsenz in einem einzel-nen Flüchtlingslager deutlich (s. Abbildung 10). Wie das Organigramm zeigt, stellt die CARE-Organisationseinheit in Nangweshi eine eigene hier-archische und bürokratische Ordnung dar. In ihr sind Zuständigkeitsbereiche und Weisungsbefugnisse festgelegt. Das Dokument zeigt mit einer waag-rechten Linie zudem die Differenzierung zwischen den oberhalb eingetrage-nen vertraglich Angestellten und den unterhalb stehenden Gelegenheitsar-beitern (casuals) an, die in den Arbeitsbedingungen einen erheblichen Un-terschied bedeutet.4

Abbildung 10: Organigramm der CARE-Präsenz in Nangweshi.

Die Organisationsebenen jenseits des Lagers

Die Organigramme der im Lager präsenten Organisationseinheiten bilden einen ersten Bezugspunkt der Beteiligten auf Lagerebene. Für das Personal und in bestimmten Fällen auch für Flüchtlinge ist zweitens die Einbindung jeder im Lager tätigen Organisationseinheit in deren Gesamtorganisation handlungsrelevant.

Stellt man sich eine gesamte Organisation in Form eines Baumdia-gramms vor, so gehören die Organisationseinheiten im Flüchtlingslager zu den äußersten Verzweigungen. Hierarchisch gesehen haben sie keine weite-ren Einheiten außerhalb des Lagers unter sich, aber eine oder – meistens – mehrere Einheiten über sich, bis hin zur Zentrale.

Im Fall des UNHCR etwa untersteht ein Field Office in der Regel einem Sub-Office, dieses einem nationalen und das dann einem regionalen Büro.5 Die Regionalbüros unterstehen der Zentrale in Genf – deren Organisations-struktur so komplex ist, dass das auf der Internetseite zur Verfügung gestell-te Organigramm sieben Seigestell-ten umfasst (vgl. UNHCR 2006b). Auch die meisten NGOs in den untersuchten Lagern haben ihre Organisationszentra-len außerhalb Sambias – zum Beispiel LWF wie UNHCR in Genf, JRS in Rom, CORD in London und AHA in Addis Abeba. Sie haben ebenfalls na-tionale und häufig auch regionale Büros.

Der Vertreter der sambischen Regierung im Flüchtlingslager, der Refu-gee Officer, untersteht dem Commissioner for RefuRefu-gees in Lusaka, der wie-derum dem Permanent Secretary des nationalen Innenministeriums unter-geordnet ist. Die Departments der nationalen Ministerien sind gleichzeitig auf Provinzebene überall im Land vertreten. Wie mir der Commissioner for Refugees in Lusaka erklärt, berichtet der Refugee Officer in administrativen

Angelegenheiten dem Permanent Secretary (PS) auf Provinzebene, der da-für und da-für die Haushaltskontrolle autorisiert ist. In allen operativen Fragen und schwerwiegenden Entscheidungen, etwa einer Verhaftung, ‚hat der Permanent Secretary nicht die Antwort‘, der Refugee Officer wendet sich dann an den Commissioner in Lusaka, denn er ‚weiß die Antwort‘. Der Permanent Secretary in der betreffenden Provinzhauptstadt wird unterrich-tet. Bei einem Mitarbeiter der Provinzregierung in Mongu erkundige ich mich später nach der Beziehung zwischen einem Permanent Secretary und einem Minister auf Provinzebene. Ersterer ist ein Verwaltungsbeamter, er-klärt mein Gesprächspartner, der Minister dagegen ein politischer Amtsträ-ger, der den Permanent Secretary aus Regierungsperspektive beaufsichtigt und ihm auch gefährlich werden kann. Er ist kein Regierungsbeamter, und – so fügt mein Gesprächspartner lachend hinzu – er ist „the one who is mis-leading the PS“. Die Refugee Officers in beiden untersuchten Lagern nennen als ihren Vorgesetzten ausdrücklich den Commissioner for Refugees in Lu-saka und nicht den Permanent Secretary der Provinzregierung. Letzterer erhält zwar manchmal Informationen von ihnen, kann ihnen aber keine Wei-sungen geben. Die Refugee Officers in den Flüchtlingslagern haben vor Ort Kontakt mit lokalen Regierungsvertretern, weisungsbefugt ihnen gegenüber ist der Commissioner im weit entfernten Lusaka. Bei allen Zusammentreffen von Mitgliedern der Provinzregierung und Refugee Officers im Flüchtlings-lager wird ersteren allerdings protokollarischer Vorrang eingeräumt.

Der Refugee Officer steht, neben seinen Verbindungen zum Commissio-ner for Refugees eiCommissio-nerseits und zur Provinzregierung andererseits, in Bezie-hung zu einem weiteren Regierungsakteur auf Lagerebene, der Polizei. In-nerhalb des Lagers ist er der Polizei übergeordnet, erklärt ein Refugee Of-ficer, „because I am charged with the responsibility for the settlement. But in the system it’s a sister department“. Er steht demnach im Rahmen der Ge-samtverwaltung nicht über der Polizei, hat aber innerhalb des Lagers die Oberaufsicht auch über die Polizeikräfte. Sein Kollege im anderen Lager differenziert: Die reguläre Polizei ist ihm nicht unterstellt, sie arbeiten nur Hand in Hand. Die paramilitärische Polizei aber nennt er seine ‚rechte Hand‘, etwa bei Verhaftungen – „they operate under my instruction“.

Die Organisationskonstellation auf Lagerebene

Mit den zwei angesprochenen Organigrammen, dem der Organisationsein-heit auf Lagerebene und dem für die jeweilige Gesamtorganisation insge-samt, verorten sich Handelnde innerhalb ihrer eigenen Organisation. Dieser Bezug auf unterschiedliche Ebenen ist die typische Situation aller Mitarbei-ter größerer Organisationen. Sie stehen innerhalb ihrer UnMitarbei-tereinheit (die wiederum variieren kann, es kann beispielsweise eine Abteilung, ein Institut oder eine Niederlassung sein) in Beziehungen zu anderen Positionsinhabern und befinden sich gleichzeitig, mit dieser Untereinheit, in formalisierten Verhältnissen zu den anderen Einheiten innerhalb der Gesamtorganisation.

In Flüchtlingslagern kommt eine dritte Struktur hinzu, und damit unter-scheiden sie sich von anderen organisationalen Ordnungen. Diese dritte Struktur betrifft ebenfalls die Lagerebene, bezieht sich jedoch auf die unter-schiedlichen dort präsenten Organisationen und damit auf das Flüchtlingsla-ger insgesamt als administrative und handlungsrelevante Einheit. Für die Mitarbeiter ist dieser Bezug vor allem bei Interaktionen zwischen Organisa-tionen im Lager von Bedeutung. Das Personal verortet sich dabei in der or-ganisationalen Einheit des Flüchtlingslagers mit seinen verschiedenen Ak-teuren. Ein UNHCR-Mitarbeiter zeichnet im Gespräch mit mir ein solches Organigramm des Flüchtlingslagers Meheba (s. Abbildung 11).

Abbildung 11: Organigramm des Flüchtlingslagers Meheba

Rekonstruktion der handschriftlichen Version eines UNHCR-Mitarbeiters, ergänzt (in Times New Roman) durch dessen mündliche Erklärungen.

Auf die oberste Ebene setzt er nebeneinander den UNHCR und die sambi-sche Regierung mit dem Innenministerium und dem Commissioner for Re-fugees, im Lager vertreten durch den Refugee Officer. Als ich nach dem Welternährungsprogramm (WFP) frage, fügt er es später auf gleicher Ebene dazu. Darunter sind die Implementing Partners (IPs) eingezeichnet, im we-sentlichen NGOs und Regierungsstellen (darunter das Department of Water Affairs, DWA, und das Ministry of Health, MoH), die mit Geldern des UNHCR Projekte in dessen Auftrag durchführen. UNHCR hat direkt mit den IPs zu tun, die Regierung dagegen nicht direkt. Er hat Einfluss auf die IPs und kann Entscheidungen über sie treffen, während WFP zwar auch mit ihnen zu tun hat, aber nicht einflussreich ist. Noch eine Ebene darunter

zeichnet der UNHCR-Mitarbeiter die Operational Partners (OPs) ein, im Falle Mehebas die NGOs Zambian Red Cross, AAR und JRS.6 Bei ihnen beschränkt sich die Rolle des UNHCR dieser Darstellung zufolge auf Koor-dination, er kann ihnen keine Anweisungen geben: „do this, do that“, son-dern die Zusammenarbeit beruht auf der gemeinsamen Zielsetzung, Flücht-lingen zu helfen.

Die Zeichnung macht die Komplexität der organisationalen Struktur im Flüchtlingslager bereits deutlich, obwohl sie noch ergänzt werden könnte – etwa um die reguläre und die paramilitärische Polizei; auch die seit langem im Lager präsenten Religious Sisters of Charity sind ausgeklammert, und die Zeichnung erfasst keine Strukturen der Flüchtlinge, auch nicht die admi-nistrativ eingeführte gewählte Flüchtlingsvertretung. Im Hinblick auf die Hilfs- und Regierungsorganisationen umfasst das Organigramm allerdings die wesentlichen Interaktionspartner innerhalb des Flüchtlingslagers, gefasst als kollektive Akteure.

Dieses Lager-Organigramm spiegelt die Perspektive eines UNHCR-Mitarbeiters, andere Beteiligte formulieren etwas abweichende Bilder.

Flüchtlingslager weisen erstens eine Pluralität von organisationalen Hierar-chien auf und zweitens divergierende Perspektiven auf die Relation dieser Hierarchien zueinander. Daraus resultiert eine Mehrzahl teils konkurrieren-der Ansprüche auf Entscheidungsmacht in Fragen, die das Lager insgesamt oder auch übergreifende Teilbereiche betreffen. Wie die Lagerordnung ges-taltet ist und gesges-taltet sein sollte, sehen die Akteure unterschiedlich.7 Diffe-renzen bestehen nicht nur zwischen Personal und Flüchtlingen, sondern auch zwischen Regierungspersonal, UNHCR, NGOs und verschiedenen Gruppierungen von Flüchtlingen.

Verschränkungen der Verzweigungen: Beziehungen jenseits des Lagers

Alle im Flüchtlingslager tätigen Organisationseinheiten, seien es humanitäre oder Regierungsorganisationen, sind Teile komplexer Gesamtorganisatio-nen. Jede dieser Organisationen hat mit den anderen nicht nur im Flücht-lingslager, sondern auch außerhalb des Lagers Kontakte. Zum einen beste-hen Beziehungen auf höheren Organisationsebenen, etwa die zwiscbeste-hen den nationalen Büros der Organisationen oder auf Ebene der Organisationszralen. Zum anderen arbeiten die Organisationen auf gleicher Ebene – ent-sprechend der des Flüchtlingslagers – auch in anderen Situationen in Sambia und in anderen Ländern zusammen. Große internationale NGOs wie LWF, CARE oder MSF arbeiten mit UNHCR oft in mehreren Projekten weltweit zusammen. Die sambische Regierung hat in allen Flüchtlingssituationen im Land mit UNHCR zu tun und in dreien der zur Zeit der Feldforschung be-stehenden Lager mit LWF als lead agency. CORD hat an drei Arbeitsorten in Sambia mit sambischen Regierungsstellen zu tun, die NGO ist in zwei Flüchtlingslagern präsent sowie mit einer Gesundheitsstation für die