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für das Kosovo

Im Dokument Pro Asyl: Tag des Flüchtlings 2015 (Seite 36-39)

© Baeck / Behrami / Schneider / Stieber

ABHÄNGIG VOM AUSLAND, KORRUPT IM INNERN, BITTER-ARM

Das prekäre Gebilde Kosovo hat dane-ben ganz massive Probleme im Alltag.

Schon in titoistischen Zeiten eine der ärmsten Regionen Jugoslawiens geriet das Kosovo durch Kriegsfolgen weiter in strukturelle wirtschaftliche Probleme.

Kosovo hat ein extremes Außenhandels-defizit und hängt völlig von Kapital -zuflüssen aus dem Ausland ab. Der Arbeitsmarkt ist für Kosovaren verschlos-sen. Die Überweisungen durch die Ar-beitsemigranten vergangener Zeiten sind höher als die im Kosovo erwirtschafteten Werte. Zuflüsse aus internationalen Hilfs-fonds gehen zurück. Nach Jahren einer wirtschaftlichen Scheinblüte, die sich in Form von reger Bautätigkeit im privaten Bereich äußerte, hat die Wirtschaftskrise das Land seit mehr als fünf Jahren fest im Griff. Die jüngste Flucht-/Auswande-rungswelle auch ethnischer Albaner aus dem Kosovo hat denn auch nach den Angaben derer, die das Land verlassen, eher mit der wirtschaftlichen Perspek -tivlosigkeit und der Ver armung breiter Schichten zu tun als mit Sachverhalten, die sich als Verfolgung begreifen lassen.

Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt von weniger als 1,40 Euro pro Tag, viele im absoluten Elend, darunter insbesonde-re auch die Angehörigen der nicht-serbi-schen Minderheiten.

Ein Teil der kosovarischen Politik ist eng verflochten mit Netzwerken der organi-sierten Kriminalität. Zahlreiche ausländi-sche Diplomaten, die im Kosovo aus dem Nichts einen modernen Staat schaffen wollten, haben sich dabei auch mit Kri-minellen verbündet – und sind geschei-tert. Entsprechend wird auch darüber diskutiert, wo die Milliarden Euro an internationaler Unterstützung seit 1999 hingeflossen sind, wenn gleichzeitig gro-ße Teile der Infrastruktur und des Bil-dungssystems weiter vor sich hin rotten.

Am Beispiel des Kosovo stellt sich noch deutlicher als in anderen Regionen des Balkans die Frage, ob die Staaten, die aus den Sezessionsprozessen und den

Krie-gen der 1990er Jahre hervorgeganKrie-gen sind, ihren Bürgerinnen und Bürgern das bieten können, was gemeinhin unter Staatlichkeit verstanden wird: Funktio-nierende Institutionen, ein arbeitendes Justizwesen, eine Eindämmung der Kor-ruption und ein bescheidenes Auskom-men. Auf politische Verbesserungen hof-fen viele der dort lebenden Menschen in-des nicht mehr. ◆

■ »Abgeschobene Roma im Kosovo« (2014):

Das Roma Center Göttingen hat die soziale, gesundheitliche und politisch-rechtliche Situation von abgeschobenen Roma unter-sucht: »Im Kosovo treffen wir auf Menschen, die überhaupt nichts haben. Die hungern und nur zögernd davon erzählen, weil sie sich dafür schämen oder es für selbstverständlich halten. Deren Leben hier zu Ende gegangen zu sein scheint, deren Pläne und Träume jäh zerschlagen wurden – weil sie aus Deutsch-land abgeschoben worden sind.«

■ Die 112-seitige Broschüre mit zahlreichen Berichten, Interviews und Fotos ist bestellbar unter doku@koop-bremen.de

© Baeck / Behrami / Schneider / Stieber

Minire Neziri

(…) Es war ein Montag. Ich hatte mich nach der Schule mit meiner besten Freundin zu einer Fahrradtour verabredet. (…) Wir sprachen über Mäd-chenkram, aßen Eis und amüsierten uns.

Dann sagte meine beste Freundin plötz-lich: »Ich glaub, ich sterbe, wenn du ir-gendwann abgeschoben wirst.« Witzig, dass es nur ein paar Stunden später tat-sächlich passierte. Ironie des Schicksals.

(…)

Mitten in der Nacht wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Meine Mama rüttelte an meinem Arm. Überall war das Licht an und sie weinte. Ich verstand nichts.

»Steh auf, wir müssen gehen«, sagte sie.

Verwirrt stand ich auf und sah im Flur vier Polizisten stehen. Meine Schwestern weinten. Mein Bruder weinte. Meine Mutter weinte. Auch mein Neffe kreisch-te herum. Ein hektisches Durcheinander.

(…). Ich weiß noch, was ich angezogen hatte. Einen rosa Blazer und eine rote Hose. Klingt nach Geschmacksverwir-rung, aber damals war es echt Mode. Das waren neue Sachen gewesen und nun trug ich sie zur Beerdigung meines Le-bens. (…)

Ich weiß noch, wie Mama mir hinterher-rief, ich solle keine Angst haben. Eine Frau führte mich in ein Zimmer, wo eine andere bereits wartete. Dort wurden mir die Fingerabdrücke abgenommen. Dann sagte sie, ich solle mich ausziehen. Bitte was? »Ja, ja« – ausziehen sollte ich mich.

Zitternd legte ich meine Kleidung ab, bis ich nur noch in Unterwäsche dastand.

»Die bitte auch weg«, sagte die Frau.

Welch eine Erniedrigung! Ich fing an zu weinen. Daraufhin winkte die andere Frau ab und sagte, ich solle mich wie-der anziehen. Ein Foto wurde gemacht.

Auf dem Bild sind meine Wangen ge -rötet, vor Scham und Demütigung. (…) Ich war damals noch zu jung, um alles zu ver stehen. Heute weiß ich, dass wir wie Schwerverbrecher behandelt wor-den sind. Die Reise ging weiter. Ab nach

Baden-Baden. Wir wurden zum Flugha-fen gebracht. (…)

Gute zwei Stunden später betrat ich zum ersten Mal in meinem Leben kosovari-schen Boden. (…) Kaputte Straßen. Bet-telnde Kinder am Straßenrand. Zerstörte, ausgebrannte Häuser. Mir wurde übel.

Lange Autofahrten hatten mir schon im-mer zugesetzt, und jetzt wurde ich auch noch durch die Löcher in der Fahrbahn ständig hoch und runter katapultiert. (…) Nach über zwei Stunden kamen wir schließlich in Pej an. Wir fuhren ein Stück aus der Stadt hinaus, zu unserem Dorf.

Felder, Wiesen, Gebüsche. Ungelogen, mein erster Gedanke war: ›Wie im Dschungel.‹ Den Rest fasse ich mal kurz zusammen. Die ersten Tage waren schön.

Als 14-Jährige wurde Minire Neziri 2005 ins Kosovo abgeschoben.

Fast 10 Jahre später, mit 23, hat sie ihre Erfahrungen über die Abschiebung niedergeschrieben und uns gebeten, den Text zu veröffentlichen – hier ein Auszug.

Minires Brief ist in voller Länge auf der Website von PRO ASYL zu finden.

»Ich war ein Kind. Ein Kind, verdammt!«

© Baeck / Behrami / Schneider / Stieber

Wir wohnten vorerst alle zusammen. 17 Leute, das kann ganz schön anstrengend sein, vor allem dann, wenn man nur eine Toilette hat. Mein Papa kam eine Woche später, mit dem LKW und unserem Hab und Gut, nach. Der Sommer war eben-falls schön. Viele Verwandte aus Deutsch-land kamen zu Besuch. Hochzeiten wur-den gefeiert, ganz traditionell. Doch dann waren sie alle wieder weg und ich blieb zurück.

Mein erster Schultag sollte auch mein letzter sein. Ich rannte mitten in der Pau-se einfach nach HauPau-se und schrie heu-lend, dass ich dort nie wieder hingehen würde. Leicht übertrieben, ja. Aber ver-sucht euch einfach mal in meine Lage zu versetzen. Ihr geht in ein Gebäude, das eine Schule sein soll. Ihr seht kaputte Stühle, kaputte Tische, kaputte Fenster, eine schief hängende Tafel. Keine Garde-robe, keine Schränke, keine Pinnwand.

Ihr fragt euren Sitznachbarn, wofür denn dieser komische Holzofen da sei und er erzählt euch, dass damit im Winter ge-heizt wird.

Das war zu viel für mein vierzehnjähriges Herz. Mit vierzehn war man damals noch nicht so reif wie die heutige Generation.

Ich war ein Kind. Ein Kind, verdammt!

Ein Kind, das von heute auf morgen aus seinem vertrauten Leben gerissen wor-den war. Aus dem einzigen Leben, das ich kannte. Der Alltag schlich sich ein. Ich war immer ein sportliches Mädchen ge-wesen, spielte Fußball und Volleyball und war ständig aktiv. Und hier? Hier hieß es:

»Lass das. Mädchen spielen nicht Fuß-ball, das ist peinlich.« Ich verbrachte die meiste Zeit vor dem Fernseher, zog mir Telenovelas rein und wurde ein fauler Mensch.

DASS ICH NUR EINE VON VIELEN BIN, TRÖSTET MICH NICHT Das ist doch kein Leben. Ich lebe nicht.

Ich vegetiere vor mich hin. Seit Jahren.

Auch heute noch. Ich befinde mich vor einem Scherbenhaufen. Versteht mich nicht falsch. Ich liebe dieses Land. Ich

be meine Heimat, mein Vaterland. Ich lie-be die frische Landluft, die netten Lands-leute, unsere Traditionen, unsere Kultur, unseren Zusammenhalt. Ich liebe unsere Musik und unsere Sprache. Aber ich has-se die Stromausfälle. Ich hashas-se die Kor-ruption und diese verdammte Perspek-tivlosigkeit, die die jüngere Generation ins Ausland zieht.

Mir wurde alles genommen. Mein Leben, meine Freunde, meine Zukunft. Vielleicht wäre aus mir keine Politikerin oder Ärztin geworden. Aber ich hätte meinen Real-schulabschluss gemacht und hätte wei-tergesehen. Ich hatte Träume und Ziele, die in weite Ferne gerückt und

letztend-lich wie eine Seifenblase geplatzt sind.

Das ist unfair. Das ist unmenschlich.

Auch, dass ich nur eine von vielen bin, tröstet mich nicht. Im Gegenteil. Die Ge-wissheit, dass es da draußen Leute gibt, die ein ähnliches Schicksal teilen, macht mich wütend. So wütend! Ich will mein altes Leben zurück. Das Leben, das mir gestohlen wurde! ◆

Im Dokument Pro Asyl: Tag des Flüchtlings 2015 (Seite 36-39)

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