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Exkurs: Von Hasen und Juden – Überlegungen zu einer MetapherMetapher

Die meisten Briefe an Lotte Sweceny beginnt Alexander Lernet-Holenia mit „L. L., m. H.“ – einem Akronym unter Liebesleuten: „Liebe Lotte, mein Hase“. Doch die Gefährtin ist nicht der einzige Hase, von dem in den Briefen die Rede ist, vielmehr schreibt Lernet mindestens zwanzig-mal249von „den Hasen“, und das meist in besorgtem Ton. Eine Auswahl:

Heute gehe ich ein bißchen Schafbergwärts, um zu sehen, was die Hasen machen. Sie haben es natürlich auch schwer, weil die Gräserchen alle unter dem Schnee sind. Und das mit dem Lager ist natürlich auch keine Kleinigkeit, bei der Kälte. Aber solange sie die Blume hochhalten können, ist ja alles noch relativ gut. (S.119) Aber Hasen sahen und sahen wir keinen. Es ist also sehr schwer, den Hasen hier eine Mitteilung zu machen. (S.121)

Vielleicht sehen wir, wenn Du dann da bist, doch einen Hasen und können ein bißchen mit ihm Konversation machen. Denn gegen mich allein sind sie ja nicht sehr mitteilsam. (S.125)

Hasen gibt es in Gastein jetzt keine mehr [. . . ]. Die Hasen werde ich in „andern Wäldern“ besichtigen und werde sie von Dir schön grüßen. Es gibt aber in der Gegend nicht viele, und sie haben die Seltenheit von Hirschen (S.146).

Hasen – was man wirklich so nennen kann – gibt es hier [in Berlin, C. D.] gar keine. Was täten sie denn auch auf dem Kurfürstendamm!

Da geht es den Hasen in der Umgebung von Wien schon viel besser.

(S.161)

246Roman Roˇcek: Persönliche Mitteilung an den Verfasser. Wien. 25. Juli 2009.

247Vgl. S.308, Anm. zudas Gedichtmanuskript bei Suhrkamp.

248Die Scheidung Lotte Swecenys von ihrem Mann Otto C. Sweceny erfolgte Ende 1945 (vgl. Kap.6.6.2), daher wohl der Mädchenname.

249S.119,119,121,125,139,142,142,146,161,162,162,163,164,170,176,176,177, 181,189,216,218.

Was jetzt etwa die Hasen machen werden, wenn es finster ist und von den Blättern tropft? Am Baum am See werden sie auch nicht mehr lange wohnen bleiben, weil ihnen im Lager nichts mehr serviert wird. Sie haben es schon schwer. (S.162)

Von den Hasen ist heute nicht viel zu berichten, als dass der Schnee sie natürlich wenig freut. Weil sie zu gar keinen Kräften mehr kommen. Aber es wird schon wieder die Zeit kommen, wo die Hasen Kräuter haben. (S.177)

Orte, an denen es „keine Hasen mehr“ gibt; Zeiten, zu denen es „den Hasen“ wieder besser gehen wird: mit der Privatmythologie eines Lie-bespaares allein lassen sich diese merkwürdigen Äußerungen kaum mehr erklären. Spätestens mit Erwähnung eines „Lagers“ (S.119,162) bietet sich jedoch eine Möglichkeit der Entschlüsselung an: Nach den

„Anschluss“ 1938 erwarb der Kommandant des KZ Dachau, Hans Loritz, ein Grundstück bei St. Gilgen am Wolfgangsee, also in unmittelbarer Nähe von St. Wolfgang, wo Lernet-Holenia lebte.250 KZ-Häftlinge aus Dachau mussten dort mit der Errichtung einer Villa für Loritz beginnen;

wenig später kam es in St. Gilgen zur Gründung eines „Außenlagers“ für männliche Häftlinge aus dem KZ Dachau. Sie waren dort harter Zwangs-arbeit unter einem „sehr brutal[en]“ Aufseher ausgesetzt.251 Auch im September 1941, als Lernet Lotte Sweceny gegenüber ein zweites Mal ein Lager erwähnt (S.162), bestand dieses „Außenlager“ noch; es wurde am 18. Dezember 1942 – wohl im Zuge der „Endlösung der Judenfrage“

– aufgelöst.

Mit großer Wahrscheinlichkeit bedient sich Alexander Lernet-Holenia also in seinen Briefen an Lotte Sweceny einer Chiffre, bei der Hasen Ju-den bezeichnen.252 Im Lichte dieser Interpretationsmöglichkeit ergäben

250Der Schafberg, zu dem Lernet gehen will, um zu sehen, „was die Hasen machen“, liegt zwischen St. Wolfgang und St. Gilgen.

251Vgl.Dirk Riedel: Der „Wildpark“ im KZ Dachau und das Außenlager St. Gilgen. Zwangs-arbeit auf den Baustellen des KZ-Kommandanten Loritz. In:Dachauer Hefte16 (2000), S. 54–70, hier S. 65 (diesen Literaturhinweis verdanke ich Christian Strasser, Salzburg) undAngelika Königseder/Wolfgang Benz (Hrsg.):Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager.

München: C. H. Beck 2005, S. 493. Laut Riedel war „die Öffentlichkeit in St. Gilgen über den Einsatz der KZ-Häftlinge durchaus informiert“ (Riedel:Der „Wildpark“ im KZ Dachau und das Außenlager St. Gilgen, S. 65). Hans Loritz war u. a. verantwortlich für den Massenmord an 12.000 russischen Kriegsgefangenen in den Jahren 1941/42 (ebd., S. 68). Das Anwesen in St. Wolfgang ist heute in privatem Besitz.

252Möglicherweise – Lernet bediente sich gerne aus dem Fundus von Mythologie und Kunstgeschichte – nicht zufällig: „Manche Rabbiner [. . . ] sahen in Hasen auch ein

die oben angeführten Textstellen Sinn. In Bad Gastein etwa, wo es laut Lernet Ende Mai 1941 keine Hasen mehr gibt (S.146), waren die anti-semitischen Tendenzen bereits um die Mitte der 1930er-Jahre so stark gewesen, dass die Zahl der jüdischen Gäste abnahm.253Nach dem „An-schluss“ radikalisierte sich das Klima, zahlreiche Hotelbetriebe wurden

„arisiert“,254im Gasteiner Heilstollen arbeiteten polnische Zwangsarbei-ter – möglicherweise spielt Lernet auf dieses Klima an, wenn er am 17.

Juni 1942 an Lotte Sweceny schreibt: „Die Leute, die in Gastein gewesen sind und die man hier spricht, tun nicht sehr entzückt“ (S.199). Ähnlich verhält es sich wohl mit den „Hasen“-Mitteilungen aus Berlin, wo Lernet meist im Hotel Kaiserhof wohnt, das bis zum Umzug in die benachbarte Reichskanzlei die provisorische Parteizentrale der NSDAP gewesen war und nach wie vor zahlreiche Nazi-Größen beherbergte255– und wo es mit Sicherheit keine Juden gab.

In den Briefen, die der Wehrmachtsoffizier Alexander Lernet-Holenia und die „Halbjüdin“ Lotte Sweceny zwischen 29. Dezember 1939 (erste Nennung) und 4. Juli 1943 (letzte Nennung) austauschen, findet also offenkundig regelmäßig ein chiffrierter Diskurs über Juden statt. Einige

Symbol für Juden in der Diaspora: immer gejagt, immer auf der Flucht“, so die Kunst-historikerin Felice Naomi Wonnenberg, die sich in einem Aufsatz mit der Rolle des Hasen im Judentum befasst hat (Naomi Felice Wonnenberg: Hakensprünge durch die Kunstgeschichte: Das Drei-Hasen-Symbol. In:David. Jüdische Kulturzeitschrift76 [Apr.

2008], S. 46). Sie präsentiert u. a. eine Darstellung aus einer Synagoge, auf der ein Greif Hasen frisst, eine Metapher für die Kosakenpogrome im frühen 17. Jahrhundert, bei der die Hasen verfolgte Juden symbolisieren (ebd., S. 48). Fliehende Hasen bzw. Kaninchen spielen auch eine Rolle im Ende 1939 entstandenenMars im Widder, als kurz vor den ersten kriegerischen Handlungen auf dem „Polenfeldzug“ die Zwischenkriegszeit an Wallmodens innerem Auge vorbeizieht: „Es war, als ob etwas Huschendes, das durch-sichtig war, neben ihn gesprungen sei wie gespenstische Kaninchen“ (A. Lernet-Holenia:

Mars im Widder, S. 148). Und noch einmal: „Ein Hase stob davon“ (ebd., S. 151).

253Vgl. dazuLaurenz Krisch: Bad Gastein: Die Rolle des Antisemitismus in einer Frem-denverkehrsgemeinde in der Zwischenkriegszeit. In: Robert Kriechbaumer (Hrsg.):

Der Geschmack der Vergänglichkeit: Jüdische Sommerfrische in Salzburg. Wien: Böhlau 2002, S. 175–226, und ders.:Zersprengt die Dollfußketten. Die Entwicklung des Na-tionalsozialismus in Bad Gastein bis 1938(Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Bd. Bd. 19). Wien–

Köln–Weimar: Böhlau 2003.

254Zu den Arisierungen in Bad Gastein vgl. etwaAlbert Lichtblau:„Arisierungen“, beschlag-nahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen in Salzburg(Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich Bd. 17/2). München:

Oldenbourg 2004.

255Vgl. auch S.288, Anm. zuim Kaiserhof.

Stellen legen den Schluss nahe, dass Lernet den „Hasen“ Nachrichten überbringen will oder es zumindest versucht256 bzw. von ihnen Mittei-lungen – wohl für Lotte Sweceny, der er davon berichtet – empfängt, so, als sei er eine Art Mittelsmann oder Bote.257 An anderen Stellen wieder scheinen sich die beiden semantischen Ebenen (Hase als Jü-din/Jude und Hase als Kosename für Lotte Sweceny) zu überlagern, etwa wenn Lernet über den Kriegsverlauf, der auch zu Trennung oder Schlimmerem führen könne, Überlegungen anstellt: „Und dann täte dem Hasen niemand an der Pfote führen, was doch außerordentlich wichtig ist“ (S.196); und: „Ich wollte, ich wäre auch schon wieder dort und könnte Dich an der Pfote hin- und herführen. Weil Du sonst ganz ratlos herumspringst“ (S.210). Es ist nicht leicht, hier zwischen den Deu-tungsvarianten „Geplänkel unter Liebesleuten“ und „verdeckt geäußerte Sorge“ zu unterscheiden; immerhin, Lotte Sweceny war eine couragierte Frau und wohl in der Regel nicht rat- oder orientierungslos.258 Dass sie in Gegenwart eines Offiziers der Wehrmacht noch weniger antijüdische Übergriffe zu befürchten hatte als in derjenigen ihres „arischen“ Man-nes Otto C. Sweceny – von dem sie de facto getrennt lebte –, ist wohl anzunehmen. (Dennoch schien Lernet es aus Sicherheitsgründen nicht zugelassen zu haben, dass sie zu ihm nach Berlin kam, vgl. S.61.)

Ob Lernets briefliche Anteilnahme am Schicksal der „Hasen“ auch eine Entsprechung im Handeln hatte, ist ungewiss. Lernet-Holenias Biograf vermutet, dass der Autor in den Jahren vor dem Krieg Emigranten behilf-lich war: „Lernet-Holenias Landhaus soll [. . . ] in den Sommermonaten einem Durchgangslager für Vertriebene aus Deutschland ähnlicher ge-wesen sein als dem Refugium eines Dichters.“259Lernets Freund, der An-walt Hugo Lifczis, habe den Flüchtenden die nötigen Papiere verschafft.

Wäre dem so, war Alexander Inngraf260nicht der Einzige in Lernets und Lotte Swecenys Umfeld, der durch seine Aktionen Partei für vom Regime Verfolgte bezog. Ob und in welchen Ausmaß Alexander Lernet-Holenia an solchen Aktionen teilnahm, ist bei jetzigem Forschungsstand nicht zu klären. Selbst wenn er etwa als „arischer“ Mittelsmann zwischen

256„Es ist also sehr schwer, den Hasen hier eine Mitteilung zu machen“ (S.121).

257„Denn gegen mich allein sind sie ja nicht sehr mitteilsam“ (S.125).

258Die letzten Kriegswochen, in denen sich ihre Familie aufs Land nach Hochrotherd zurückgezogen hat, verbringt Lotte Sweceny furchtlos alleine in Wien, wo sie sich während der Bombardements u. a. eine Granatsplitterverletzung zuzieht (vgl. S.217).

259Roˇcek:Die neun Leben, S. 201.

260Zu Inngraf siehe S.224, Anm. zuBlümerl.

seiner „halbjüdischen“ Gefährtin und anderen Juden fungierte, so wäre damit immer noch nichts darüber gesagt, wie er es prinzipiell mit den Juden hielt.261 Eine Spielart des Antisemitismus wurde Lernet attestiert, und zwar von niemand Geringerem als seiner P.E.N.-Club-Kollegin und Freundin Hilde Spiel, die am 24. Oktober 1969 an den gemeinsamen Freund Alexander Hartwich schrieb: „Sie kennen Alexander ja schon lange, viel viel länger als ich. War Ihnen denn sein tief eingewurzelter,

‚kavaliersmäßiger‘ Antisemitismus nicht längst bekannt? Ist Ihnen seine Natur, sein Charakter bis nun verborgen geblieben [. . . ]?“262– Lernet hatte von „Saujuden“ gesprochen – „widerliche[ ] Worte“,263 wie sich Hartwich Spiel gegenüber empörte.264Diese, selbst Jüdin, stellt in ihrer Replik eine Verbindung zwischen Lernet-Holenias Herkunftskomplex und seinen – sich u. a. auch in erratischem Antisemitismus äußernden – Ressentiments her:

Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass er nicht schon in seiner Jugend ähnlich gedacht oder geredet haben sollte, dass vor allem der schwere Komplex, an dem er leidet [. . . ], nämlich die Wut über sein nicht-Adligsein, die ganze Konstruktion seiner hohen und illegitimen Herkunft, dass all dies nicht schon immer bestanden hat.

Ich bin froh, dass Sie mir diese Beweisstücke geschickt haben. Aber aus vielen Gründen ist es mir nicht möglich, mehr zu tun als sie zur Kenntnis zu nehmen – als ein Indiz mehr über die Gemütsverfassung

261Zu seiner zweifelhaften, zwischen Antisemitismus und Sexismus changierenden Vorliebe für jüdische Frauen siehe oben FN55.

262Hilde Spiel: Brief an Alexander Hartwich (ÖLA, Nachlass Hilde Spiel, 15/91, Mappe 2 [1960–1975]). o. O. 24. Okt. 1969.

263Alexander Hartwich: Brief an Hilde Spiel (ÖLA, Nachlass Hilde Spiel, 15/91, Mappe 2 [1960–1975]). o. O. 21. Okt. 1969. Die Briefe Lernets aus diesen Jahren strotzen vor wüsten Beschimpfungen und groben Kraftausdrücken an alle möglichen Adressen: Als

„Sau“ werden u. a. Curzio Malaparte, Hans Habe, Helmut Kindler, Sigmund Freud und Günter Grass bezeichnet; auch Ausdrücke wie „Drecksau“ oder „slawische Dienstbo-tenseele“ sind keine Seltenheit. Eine „ideologische Befangenheit, eineVerfangenheit in der deutsch-nationalen Gedankenwelt“ war bei Lernet-Holenia unleugbar vorhan-den, wie Daniela Strigl anhand derGermanien-Zeile vom „[. . . ] Mord / am Blute, das Jahrhunderte zu Gast war [. . . ]“ zeigt: „Denn wie sollte, was, wie das deutsche, wie das österreichische Judentum, ‚Jahrhunderte zu Gast war‘, noch fremd sein können?“

(Strigl:Über das Zeitgemäße an Lernets „Germanien“, S. 80).

264Über dieser Auseinandersetzung ging die langjährige Freundschaft zwischen Lernet und Hartwich zu Bruch.

unseres Freundes, über die Überraschungen, deren man sich bei ihm immer gewärtig sein kann.265

In Lernets Werk begegnen sich, ähnlich wie in seiner Vita, Anti- und Philosemitismus auf mitunter irritierende Art und Weise. 2004 hat Bernd Hamacher sich eingehend mit dem Verhältnis von Lernets Werk zum Judentum befasst und dabei einelectio difficiliorv. a. desPilatus266 und desGrafen von St. Germainvorgeschlagen, die ihn zu dem Schluss ge-langen lässt, Lernet – den der völkische Literaturkritiker Adolf Bartels als „Halbjuden“ denunzierte267– habe „literarisch experimentell [. . . ] in Form der Inkorporation des Judentums“ eine Verschmelzung der österreichischen mit der jüdischen Identität gestaltet – mit durchaus ambivalentem Ergebnis: „1. historisch-politische Selbstkritik als Abrech-nung mit dem Österreichertum, 2. Exkulpierung durch Rekurs auf die Opferrolle und ineins damit 3. die Tradierung des schon bekannten Krypto-Antisemitismus“.268

Zum heiklen Thema „Antisemitismus bei Lernet“ schreibt Daniela Strigl in ihren zusammenfassenden Worten zur Dortmunder Lernet-Holenia-Tagung 2004:

Das im Raum stehende Gerücht, man habe Lernet des Antisemi-tismus überführt, entpuppte sich als alter Hut. Mit zunehmendem Alter war der Dichter immer rabiater geworden, sein Aristokratie-Komplex [. . . ] wuchs sich zur Obsession aus. Lernet wütete gegen die jungen Schreiberlinge von Handke bis Bernhard ebenso wie gegen „die Sozialisten“ und „die Habsburger“ und wurde, wie Hilde Spiel berichtete, im privaten Kreis auch gegen „die Juden“ ausfällig.

Seine Biographie spricht freilich eine andere Sprache, die meisten seiner engsten Mitstreiter und Freunde (und Freundinnen) waren jüdischer Abstammung, nicht nur der in diesen Dingen eher groß-zügige Leo Perutz, sondern auch Friedrich Torberg, der in Sachen Antisemitismus keinen Spaß verstand.269

265Hilde Spiel: Brief an Alexander Hartwich (ÖLA, Nachlass Hilde Spiel, 15/91, Mappe 2 [1960–1975]). o. O. 24. Okt. 1969.

266Alexander Lernet-Holenia:Pilatus. Ein Komplex. Wien–Hamburg: Paul Zsolnay Verlag 1967.

267Vgl.Bernd Hamacher: Alexander Lernet-Holenia und das Judentum. In: Hélène Barrière/

Thomas Eicher/Manfred Müller (Hrsg.):Schuld-Komplexe. Das Werk Alexander Lernet-Holenias im Nachkriegskontext. Oberhausen: Athena Verlag 2004, S. 45–64, hier S. 48, aber auch schon Roˇcek:Die neun Leben, S. 212.

268Hamacher:Schuld-Komplexe, S. 60f.

269Daniela Strigl: Eine Tagung, die weiter ging. Alexander Lernet-Holenia in Dortmund.

In:Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands4 (2004), S. 59. Als

Vorsichtiger äußert sich Hamacher in seinem im dazugehörigen Tagungs-band veröffentlichten, bereits erwähnten Aufsatz:

Dessen [Lernets, C. D.] persönliche Haltung zum Antisemitismus seiner Zeit vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg zu bele-gen ist Sache der biographischen Forschung, die ein abschließendes Urteil erst dann wird treffen können, wenn der Nachlaß inklusive der privaten Korrespondenz in Gänze erschlossen ist.270

Dieser Zeitpunkt ist mit Publikation der vorliegenden Briefe nun ein wenig näher gerückt. Auch das Bild von Alexander Lernet-Holenias Po-sition dem „Dritten Reich“ gegenüber hat durch die Lektüre der Briefe Lernets an Lotte Sweceny an Schärfe gewonnen. Mittels seiner inkongru-enten Aussagen über „Führer“, Kriegsverlauf und Nazi-Propaganda271in diesen Briefen schafft der Autor eine zwar selten eindeutige, aber stets spürbare Distanz zwischen sich und dem Regime – immer angesichts der zu erwartenden Zensur seiner Briefe durch das Oberkommando der Wehrmacht. Diese Distanz zum System vermochte Lernet freilich nicht davon abzuhalten, es zu bedienen, wo es ihm im Interesse seines berufli-chen Fortkommens und seiner persönliberufli-chen Sicherheit geboten schien – er war „Gegner und zugleich Stütze des Systems, verfolgt und geför-dert“.272 Dass er dabei mitunter zum Sklaven seines eigenen Netzwerks wurde, hat die ihm keineswegs nur willkommene Abkommandierung zur Heeresfilmstelle gezeigt.

„Ebenso wenig“, so Clemens Ruthner,

darf seine biografische Entwicklungslinie übersehen werden, die Lernet vom vorerst stolzen Träger einer Wehrmachtsuniform 1939 bezeichnend mag Lernet-Holenias folgende mehrdeutige Äußerung gelten: „Im Jahre 1938 rückte Hitler, vom Jubel eines nicht unerheblichen Teiles unserer Bevölkerung umbraust, in Österreich ein, und alle Leute begannen, sich mehr oder weniger erfolgreich mit dem Nachweis zu beschäftigen, daß sie keine Juden seien. Juden gab es zwar eine ganze Menge im Lande, aber die meisten Österreicher waren dennoch keine, obwohl man ihnen hatte wünschen mögen, sie würden sich als solche erweisen“ (A. Lernet-Holenia:Ein Ariernachweis, S. 175, fast wortgleich in ders.:Jahrgang 1897, S. 142).

270Hamacher:Schuld-Komplexe, S. 46.

271Siehe S.40f.

272Sommer:Anmerkungen zu Willkür und Wohlwollen fiskalischer Organe, S. 184. Dazu Eicher: „Es ist dabei keineswegs notwendig, den Überlebenswillen des Erfolgsautors der Zwischenkriegszeit als Opportunismus zu geißeln, ebensowenig, wie seine Produk-tion zeitloser dieser Jahre oder die intensive Arbeit am KriminalromanBeide Sizilien mit innerer Emigration gleichgesetzt werden muß“ (Eicher:Lernet-Holenia und die österreichische Nachkriegszeit, S. 12).

zum Parolenspender der Vergangenheitsverdränger 1945 machte, ihn aber schließlich auch als einen der ersten Schriftsteller der Nachkriegszeit dazu brachte, mit dem GedichtGermanien(1946) und dem RomanDer Graf Luna(1955) die unbeliebte Frage nach der historischen (Mit-)Schuld Österreichs bzw. der Österreicher zu stellen. Diese auf den ersten Blick unvereinbaren Positionen zeigen sich innerliterarisch durch einen quasi subkutanen Diskurs von ,Schuld‘ und ,Schicksal‘ verklammert – will man nicht als einzige Beweggründe für diese Wandlungen Lernets Opportunismus und seinen Willen zur Marktpräsenz annehmen.273

Lernets Texte der Nachkriegszeit – v. a.Germanien,Der Graf von St. Germain undDer Graf Luna– sind jedenfalls von der Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus geprägt; in jenen Jahren, in denen sich Österreich erfolgreich als „erstes Opfer“ Hitlers positionierte und dem Staatsvertrag entgegenfieberte, durchaus keine Selbstverständlichkeit.

Freilich: Die Erwähnung von Zwangsarbeit in (Konzentrations-)Lagern inDer Graf Luna274 erfolge weniger unter ethischen als unter ökono-mischen Gesichtspunkten, so Thomas Eicher, der der Ansicht ist, dass dies „nur bedingt der Figurenperspektive des ,degenerierten‘ Helden Jessiersky angelastet werden kann“.275Einen ähnlichen Vorbehalt for-muliert Daniela Strigl: „Wann immer im Gedicht [Germanien, C. D.] die Verbrechen des Dritten Reichs aufgezählt werden, steht Materielles, steht das Sichvergreifen an Hab und Gut an erster Stelle [. . . ]“276 – sie argu-mentiert allerdings auch, dass Lernet sich inGermanien„in den Kreis der Schuldigen einbezogen“ habe.277Hélène Barrière ist sogar der Ansicht, Lernet-Holenias Anlauf zur Vergangenheitsbewältigung (in Der Graf

273Ruthner:Fatale Geschichte(n) im „Zwischenreich“S. 17.

274Wien–Hamburg: Paul Zsolnay Verlag 1955.

275Eicher:Lernet-Holenia und die österreichische Nachkriegszeit, S. 14; ähnlich in ders.:

Grandseigneur und mehr: Alexander Lernet-Holenia (1897–1976). In: Jattie Enklaar/

Hans Ester/Evelyne Tax (Hrsg.):Im Schatten der Literaturgeschichte. Autoren, die keiner mehr kennt? Plädoyer gegen das Vergessen(Duitse Kroniek, Bd. Bd. 45). Amsterdam–New York: Rodopi 2005, S. 149–158, hier S. 154.

276Strigl:Über das Zeitgemäße an Lernets „Germanien“, S. 80.

277Ebd., S. 67. „Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Lernet-HoleniasGermanieneine unerbittliche Verurteilung des NS-Regimes darstellt“, schreibt Thomas Hübel (Thomas Hübel: Die leichte Last. Figuren des Opferausschlusses in Lernet-HoleniasGermanien.

In: Hélène Barrière/Thomas Eicher/Manfred Müller [Hrsg.]:Schuld-Komplexe. Das Werk Alexander Lernet-Holenias im Nachkriegskontext. Oberhausen: Athena Verlag 2004, S. 91–117, hier S. 97); freilich eine, die in Kauf nimmt, „daß aus einem Gedenken, dessen inhaltliche Kriterien und dessen Formenarsenal an der antiken Erinnerungskultur ausgerichtet sind, die Opfer des NS-Regimes ausgeschlossen bleiben“ (ebd., S. 102).

Luna) sei nach dem Krieg „einer der ersten [gewesen], auch wenn die Literaturwissenschaft ihm selten die Ehre erweist, es anzuerkennen“.278 MitGermanienhat Lernet sich nach 1945 – seinem oft einseitig inter-pretierten Diktum, man „brauche[ ] nur dort fortzusetzen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben“279, zum Trotz – positioniert.

Eindeutigkeit ist von ihm auch hier nicht zu haben, es gibt jedoch gute Gründe, das darin enthaltene „Bekenntnis [. . . ] und seinen Autor ernst

Eindeutigkeit ist von ihm auch hier nicht zu haben, es gibt jedoch gute Gründe, das darin enthaltene „Bekenntnis [. . . ] und seinen Autor ernst