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Existiert die Existenz?

Im Dokument Existenz bei Fahr ad-Dīn ar-Rāzī (Seite 120-124)

6.4 Das Konzept des wuˇ g¯ ud bei ar-R¯ az¯ı

6.4.6 Zwei Problempunkte

6.4.6.1 Existiert die Existenz?

Material zur Beantwortung dieser Frage findet sich vor allem in den

” philoso-phischen“Mab¯ah. it¯, in denen ar-R¯az¯ı dem wuˇg¯ud eine ausf¨uhrliche Diskussion widmet.

Den angesprochenen Regress konnten diejenigen, die keine allen Dingen gemeinsame Existenz annehmen wollten, als Basis eines ihrer Argumente be-nutzen. Dieses Argument nimmt – in der Darstellung ar-R¯az¯ıs – seinen Aus-gangspunkt in der allgemeinsten Einteilung von Sachverhalten in Affirmation und Negation: Ein betrachteter Gegenstand, eine wie auch immer geartete Angelegenheit steht entweder fest und l¨asst sich also best¨atigen, oder sie steht nicht fest und ist demnach zu negieren. Wenn wir nur diese beiden Seiten ha-ben – Best¨atigung (oder Affirmation) und Negation –, dann m¨ussen wir auch die Existenz einer dieser beiden Seiten zuordnen. Denn auch die Existenz l¨asst sich als solche betrachten, man kann ¨uber sie reden und alle m¨oglichen Aussa-gen machen, was ja auch auf diesen Seiten ausgiebig geschieht. Wenn wir sie nun der

”Negativ“-Seite zuordnen, womit sie etwas

”Nichtfeststehendes“ w¨are (dah˘ala f¯ı t.arafi ’l-l¯at¯¯abiti), dann kann sie kein addierbares Element sein. Sie kommt dann nicht zu einer Quiddit¨at hinzu, denn als etwas, das in keiner Weise best¨atigt werden kann, kann sie auch nicht zu etwas hinzukommen. Sie ist ein-fach nicht. Somit gilt als erste Konsequenz, dass die Existenz – im Falle, dass sie nicht affirmierbar ist – nicht zu den existenten Dingen hinzukommen kann und somit auch nichts ist, in das sich alles Existente gleichermaßen teilt. Wenn wir nun aber die Existenz auf der Seite der feststehenden Dinge einordnen – was man ja tun muss, wenn man sagt, dass sie etwas ist, das alle existenten Dinge gleichermaßen haben –, dann ist sie zwar etwas anderes als eine existente Quiddit¨at. Aber sie und die existente Quiddit¨at haben dann etwas Gemeinsa-mes: das Prinzip des Feststehens (as.l at¯-t

¯ub¯ut¯ıya) selbst n¨amlich. Nun muss die Existenz sich aber von den wie auch immer gearteten existenten Quiddit¨aten durch ihre ganz spezifische Eigent¨umlichkeit unterscheiden, die darin besteht, dass sie eben Existenz ist und nichts anderes. Also gibt es in der Existenz selbst mindestens zwei Elemente: Erstens jenes Element, aufgrund dessen wir sie in die Seite des Feststehenden einordnen, und das sie damit mit anderen existenten Quiddit¨aten gemeinsam haben muss; und zweitens die spezifische Eigenheit der Existenz selbst, die sie zu dem macht, was sie ist. Somit hat die Existenz selbst Affirmierbarkeit. Und da es f¨ur ar-R¯az¯ı keinen Unterschied zwischen Affirmation und Existenz gibt, hat die Existenz eine weitere Exis-tenz und jene zweite ExisExis-tenz eine dritte ExisExis-tenz usw. bis ins Unendliche.170

170Ar-R¯az¯ı,Mab¯ah. it¯, Bd. 1, S. 20,16-20.

Das eigentliche Problem liegt hier also in der Reifikation der Existenz – der Tatsache also, dass man aus der Existenz eine Sache machte – und der daraus entstehenden Pluralit¨at in ihr. Denn als eine Quiddit¨at mit Namen

”Existenz“

ist sie eben von den anderen Quiddit¨aten zu unterscheiden, und da sie selbst unm¨oglich nichtexistent sein kann, haben wir in der Existenz eine weitere Existenz. Jemand der dies behauptet – so die Antwort ar-R¯az¯ıs – hat aber ei-gentlich kein wirklich ad¨aquates Konzept vomwuˇg¯ud. Wenn auch die Existenz und die existenten Quiddit¨aten am Prinzip

”Feststehen“ gleichermaßen Anteil haben, so besteht der Unterschied zwischen der Existenz und den Quiddit¨aten dennoch nicht in etwas Positivem, Feststehendem, sondern in einer

”negativen Bestimmung“ (qaid salb¯ı). Diese negative Bestimmung lautet: Die Existenz hat keine weitere Bedeutung als die Existenz selbst (l¯a mafh¯uma lahu siw¯a

’l-wuˇg¯udi). Pluralit¨at innerhalb der Existenz selbst kann nur dann eintreffen, wenn sie und die existenten Dinge in einer positiven Bestimmung (qaid t

¯ub¯ut¯ı) gleich sind und gleichzeitig eine Unterschiedlichkeit in einer anderen ebenfalls positiven Bestimmung (qaid muh. as.s.al) eintrifft.171Beispielsweise sind die exis-tenten Quiddit¨aten voneinander erst dadurch zu unterscheiden, dass in ihnen ein gemeinsamer positiver Hintergrund festgestellt werden kann, n¨amlich ih-re Existenz. Erst wenn sie diese Gemeinsamkeit aufweisen, sie gleichermaßen Existenz haben, k¨onnen die unterscheidenden Elemente, die wiederum etwas Positives sein m¨ussen, aufgez¨ahlt werden, und erst dann kann die Unterschied-lichkeit festgestellt werden.172 Somit ist ein Vergleich zwischen der Existenz und den existenten Quiddit¨aten erst gar nicht zul¨assig. Denn auch wenn wir in beiden etwas Positives feststellen k¨onnen, so fehlt doch auf Seiten der Existenz das unterscheidende Kriterium. Denn ein einziger positiver Sachverhalt gen¨ugt eben nicht f¨ur einen Vergleich. Man w¨urde quasi ¨Apfel mit Birnen vergleichen.

Die Existenz ist somit nur Existenz und sonst nichts. Dahinter ist keine weitere positive Bestimmung zu finden. Darum – so ar-R¯az¯ı – folgt eben kein Regress.

Dies w¨are nur der Fall, wenn in der Existenz mehrere Elemente unterscheidbar w¨aren, die einen Vergleich erst erm¨oglichten. Auf der Seite der Existenz gibt es aber kein solches Element, aufgrund dessen sich eine Pluralit¨at und damit ein Regress einstellen k¨onnten.173

171Ar-R¯az¯ı,Mab¯ah. it¯, Bd. 1, S. 21,13-16. Vgl. auch ar-R¯az¯ı,Mab¯ah. it¯, Bd. 1, S. 64,8-9!

172Dazu, dass die Existenz die Basis f¨ur die Kategorisierung existenter Dinge ist, siehe oben S. 101-103!

173Umgekehrt gibt es auch auf Seiten der Quiddit¨aten als solche kein Element, das man in irgendeiner Weise als feststehend oder existent bezeichnen k¨onnte. Denn die Quiddit¨aten als solche stehen weder fest, noch stehen sie nicht fest, denn beides – Feststehen und Nicht-Feststehen – sind Qualit¨aten, die nicht in die Quiddit¨at qua Quiddit¨at einfließen. Auch wenn eine Quiddit¨at nie gleichzeitig von beiden frei ist, auch wenn sie also immer entweder feststeht – und das heißt f¨ur ar-R¯az¯ı: existiert – oder nicht, so ist sie in sich selbst nichts weiter als besagte Quiddit¨at.

Schw¨arze ist nichts als Schw¨arze, und sie wird nicht mit

feststehend‘

odernicht feststehend‘ beschrieben, denn all diese Bedeutungen kommen zu ihrem Schwarz-Sein hinzu“ (ar-R¯az¯ı, Mab¯ah. it¯, Bd. 1, S. 21,17-22,4). Darum kann man auch nicht sagen, dass die Quiddit¨aten als solche in sich selbst feststehen m¨ussen, wie es die Mu‘tazila mit ihrer Lehre, dass das Nichtexistente ein Ding ist, propagierte.

Eine Verdeutlichung und Ausf¨uhrung dessen, was es heißt, dass eine Existenz nicht selbst Existenz haben kann, findet sich in den Mab¯ah. it¯ bei der Er¨ orte-rung der Tatsache, dass die Existenz

”außerhalb“ der Quiddit¨aten zu verorten ist (al-wuˇg¯udu h

˘¯ariˇgun ‘ani ’l-m¯ah¯ıyati). Schließlich ist der wuˇg¯ud – ar-R¯az¯ı zufolge – kein Bestandteil einer Quiddit¨at als solcher. Ein bereits erw¨ahntes Argument, dass er hierzu anf¨uhrt, besagt,174 dass wir eine Quiddit¨at, z.B.

Schw¨arze, kennen k¨onnen, ohne dabei wissen zu m¨ussen, ob eine Auspr¨agung dieser Schw¨arze ¨uberhaupt existiert. Daher geh¨ort die Existenz eben nicht zum Umfang dessen, was Schw¨arze seinem Wesen nach in sich selbst ist. Die-ses Argument l¨asst sich – so mag man meinen – auch auf die Existenz selbst anwenden. Wir k¨onnen sie wissen, aber gleichzeitig daran zweifeln, ob sie sich einstellt. Daher m¨usste zur Quiddit¨at

”Existenz“ eine zweite Existenz hinzu-kommen, soll sie sich ¨uberhaupt realisieren. Wir h¨atten demnach nicht mehr nur eine Existenz, sondern zwei Existenzen, und der Damm, der einen Regress verhinderte, w¨are gebrochen. Ar-R¯az¯ıs Antwort hierauf beginnt mit einer Ana-lyse der Aussage

”Wir k¨onnen die Existenz wissen – wir k¨onnen also wissen, was sie in sich selbst meint –, gleichzeitig aber zweifeln, ob sie sich einstellt.“

Was bedeutet hier

”zweifeln“? Es gibt n¨amlich zwei unterschiedliche Typen von ”Zweifel“: Entweder man zweifelt daran, dass eine Angelegenheit einer anderen zukommt (Typ A: ˇsakk f¯ı t

¯ub¯uti amrin lahu). Dieser Typ

”Zweifel“

trifft z.B. ein, wenn wir nicht genau wissen, ob die Sonne sich bewegt oder nicht. Wir zweifeln hier also daran, dass die Bewegung der Sonne zukommt, dass die Sonne eine Bewegung hat (dies w¨are ein ˇsakk f¯ı t

¯ub¯uti ’l-h. arakati li-’ˇs-ˇsamsi). Man kann aber auch daran zweifeln, dass sich etwas an etwas anderem einstellt (Typ B:ˇsakk f¯ı t

¯ub¯utihi li-amrin).175 Wir haben hier also einen Wechsel der Perspektive. Im ersten Fall (Typ A) stellen wir etwas fest (z.B.: die Sonne; wir sehen sie ja, sie steht am Himmel) – und zweifeln danach daran, dass etwas anderes an diesem, was wir festgestellt haben, zu beobachten ist (bewegt sich die Sonne?). Es ist also ein Zweifeln an einer Beschreibung.

Im zweiten Fall (Typ B) betrachten wir ein Ding oder einen Umstand und sind uns unsicher, ob er sich ¨uberhaupt an einem anderen Ding einstellt. Es ist ein Zweifeln an der Existenz oder einem Feststehen. Wenn man nun daran zweifelt, dass sich die Existenz einstellt, dann zweifelt man nicht daran, dass sich etwas anderes an ihr einstellt. Ein Zweifel an der Existenz ist also nicht ein Zweifel des Typs A. Die Existenz selbst kann man n¨amlich unm¨oglich mit Existenz oder Nichtexistenz beschreiben.176Denn wenn man die Existenz (z.B.

die Existenz eines Partikels Schw¨arze) durch eine weitere Existenz beschrei-ben w¨urde, dann w¨urde man dabei eigentlich drei Dinge annehmen. Das Erste w¨are die Quiddit¨at – also z.B. die Schw¨arze. Sie ist es, die die Existenz empfan-gen kann, die aber selbst nicht von der Existenz empfanempfan-gen werden kann. Das

174Ar-R¯az¯ı,Mab¯ah. it¯, Bd. 1, S. 25-26.

175Ar-R¯az¯ı,Mab¯ah. it¯, S. 25,17-18.

176Ar-R¯az¯ı,Mab¯ah. it¯, S. 25,19-20.

Zweite w¨are die erste Existenz, die von der Quiddit¨at aufgenommen w¨urde, und die wiederum die zweite Existenz aufn¨ahme. Und schließlich w¨are das Dritte die zweite Existenz, die von der ersten aufgenommen w¨urde. Bei der Betrachtung dieser drei Dinge – der einen Quiddit¨at und der beiden Existen-zen – m¨ussten wir uns sodann weiter fragen: Ist daf¨ur, dass die Quiddit¨at die erste Existenz aufnimmt, die zweite Existenz notwendig? Das heißt: Ist dieses

”Empfangen“ der ersten Existenz von dem Eintreffen der zweiten Existenz abh¨angig? Wenn die zweite Existenz entbehrlich ist, dann mag die Quiddit¨at die erste Existenz aufnehmen, wobei die zweite Existenz sich nicht einstellt.

Somit k¨onnte die zweite Existenz nichtexistent sein, und dennoch w¨urde die Quiddit¨at existieren, was aber nach den angef¨uhrten Pr¨amissen nicht m¨oglich sein d¨urfte. Denn jetzt w¨urde die Existenz der Schw¨arze nicht existieren – es fehlt ja die zweite Existenz, die die erste existieren ließe – und damit exis-tierte die Schw¨arze eigentlich auch nicht. Es kann aber auch nicht so sein, dass die zweite Existenz bei der

”Empfangbarkeit“ (maqb¯ul¯ıya) der ersten Existenz eine Rolle spielt. Unter anderem folgt dies aus der Tatsache, dass die erste und die zweite Existenz ihrem Wesen nach absolut identisch sind. Es besteht also kein Grund, warum die erste Existenz eben die erste sein und die zweite empfangen soll und nicht umgekehrt. Wenn man also tats¨achlich zwei Existen-zen annehmen w¨urde, dann m¨usste jede der beiden in der anderen inh¨arieren k¨onnen. Außerdem m¨ussten sich zwei gleiche Dinge – die beiden gleichen Exi-stenzen – vereinigen k¨onnen, oder ein Ding m¨usste doppelt existieren, was alles gleichermaßen absurd ist. Wenn außerdem beide Existenzen in ihrem Wesen absolut identisch sind, und die zweite der ersten die F¨ahigkeit verleiht, von der Quiddit¨at aufgenommen zu werden, dann m¨usste die erste Existenz sich diese F¨ahigkeit selbst verleihen k¨onnen. Denn Dinge, die in der Art gleich sind, stimmen in ihren Charakteristika ¨uberein.177 Die zweite Existenz w¨are somit entbehrlich, ja eigentlich in dem ganzen System eher ein Hindernis. Denn auch wenn wir tats¨achlich annehmen w¨urden, dass die zweite Existenz die Ursache daf¨ur ist, dass die erste zur Quiddit¨at akzidentell hinzukommt, so folgt doch daraus, dass die beiden nicht voneinander getrennt werden k¨onnen, wenn die erste sich tats¨achlich in einer Quiddit¨at akzidentell einstellt. Wenn aber die er-ste Exier-stenz immer zusammen mit der zweiten Exier-stenz auftaucht, so kann die erste nie Nichtexistenz aufnehmen, was aber theoretisch der Fall sein m¨usste, wenn die Quiddit¨at nicht mehr existieren sollte. Das heißt aber, dass die Exis-tenz der jeweiligen Quiddit¨at nicht mehr nur m¨oglich w¨are, sondern notwendig.

Da dies aber nicht sein kann, folgt, dass man die Existenz nicht mit Existenz – oder auch Nichtexistenz – beschreiben kann. Das Zweifeln an der Existenz ist somit immer ein Zweifeln des Typs B: Wir zweifeln immer daran, ob die Existenz an etwas anderem eintrifft, ob also etwas anderes Existenz hat.178

177Ar-R¯az¯ı,Mab¯ah. it¯, Bd. 1, S. 26,16:Id

¯i ’l-aˇsy¯a’u ’l-muttafiqatu f¯ı ’n-nau‘i mutas¯awiyatun f¯ı ’l-ah. k¯ami.

178Die gesamte Diskussion findet sich in ar-R¯az¯ı,Mab¯ah. it¯, Bd. 1, S. 25,21-27,11.

Wenn wir also sagen

”Wir wissen, was die Existenz ist, zweifeln aber daran, ob sie sich einstellt“, dann kann damit nur gemeint sein, dass wir zweifeln, ob sie sich selbst an einem Anderen einstellt, und nicht, ob sich an ihr eine weitere Existenz einstellt. Somit kann die Existenz keine zweite Existenz und jene zweite keine dritte aufnehmen. Aus all diesen Ausf¨uhrungen folgt aber auch, dass die Existenz keinen eigenen

”Inhalt“ hat, der existieren k¨onnte. Sie ist eben

”inhaltsleer“.

Im Dokument Existenz bei Fahr ad-Dīn ar-Rāzī (Seite 120-124)