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Evangelische Allianz und Religionsfreiheit

S i n A u f r u f

zu

Gunsten der Lutheraner der Ostseeprovinzen Rußlands und gegen die, durch die griechisch-orthodoxe Kirche dieses Reiches gegen sie

ausgeübte Verfolgung.

Verfaßt aus Auftrag des Organisationsrathes der Evangelischen Allianz für England.

B o n

Edward Steane, v. v.,

Ehren-Secretair.

Aus dem Englischen übersetzt.

B ü r e a u der Evangelischen A N a n z , 7, Adam S t r e t , S t r a n d , London.

D i e r e l i g i ö s e n V e r f o l g u n g e n i n den Ostseeprovinzen R u ß l a n d s .

Die wunderbare Weise, in der die Vorsehung Gottes die Bestrebungen der Evangelischen Allianz in ihrer den Verfolg­

ten dargereichten Hülfe unterstützt hat, hat die Augen und die Hoffnungen derjenigen, welche in vielen Ländern um ihres Gewiffens willen leiden, derselben zugewandt. Dieses hat denn auch der Allianz selbst den Weg ihrer Pflicht gewiesen, auf welchem, indem sie ihn ferner verfolgt, sie hoffen darf, noch verschiedenen christlich religiösen Gemeinschaften Dienste leisten zu können.

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-Länder, sowohl römisch-catholische, als auch protestantische, die fast eben so unduldsam waren, als die Evangelische Allianz gegründet wurde, haben große und unerwartete Fortschritte in der Erkenntniß der Grundsätze gemacht, für welche sie eintritt.

Für die Anwendung dieser ebenso gerechten als wesent­

lich christlichen Grundsätze stützt sich die Allianz, in allen Fäl­

len, nicht auf politische, sondern ausschließlich auf religiöse Gründe. Sie steht zugleich ganz auf dem Boden des Evan­

geliums. Die goldue Lehre des Christenthnms ist ihr Leitstern.

Sie verlangt, daß menschliche Obrigkeiten sowohl als einzelne Menschen das Gesetz des Erlösers der Menschheit achten und ehren. Indem sie sich als christliche Obrigkeiten bekennen, und weder als atheistische noch heidnische, liegt ihnen die Pflicht, die heilige und willig zu erfüllende Pflicht ob, der bindenden Kraft des großen ethischen Grundsatzes des Christenthums ein­

gedenk zu sein: „Was Ihr wollt, daß euch die Menschen thnn sollen, das thut Ihr ihnen auch."

Die Mitglieder der Evangelischen Allianz sind sich wohl bewußt, daß politische Rechtschaffenheit mit moralischer Unge­

rechtigkeit nicht bestehen kann. Sie glauben, daß die wahre Politik der Staaten und Königreiche im innigsten Verbände mit den Anforderungen der geoffenbarten Religion stehe. Sie sind auf's innigste überzeugt, daß, indem sie sich unerschütter­

lich, und mit festem Entschluß jeder religiösen Verfolgung ent­

gegenstellen, sie einen Weg einschlagen, der grundsätzlich mit der Sicherheit und der fortschreitenden Entwicklung der Na­

tionen im Einklänge steht. Ihre tiefste Überzeugung giebt ihnen die Zuversicht, daß, indem sie für ihre Mitchristen aller Glaubensrichtungen und aller Länder das nueiugefchränkte Recht freier Religionsübung verlangen, sie nur dasjenige beanspruchen, was unbedingt nothwendig ist, um die Eivilisatiou auf ihre

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sicherste Grundlage zu stellen, um Harmonie in die Verhält­

nisse zwischen den Regierenden und deu Regierten zu bringen, und den Frieden und die Wohlfahrt der politischen Genossen­

schaften jedes Namens und jeder Art zu fördern.

Aber wiewohl sie diese Ansichten haben, fo enthalten sie sich dennoch, ihre Bestrebungen durch Argumente, welche sie aus denselben entnehmen könnten, zu unterstützen. Sie wün­

schen es zu umgehen, die Sache der religiösen Freiheit mit die­

sen und ähnlichen Betrachtungen zu vermengen, und sich in ihrer Befürwortung derselben auf ihr eigenes Gebiet zu be­

schränken. Daher enthalten sie sich, die Diplomatie der Staats­

männer zu ihrer Beihülfe herbeizuziehen. Sie versuchen es nicht, die Beherrscher des einen Landes dazu zu vermögen, ofsiciell sich bei denen des andern Landes zu verwenden. jWeder rufen sie politische Ideen an, noch streben sie darnach, einen politischen Geist hervorzurufen. Von allen solchen Hülfsmitteln halten sie sich absichtlich ferne.

Die Art und Weise, deren sie sich zu bedienen streben, ist ausschließlich die der Beweismittel und der Überzeugung.

Tief werden sie von dem Gefühl des Unrechts ergriffen, wel­

ches dem Christenthum angethan wird, wenn Christen zu ge­

genseitigen Verfolgern werden, und Hann bemühen sie sich, denjenigen, der das Uebel begeht, dahin zu briugen, daß er mit ihnen dieselbe Überzeugung theile.. Wenn sie den Schrei der Verfolgten vernehmen, der ihre Theilnahme und ihre Hülfe anruft, so erwacht in ihren Herzen das lebendige Gefühl des Mitleids, und dann suchen sie die Ansteckung ihres Mitgefühls in fo vielen Christenherzen zu verbreiten, als sie erreichen kön­

nen, damit sie endlich bis zu den Herzen derjenigen dringe, welche der Verfolgung Einhalt zu thun vermögen.

Sie achten die ganze christliche Brüdergemeinde, ohne An­

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sehung der verschiedenen Nationalitäten, oder irgend welchen andern conventionellen Umstandest

Die bürgerlichen Verhältnisse der Christen sind verschie­

den, je nach den Sitten und Gesetzen der Länder, die sie be­

wohnen. Ihre politischen Beziehungen variiren, je nachdem sie Bürger von Republiken, oder Unterthanen von Monarchen sind. Aber außer allem dem, und weit darüber erhaben steht ihre große Auszeichnung, die ihnen allen geniein ist — sie sind CHRISTEN. Dieser erhadeue Name bedingt ein Band, welches stärker uud inniger ist, als keines von den andern, welche sie unter einander verbinden, weil es sie alle mit Christo vereinigt. Sie sind durch dasselbe Blut erkauft, — sie beten denselben Gott an, — sie gehen alle derselben Selig­

keit entgegen. Dieß ist das Licht, in welchem ihre Mitchristen von den Gliedern der Evangelischen Allianz angesehen werden.

Und indem wir sie in diesem Lichte betrachten, ist die Prüfung derer, welche um ihres Gewissens willen leiden, nicht mehr ausschließlich die Ihrige' — sie ergeht auch über uns, denn

„wir sind ein Leib in Christo" und „wenn ein Glied leidet, so leidet der ganze Leib mit ihm."

In den frühesten Zeiten des Christenthums giugen die Verfolgungen und Proseriptionen aus dem Heidenthum hervor.

Die „Apologien" Tertullians und Justins waren an heidnische Kaiser gerichtet, wahrend die Welt sich über die Jünger Christi mit Bewunderung aussprach: „Seht, wie diese Christen sich gegenseitig lieben!" Spätern Zeiten war es vorbehalten, das Bild umzukehren. Nun führen Christen nur zu oft einen in­

ner» Krieg gegen einander. Vorstellungen gegen Unduldsam­

keit wurden an christliche Könige und Kaiser gerichtet. Der eiserne Huf der Gewalt, welcher das christliche Gewissen in den Staub tritt, ist selbst, seiner Erklärung nach, ein christ­

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licher, ja sogar oft — (ein unnennbares Gefühl der Scham ergriff uns, indem wir das Wort aussprachen) ja sogar oft geistlichen Standes. Solche, welche die Kirche zu leiten ha­

ben, wetteifern in der Vergewaltigung mit den Lenkern des Staates, und treiben die letztern an, schärfere Streiche zu füh­

ren, als sie, sich felbst überlassen, geben würden. Wenn der schändliche Flecken der Verfolgung das weiße Kleid der Kirche besudelt, — dieses Sinnbild sowohl ihrer Reinheit als ihrer Friedensliebe, — so haben die Hände von Männern der Kirche ihn dort angebracht. Solch' ein schändliches Mahl hätte der Ungläubige nie ihrem schönen Angesicht aufbrennen, noch je eine fo tief freffeude Wunde ihrem Herzen beibringen können.

Die Evangelische Allianz hat nicht unbedeutende Erfah­

rungen von der Wahrheit des hier Gesagten gemacht. Sie ist kein Neuling auf diefem Felde. Ihre Geschichte, so kur- sie auch noch ist, liefert nur zu viel Thatsachen, welche die bittere Unduldsamkeit bestätigen, mit welcher Christen im Stande sind, ihren Mitchristen gegenüber zu handeln. Nicht über solche, die wegen Verbrechen und Vergehen, oder wegen Jntrignen, bösen Anschlägen und Verschwörungen, noch als Beförderer von Anarchie und Revolutionen, von ihrer Obrigkeit verfolgt wurden, hat die Allianz jemals ihren schützenden Schild gehal­

ten. Dieses waren nicht die Unthaten, deren Schuld man ihnen beimessen konnte. Sie hatten den Gesetzen Gehorsam geleistet, sie waren in Rechtschaffenheit ihrem Nächsten gegen­

über gewandelt; sie hatten ihre Obrigkeiten geehrt und geach­

tet, und indem sie, dem Beispiele des erhabenen Stifters ihres Glaubens treu „mit gutem Gewiffen vor Gott gelebt hatten", hatten sie unter ihren Mitbürgern alle Tugenden des gesell­

schaftlichen Lebens an den Tag gelegt. Sie waren mit einem Worte aufrichtige Bürger uud friedliebende Unterthanen gewesen.

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Was hatten sie denn aber gethan, um die Schande und die grausame Verfolgung zu verdienen, unter der sie litten?

Die Antwort kann mit wenigen Worten gegeben werden.

Sie waren schuldig erfunden, einer Form des christlichen Glaubens zu folgen, welche in einigen wenigen Punkten von derjenigen ihrer Landsleute abwich und aber ganz besonders von" derjenigen des bevorzugten Theils derselben, deren Glau­

bensform von dem Staate unter seinen besonderen Schutz ge­

nommen war. Sie hatten die Kühnheit gehabt zu denken, daß wenn der Allmächtige Gott ihnen Erkenntniß und ein Gewissen verliehen hatte, es seine Absicht war, daß sie beides frei ge­

brauchen sollten, um Wahrheit vom Jrrthum zu unterscheiden.

Sie hatten den Muth gehabt, die Bibel — dieses heilige ge­

segnete Buch, welches Er ihnen gegeben hatte, zur Hand zu uehmen — uud ohue die Erlaubniß weder eines Papstes noch Priesters, es zu lesen, über demselben zu beten und mit An­

wendung des eigenen Urtheils, seine für die Ewigkeit bestimm­

ten Früchte für sich felbst zu sammeln. Sie hatten sich er­

dreistet, anstatt die Cathedrale oder die Gemeindekirche zu be­

suchen, sich in einer Hütte, oder in einem Walde oder sonst an irgend einem entlegenen Orte zu versammeln, weit ab aus dem Bereich menschlicher Beobachtung, und daselbst ihren Schöpfer und Erlöser uuter sich uud auf ihre eigene Weise anzubeten. Sie hatten die Saeramente nicht ans den Händen des vom Staate angestellten Geistlichen empfangen wollen, um sie von den Hirten ihrer eigenen Wahl, von den Dienern ihrer eigenen Kirche zu nehmen. Mit einem Worte, sie waren nicht im Stande gewesen „Schiboleth" zu sagen, denn sie vermoch­

ten es nicht auszusprechen und sie haben „Siboleth" gesagt.

Dieses siud die Verbrechen, um dereu willen treue Christen durch die Lenker von Staaten, in denen man die christliche

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Religion bekennt, ja mehr noch als bekennt, — in denen sie durch das Gesetz eingeführt ist — entehrt worden sind; dafür ist ihre Habe consiseirt, sie selbst in den Kerker geworfen, und sind ihre Familien zu Grunde gerichtet worden. Deswegen wurden welche der Schmach körperlicher Züchtigung unterwor­

fen und Andere aus der Heimath und dem Vaterlande getrie­

ben und schleppen ein elendes Leben in Verbannung und Knecht­

schaft dahin.

Wegen Vergehen solcher Art, sind rechtschaffene gute Menschen gezwungen worden, den Kelch bitterer Leiden bis auf die Hefe zu leeren, mit dem todeswürdige Verbrecher und Menschen, die außerhalb des Gesetzes stehen, aus Mitleiden verschont wurden. Im bürgerlichen Rechte legt das Gesetz der Strafe den Maaßstab des Verbrechens an, aber für solche vermeintliche Vergehen, welche nichts Verbrecherisches an sich haben, ist die auferlegte Strafe immer von der allerstrengften Art. Der religiöse Verfolger erblickt ein Verbrechen, wo ver­

nünftigere Menjchen höchstens eine unschuldige Eigenthümlich-keit erblicken würden. Ganz so wie jene andere Art von ver-abschennngswürdigen, in den eivilisirten Staaten beinahe ganz ausgerotteten Tyrannen, von denen das Wort gilt:

„In schwerer Schuld erscheint der Bruder ihm, Weil ihn der Schöpfer nicht mit gleicher Färb' bedacht Und mit der Macht verfeh'n, das Böfe zu vollführen, Ersieht er sich, aus diesem Grund allein,

Den, der gleich ihm, nach Gottes Bild geschaffen Zur willenlos, ihm anserkornen Beute."

Wenn Christen das Unglück trifft, unter einer Obrigkeit stehen zu müssen, die, obwohl sie sich eine christliche nennt, dennoch die Lehren des Christenthums soweit vergißt, und sich seinem Geiste dergestalt entfremdet, daß sie sich zu Verfolgern

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herabwürdigt, wohin können dieselben dann ihren Blick anders nach Theilnahme wenden, als zu ihren Mitchristen, welche in freien Ländern leben? Gewisse Verpflichtungen haben ihren Grund im natürlichen Gefühl, gewisse andere in den mensch­

lichen Gesetzen. Aber diejeuige Verpflichtung, welche einen Christen dazu verbindet, seinen verfolgten Mitchristen zu Hülfe zu kommen, beruht auf einem tiefern Grunde, als jene beiden, uud der Tag wird kommen, an welchem es zum ewigen Schrecken aller Verfolger heißen wird:

„Was I h r gethan habt den geringsten unter meinen B r ü ­ dern, das habt Ihr Mir gethan."

Die Evangelische Allianz hat nicht gezögert, dem Ruf ihrer leidenden Brüder Gehör zu fcheukeu, noch ihnen zn Hülfe zu eilen. An verschiedenen Orten in der Christenheit hat sie ihren wohlthütigen Einfluß ausgeübt, und ihren Gliedern ist es ge­

stattet, sich über die Fortschritte zu freuen, welche viele Natio­

nen in den letzten Jahren in der Richtung einer vollständigen Gegenfeitigkeit des religiösen Gefühls unter ihren Angehörigen gemacht haben. In einigen Fällen wurden organische Gesetze abgeschafft, welche mit der Freiheit der Religionsübung unver­

einbar waren.. In andern wurden solche Gesetze, obwohl sie noch in den Gesetzbüchern verblieben, doch nicht mehr ange­

wendet, nnd sind für den practischen Gebrauch veraltet, wäh­

rend wieder in andern neue Verfassungen eingeführt wurden, gereinigt von intoleranten Gesetzen und vom Geiste der Un­

duldsamkeit. Oesterreich hat das Coneordat aufgelöst, welches sowohl in Beziehung auf Religion als auf die Schule, seine Selbstregierung erstickte, und es in die ehernen Fesseln des Papstthums schlug, während die protestantischen Bevölkerungen von Böhmen und Ungarn nun von neuem religiösem Leben durchdrungen, mit Jubel ihre neue Glaubensfreiheit begrüßen.

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In Deutschland werden die Baptisten nicht mehr belästigt, noch die römischen Katholiken in Schwedrn. Die alte walden-sische Kirche, die während Jahrhunderten versehmt war, geht nun wieder im freien Bewußtsein ihrer Würde aus den Hoch-thälern der Alpen hervor, und steigt, reich an apostolischer Wahrheit, herunter in die Ebene des befreiten uud einigen Italiens, um sich daselbst mit andern freien Kirchen zu ver­

mengen. Und endlich beeilt sich Spanien, welches das Joch unter dem es so lange seufzte, abgeworfen hat, für alle Formen religiöfer Glaubensbekenntniffe unparteiische Unverletzlichkeit und Freiheit zu verkündigen.

ll.

Aber mitten in diesen, nun so allgemein und weit ver­

breiteten Jubel der Freude hinein dringt eine tiefe, trauervolle und lang unterdrückte Klage von taufenden protestantischer Christen aus den Ostseeprovinzen Rußlands, welche gegen das Unrecht appelliren, das ihnen die Griechische Kirche jenes Kai­

serreichs anthnt. Von allen europäischen Regierungen ist Ruß­

land die allerletzte, welche sich anschickt, die Fesseln des reli­

giösen Despotismus zu lösen; von allen Kirchen des Christen­

thums ist die russisch-griechisch-orthodoxe in praetischer Bezie­

hung die unduldsamste. In den früheren Fällen wurde die Vermiteluug der Evangelischen Allianz nur von wenigen ver­

einzelten Brüdern in verschiedenen Gegenden nachgesucht, — wie die Madiai in Toseana, Matamoros, Caraseo und Ge­

nossen in Spanien, — aber nun ertönt der Schrei aus ganzen Provinzen, welche einst sich ihres protestantischen Glaubens und der damit verbundenen Privilegien unter dem unvergeßlichen Helden und Beschützer des protestantischen Glaubens, Gustav Adolf, erfreuten, — die aber nun von Allem was ihnen in

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religiöser Beziehung lieb und thener war, durch die ruchlose Hand griechisch-orthodorer Verfolgung, fast gänzlich beraubt sind.

Aber wir müssen die Thatsachen so systematisch und ruhig darstellen, als es uns möglich ist, damit unser Anfrns an alle Zweige der Evangelischen Allianz, darauf begründet, desto besser verstanden werde, und eine um so bereitwilligere Antwort erhalte.

Es ist uuuöthig, die frühere Gefchichte der fraglicheu Provinzen zu erzählen. Es sind ihrer drei. Ehstland, Livland und Curlaud. Die zwei ersteren gehörten seiner Zeit zur Krone Schweden, wurden aber von derselben vor etwas mehr als 150 Jahren an Rußland abgetreten. Die Bevölkerung aller drei ist zum großen Theile deutschen Ursprungs, spricht deutsch und bekennt sich zur lutherischen Kirche. Derjenige Theil der Bevölkerung, welcher nicht deutsch ist, besteht aus Letten und Ehsten. Aber auch diese sind durchaus Lutheraner wie die Deutschen, und sind thatsächlich deutsch, bis auf die Sprache.

Unter der milden Regierung des Kaisers Alexanders 1.

hatten die Provinzen Frieden, und waren verhältnißmäßig glücklich. Der Kaiser achtete ihre Privilegien, und that was er konnte, um ihr Wohlergehen zu befördern.

Eine große Veränderung trat unter Kaifer Nicolans ein.

Strenge Beschränkungen der Freiheit jeder Art, ganz beson­

ders derjenigen des Glaubens, wurden eingeführt; das Land wurde gegen den Einfluß fremder Literatur und die Fortfchritte der Wiffenfchaft und der Civilifation des übrigen Europa ge­

genüber verschlossen. Das intelleetuelle Leben der Völker, auf jede mögliche Weise gehemmt, verfiel in den Zustand einer fast gänzlichen Stagnation; und daß der evangelische Glaube und das religiöse Leben nicht ganz zu Grunde ging, das kann

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nur seiner ihm wesentlich inne wohnenden Lebenskraft, und der Hülfe einer überschwenglichen Gnade zugeschrieben werden.

Der Vertrag, durch welchen Ehstland und Livland an Rußland abgetreten wurden, garantirte denselben das Recht protestantischer Religionsübung, und der Erziehung ihrer Kin­

der im protestantischen Glauben. Allein diese Garantien, so­

wie die alten Gebräuche und Institutionen des Landes, wur­

den verletzt, indem die unduldsamen Gesetze des russischen Reiches den Ostseeprovinzen aufgezwungen wurden. Ein Bi-fchofsfitz der griechischen Kirche wurde in Riga errichtet, in der bestimmten Absicht, die Vorrechte der protestantischen Kirche umzustürzen, und das Volk vom lutherischen Glauben abwen­

dig zu machen. Von diesem Zeitpunkte an wurde ein heftiger und unablässiger Kreuzzug gegen sie geführt, der besonders gegenwärtig wieder in großer Thätigkeit ist, und nichts als ihre endliche Ausrottung herbeizuführen droht.

Durch den schändlichsten Betrug, welcher gegen die Ein­

falt der Bauern in's Werk gesetzt wurde, sind viele Tausende von ihnen zur griechischen Kirche übergeführt worden. Ver­

sprechungen und Verführungen jeder Art wurden angewendet, um sie zu einem freiwilligen Abfall von ihrem althergebrachten Glauben zu bewegen, wie z. B. Befreiung vom Militärdienst, Erlaffung von Abgaben, Erziehung ihrer Kinder auf Krons­

kosten, Zuerkennung von Grundbesitz, und Anstellung im öffent­

lichen Dienste. Getäuscht durch diese Aussichten, ist es kaum zum Verwundern, daß eine große Anzahl, besonders aus den dürftigen Klassen, dem Fallstrick zur Beute fiel, und das um so eher, als sie zu jener Zeit durch Huugersnoth im bittersten Elend waren. Denn es ist wohl nnnöthig zu sagen, daß keine von diesen glänzenden Versprechungen erfüllt wurde. Es war auch nie die Absicht gewesen, sie zu erfüllen. Sie wurden an­

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gewendet, und zwar mit vollem Bewußtsein, um diejenigen, die daraus hören würden, in die Falle zn locken, und nachdem sie diesem elenden Zweck entsprochen hatten, wurden die Opfer dieses schändlichen Verraths mit Verlust ihrer Privilegien und vernichteten Hoffnungen und mit der bittern Reue über ihren

Abfall sich selbst überlassen.

Es wurdeu wandernde Priester unter sie gesandt, welche unter verschiedenen falschen Vorwänden viele Übertritte er­

schwindelten; es gehörte zur Politik der Russen, den Anschein hervorzurufen, als ob das Volk aus sreien Stücken den eigenen Glauben verlasse, um sich der griechischen Kirche anzuschließen.

So brachte einst ein heimlicher Agent der griechischen Kirche nach einem Privatgottesdienste ein Papier zum Vorschein, in russischer Sprache geschrieben, welche die Gemeinde nicht ver­

stand, von dem er sagte, es enthalte eine Petition, um die Regierung zu bitteu, ihnen eine größere Räumlichkeit für ihre Versammlungen (damals noch angeblich nach der Weise der Herrenhuter Brüdergemeinde) anzuweisen, dessen sie sehr be­

durften, uud forderte sie alle aus, es zu unterzeichnen. Sie

durften, uud forderte sie alle aus, es zu unterzeichnen. Sie