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Die „Euthanasie“-Opfer

Im Dokument Psychiatrie des Todes (Seite 66-69)

sterilisation und „Euthanasie“ an Bewohnern der Neinstedter Anstalten 1934 - 1943

3. Die „Euthanasie“-Opfer

Die Abtransporte von geistig behinderten Menschen aus Neinstedt, die wir mit den

„Euthanasie“-Morden in Bernburg in Verbindung bringen müssen, begannen am 30. September 1938.24An diesem Tag wurden 73 Männer und Frauen aus Neinstedt in die Landesheilanstalt Jerichow verlegt. Diese Verlegung in eine staatliche Ein-richtung, die bereits geraume Zeit vor dem Beginn der T4-Aktion im April 1940 stattfand, läßt keine eindeutigen Rückschlüsse auf das Schicksal der Menschen zu.25 Wir können jedoch nicht ausschließen, daß diejenigen, die sich zu Beginn der Akti-on noch in Jerichow aufhielten, schließlich Opfer der „Euthanasie“-Morde in Bern-burg wurden. Auf jeden Fall markiert der 30. September 1938 den Beginn der Ver-legungen von geistig behinderten Neinstedter Bewohnern in staatliche Einrichtun-gen, die zum ‘Einzugsbereich’ der „Euthanasie“-Anstalt Bernburg gehörten. Es folgten dann zunächst in größeren und schließlich in kleineren Zeitabständen Abtransporte nach Altscherbitz und Uchtspringe.

Über die Verlegungsdaten und die Anzahl der verlegten Bewohner gibt uns eine noch existierende „Pfleglingsliste“ des Elisabethstiftes Auskunft. In diesem Be-standsbuch finden wir die Bewohner namentlich eingetragen und zusammen mit dem eingestempelten Vermerk „Entlassen“ auch die staatlichen Anstalten

aufge-führt, die vermutlich Zwischenstationen auf dem leidvollen Weg der Menschen nach Bernburg

waren.

Die „Pfleglingsliste“ wurde bis zum November 1943 geführt und verzeichnet seit dem 30. September 1938 insgesamt 744 „Entlassungen“. Davon wurden in Einrich-tungen, die uns als „Zwischenanstalten“ bekannt sind, verlegt:

- in die Landesheilanstalt Altscherbitz: 467 Menschen - in die Landesheilanstalt Uchtspringe: 86 Menschen - in die Landesheilanstalt Jerichow: 73 Menschen.

Es lassen sich sowohl Einzelverlegungen als auch Verlegungen größerer Bewohner-gruppen nachweisen. Die folgenden sind besonders auffällig und stehen vermutlich direkt mit der T4-Aktion in Verbindung:

24.3.1940 6 Bewohner entlassen: Uchtspringe

29.4.1940 14 Bewohner entlassen: Alleringsleben

29.1.1941 326 Bewohner entlassen: Altscherbitz

24.4.1941 63 Bewohner entlassen: Altscherbitz

13.5.1941 42 Bewohner entlassen: Altscherbitz

Die letzte in die „Pfleglingsliste“ eingetragene Entlassung nach Altscherbitz datiert vom 6. Mai 1942. Nach Uchtspringe und in andere staatliche Einrichtungen wurden bis zum 26. November 1943 Bewohner in größeren und kleineren Gruppen gebracht.

Der Liste können wir auch entnehmen, daß bis zum August 1944 63 Bewohner in Neinstedt verblieben. Sämtliche Entlassungen wurden mit der Unterschrift des damaligen Vorstehers Pastor Sommerer eingeleitet.

Wir wissen, daß nicht nur durch den Gasmord in Bernburg das Leben der aus Neinstedt deportierten geistig behinderten Menschen bedroht war. Auch die Zustän-de in Zustän-den oft überfüllten Zwischenanstalten waren physisch und psychisch lebens-bedrohlich. Machen wir uns zudem noch bewußt, wie panisch Menschen mit einer geistigen Behinderung häufig auf jede Veränderung ihres Lebensumfeldes reagieren, dann können wir ahnen, was sie durchlitten haben; und wir können vermuten, daß viele der Deportierten schon die extremen Belastungen in den Zwischenanstalten nicht überlebten. So müssen wir davon ausgehen, daß die meisten der „Entlassenen“

entweder in Bernburg oder in den Zwischenanstalten Opfer der „Euthanasie“-Aktion wurden.

Zeugen der Abtransportierten bestätigten, daß einige der Neinstedter Bewohner ahn-ten, warum sie verlegt wurden.26Die meisten der Abtransporte aus Neinstedt fanden mit Sonderwagen der Bahn statt, die an die fahrplanmäßig fahrenden Züge an-gehängt wurden. Den Weg von der Einrichtung zum nahegelegenen Neinstedter Bahnhof legten die Bewohner und das begleitende Pflegepersonal in der Regel zu Fuß zurück. Es war daher möglich, die Abtransporte zu beobachten. An einige der Transporte erinnerten sich Zeugen in den achtziger Jahren. Sie berichten von Ausru-fen Behinderter wie „Wir wissen schon, wo die uns hinbringen, was die mit uns ma-chen“ oder „Helfen Sie mir doch! Ich will nicht weg und umgebracht werden“. Aus diesen Äußerungen spricht Todesangst. Zumindest einigen der behinderten Men-schen muß bewußt gewesen sein, was mit ihnen geschah. Andere Zeugen wiederum schildern Abtransporte von fröhlich singenden Menschen. Man habe ihnen angeb-lich gesagt, sie kämen in ein Heim, wo es schön sei und sie viel singen würden.

Wir wissen sicher von einer deportierten Bewohnerin, die der Ermordung in Bern-burg entkam. Sie gehörte zu den 326 Menschen, die am 29. Januar 1941 von Nein-stedt nach Altscherbitz verlegt wurden. Damals war sie 25 Jahre alt, drei Jahre zuvor hatte man sie zwangssterilisiert. Viele Jahre später war es möglich, sie nach den Ge-schehnissen in Altscherbitz zu befragen. Auch ihre Erzählungen schildern Momente großer Angst, die geistig behinderte Menschen bei der für sie spürbaren beständigen Lebensbedrohung auf dem Weg nach Bernburg durchleben mußten:

Bewohnerin: Dann kam ich nach Altscherbitz.

Frage: Mit dem Auto?

Bewohnerin: Nein, mit dem Zug, Transport, Dort habe ich in der Küche gear-beitet. Als ich mit der Arbeit fertig war, hat die Schwester gesagt:

„Setz dich draußen in den Liegestuhl“. Da kam ein Mann und zog mich an den Haaren und schubste mich auf die Erde. Ich habe mir das Knie aufgeschlagen. Ich habe den Mann in den Draht ge-schubst, wo gebaut wurde. Ich bin weggelaufen.

Frage: Wohin?

Bewohnerin: Auf den Boden. Dort habe ich mich hinter den Kartons versteckt.

Frage: Was ist mit den anderen passiert?

Bewohnerin: Da war ein Auto.

Frage: Ein grauer Bus?

Bewohnerin: Nein, ein Auto ohne Fenster. Da kamen alle hinein. Sie wurden totgemacht.27

Aus den weiteren Äußerungen der Bewohnerin läßt sich nicht eindeutig entnehmen, ob sie dem Weitertransport nach Bernburg entkam, weil sie kräftig genug war, um sich zu wehren, oder als Arbeitskraft in der Küche gebraucht wurde. Sie deutete in ihren Schilderungen auch an, daß der persönliche Einsatz einer Schwester sie vor dem Abtransport bewahrte. Die Bewohnerin lebte nach Beendigung der T4-Aktion noch längere Zeit in Altscherbitz und kehrte im April 1953 nach Neinstedt zurück.

4. Rettungsversuche

Auch in Neinstedt galten die Verlegungen offiziell als „kriegsnotwendige“ Maßnah-me. Da die Abtransporte jedoch regelmäßig von Betreuungspersonal aus der Ein-richtung begleitet wurden, erfuhren einige Mitarbeiter mehr. Eine Zeugin, die wahr-scheinlich 1941 zwei Transporte mit der Bahn nach Uchtspringe begleitete, erinner-te sich: „Beim zweierinner-ten Transport habe ich in Uchtspringe eine dortige Mitarbeierinner-terin nach einem Pflegling des ersten Transportes gefragt, der vor vier Wochen passiert war. Ich wollte den Jungen noch mal besuchen. Sie: Aber wo leben Sie denn? Die sind nicht mehr da!“28Die Zeugin hat sich daraufhin geweigert, weitere Verlegungen zu begleiten.

Als Leitung und Mitarbeiter zu ahnen begannen, was sich hinter den „kriegsnotwen-digen“ Maßnahmen verbarg, gab es neben der Weigerung, bei der Durchführung der Transporte mitzuhelfen, Bemühungen darum, geistig behinderte Menschen vor der Deportation zu bewahren. Das geschah - wie auch in anderen Einrichtungen - durch Entlassungen zu Eltern oder anderen Angehörigen, zu Pflegeeltern oder Pflegestel-lungen sowie durch die Vermittlung in Arbeitsstellen innerhalb und außerhalb der Einrichtung. Uns sind auch Berichte von Verpflichtungen als Dienstmädchen in Mit-arbeiterfamilien, als Gärtnergehilfen oder Beschäftigte in den Neinstedter Betrieben bekannt. Die Abtransporte der Bewohner mit den Linienzügen machten es außerdem möglich, daß benachrichtigte Angehörige noch während des Transportes an den ver-schiedenen Haltepunkten behinderte Verwandte aus dem Zug holen konnten.

Auch diese Entlassungen geschahen mit der Unterschrift des Vorstehers Pastor Som-merer. Zeitzeugen berichten, daß er und andere Mitarbeiter, darunter der leitende Anstaltsarzt Dr. Nobbe und der ehemalige 2. Anstaltspfarrer Pastor Richter, persön-lich um die private Unterbringung von Bewohnern bemüht waren. Eine wichtige Rolle bei den Rettungsaktionen spielten auch Pastor Knolle und seine Frau. Pastor Knolle, der zur Zeit der T4-Aktion als Wehrdienstpfarrer Dienst leistete, organisier-te nach Informationen über einen bevorsorganisier-tehenden Transport 1941, unorganisier-ter beraorganisier-tender Hilfe von Friedrich von Bodelschwingh, von Bethel aus ‘Rettungsverlegungen’.

Da auch diese Entlassungen in die „Pfleglingsliste“ des Elisabethstiftes eingetragen sind, läßt sich die Gesamtzahl der in Familien oder privaten Arbeitsstellen Unterge-kommenen bestimmen. Die Liste verzeichnet von Oktober 1939 bis November 1941 227 solcher Entlassungen. Ein Zeitzeugenbericht schildert, daß im Laufe der Zeit die Rettungsversuche immer schwieriger wurden. Offensichtlich bekamen die zuständi-gen Behörden Kenntnis davon und setzten einen Beauftragten ein, um die Abtrans-porte besser kontrollieren und erneute Rettungsversuche unterbinden zu können. Da-nach sollen weitere Bemühungen der Anstaltsmitarbeiter erfolglos geblieben sein.29 Wir dürfen nicht davon ausgehen, daß mit den gelungenen eigenmächtigen Entlas-sungen die Menschen sicher vor dem „Euthanasie“-Mord bewahrt waren. Auch hier wissen wir leider kaum etwas über ihr weiteres Schicksal. Uns sind nur wenige Ein-zelfälle von Bewohnern bekannt, die bis zum Kriegsende, manchmal auch darüber hinaus, in den Familien und Arbeitsstellen verblieben und zum Teil dann in die Nein-stedter Anstalten zurückkehrten.

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