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Erinnerungskompetenz in der vielheitlichen Gesellschaft

Im Dokument Das postkoloniale Klassenzimmer (Seite 24-28)

nen. Im Ersten Weltkrieg entstanden in Brandenburg zwei Gefangenenlager, in denen muslimische Kriegsgefangene der Entente-Mächte untergebracht waren. Dort startete das Reich ein ausgeklügeltes Programm, um diese Gefangenen zu Dschihadisten auszubilden, die dann gegen ihre ehemaligen kolonialen Unterdrücker kämpfen sollten. Im „Halbmond“-Lager entstand in diesem Zusammenhang auch die erste Moschee auf deutschem Boden, deren Bild auf Postkarten weltweit verbreitet wurde, um die Freundschaft des Reiches zu den Muslim:innen propagandistisch zu dokumentieren.

Die Geschichte des deutschen Imperialismus und Koloni-alismus kann in diesem Rahmen nur kursorisch behandelt werden. Allerdings ist sie trotz einer gewissen Konjunktur in den letzten Jahren insgesamt keineswegs erschöpfend er-forscht – vor allem auf lokaler Ebene lohnt es sich, Untersu-chungen anzustellen. Welche Bauwerke, welche Straßenna-men, welche Personen, welche Wirtschaftszweige, welche Infrastrukturmaßnahmen im Umfeld der eigenen Schule und des eigenen Wohnortes hatten etwas mit dieser Ge-schichte zu tun? Die Bewegung der Geschichtswerkstätten in den 1970er Jahren hat ein recht ausgeklügeltes Arsenal an Methoden entwickelt, damit auch sogenannte Laien histori-sche Forschung betreiben können. „Die Beschäftigung mit Geschichte“, heißt es im Vorwort eines Sammelbandes von 1985, „wird nicht mehr länger der Fachwissenschaft über-lassen, sondern als gemeinsamer Arbeits- und Lernprozess von vielen (...) praktiziert. Dabei erfährt der Begriff Kompe-tenz eine erweiterte Definition.“23 Viele der Methoden von damals sind in der Didaktik aufgenommen worden,24 doch ob sich das immer in den konkreten Unterricht vermittelt, das sei dahingestellt. Jedenfalls würde sich die hier erzählte Geschichte des Imperialismus für zahlreiche Lernprojekte anbieten, in denen kollaborativ geforscht werden könnte.

Im Vorwort des Sammelbandes wird auch die „Subjekti-vität von Geschichtsarbeit“ angesprochen, die als letztlich nicht vermeidbare „Begrenztheit“ des eigenen Blicks nicht verleugnet werden dürfe. Im erwähnten Lehrplan von NRW wurde die „Lebenswelt“ der Schüler:innen angesprochen, die zweifellos einen Teil dieser „Subjektivität“ ausmacht.

Allerdings darf diese Lebenswelt nicht von den Lehrenden vorgegeben werden. Es wäre sicher nicht zielführend, die Schüler:innen aufgrund ihrer Herkunft auf bestimmte Pers-pektiven festzulegen. Die Herkunft ist gerade für Schüler:in-nen – im Gegensatz zur Auffassung vieler Lehrenden – alles andere als selbstverständlich.

Die unterschiedlichen Zugänge werden sich während der Recherchen ohnehin herausschälen. So wird etwa die Frage nach den Orten, an denen die Vorfahren gelebt haben (im Übrigen auch die der Lehrenden), eine zerklüftete, trans-nationale Karte entstehen lassen, auf der sich Positionie-rungen ergeben. Diese PositioniePositionie-rungen finden nicht not-wendig alle im Hinblick auf Deutschland statt. So war das Osmanische Reich lange ein aggressiver imperialer Faktor und spielte lange auf dem Balkan eine große Rolle, bevor es selbst zum Objekt imperialistischer Bestrebungen wur-de. Das historische Panorama dürfte so kompliziert sein

23  Hannes Heer / Volker Ullrich: Die „neue Geschichtsbewegung“ in der Bundesrepublik, in: dies. (Hg.): Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Reinbek: Rowohlt 1985, S. 21.

24  Vgl. etwa Klaus Bergmann: Multiperspektivität. Geschichte sel-ber denken, Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2016 (3. Aufl.); Hilke Günther-Arndt / Meik Zülsdorf-Kersting (Hg.): Geschichtsdidaktik.

Praxishandbuch, Berlin: Cornelsen 2020 (8. Aufl.).1985, S. 21.

wie die Vielheit in den Klassen selbst. Allerdings können die Lernenden auch ganz andere lebensweltliche Zugänge finden. Vielleicht wählen sie die globale Klimakrise als Ausgangspunkt ihrer Forschung – und wollen herausfinden, was die Machtbeziehungen im Zeitalter des Imperialismus damit zu tun hatten.

Für den Unterricht bieten sich auch die Bildwelten jener Zeit als Material an. Im Netz und in frei zugänglichen Archi-ven lassen sich Hunderte von Bildern aus den deutschen überseeischen Kolonien finden, in denen weiß gekleidete Deutsche abgelichtet sind, die von ihren schwarzen Unter-tanen umgeben sind. Die Bilder eignen sich für eine rassis-muskritische Analyse, weil sich an ihnen zeigen lässt, wie die Trennung zwischen „Wir“ und „Ihr“ konstruiert wird – welche Unterschiede eine Rolle spielen (Hautfarbe), wie Differenz bewusst akzentuiert wird (weiße Haut, weiße Kleidung) und wie die Bilder zugleich eine soziale Differenz vermitteln (hierarchische Anordnung). Als Vergleich ließen sich anthropologische Bilder aus dem „Osten“ heranziehen.

Die „rassische“ Weltanschauung des Nationalsozialismus wurde nicht zuletzt in der Schule vermittelt – mit den ent-sprechenden Bildern des Slawischen und Jüdischen. Diese Analysen der rassistischen Trennung von „Wir“ und „Sie“

in Bildern ließe sich auch als eine Art mediale Alphabeti-sierung verstehen, um aktuelle Bilder zu verstehen. Bilder, wie sie während der europäischen Schuldenkrise oder der sogenannten Flüchtlingskrise zu sehen waren oder immer wieder im Zusammenhang mit dem afrikanischen Konti-nent oder Ländern, in denen überwiegend Muslim:innen leben, zu sehen sind.

Dass die Rassismuskritik ein Thema für die Didaktik wäre, darüber kann kein Zweifel bestehen. Karim Ferei-dooni und Nina Simon haben jüngst einen Sammelband

mit dem Titel Rassismuskritische Fachdidaktiken heraus-gegeben: eine verdienstvolle Arbeit mit – im Gegensatz zu vielen Didaktikwerken – sehr konkreten Beispielen für den Unterricht. Allerdings ist es erstaunlich, dass der deutsche Kolonialismus eigentlich nur in einem Text eine größere Rolle spielt und das auch nicht direkt, sondern als Kontext für die exotistische Kunst der Künstlervereinigung „Die Brücke“ auftaucht. In einem Text, der sich mit historischer Didaktik befasst, wird zur Illustration der Fall der Sarah Baartman erwähnt (einer schwarzen Frau aus Südafrika, die in Europa als „Hottentotten-Venus“ ausgestellt wur-de) – deren Geschichte aber spielt hauptsächlich in London und Paris. Die Abwesenheit des deutschen Kontextes ist umso verwunderlicher, da heute noch zahlreiche kolonia-le Bezüge im Leben der Schükolonia-ler:innen präsent sind. Das Schimpfwort „Kanake“ etwa, das auch von Jugendlichen mit Migrationshintergrund als ironische Bezeichnung verwen-det wird, stammt ursprünglich aus dem pazifischen Raum:

Die ethnische Gruppe der Kanaken lebte und lebt noch in Neu-Kaledonien. Dieses Gebiet, das keine deutsche Kolonie war, gehörte zu Melanesien und wurde im Gegensatz zum vom Reich besetzten Polynesien keineswegs als Paradies, sondern als barbarisch und gefährlich betrachtet – die pe-jorative Bedeutung hat also eine Kontinuität, die aus der Kolonialzeit stammt. Ebenso zu Melanesien gehörten die Fidschi-Inseln und daher ist es nicht mehr so überraschend, dass in den neuen Bundesländern die Bezeichnung „Fidschi“

als Beschimpfung verbreitet ist.

Die Vielheit der Schulklassen kann eine Ressource sein, um die neuralgischen Punkte der Erinnerungskultur mit der zukünftigen Bevölkerung der Republik zu diskutieren. Wie kann an die Shoah, den Kolonialismus und die vergessenen Opfer der Vernichtungskriege so erinnert werden, dass kein

Wettbewerb oder eine Verdrängung entsteht? Wie verhalten wir uns zu einem „nationalen Erbe“, das auf Ausbeutung basiert? Wie gehen wir mit Raubgut um, das in deutschen Museen liegt, und wie mit den Forderungen nach Repara-tionen und Rückgaben? Das betrifft Forderungen aus euro-päischen Ländern wie Griechenland ebenso wie solche aus Übersee, etwa von den Nachfahren der Völkermordopfer in Namibia. Schließlich: Wie finden wir einen Umgang mit den eigenen Privilegien und den globalen Ungleichgewichten, die eine Folge der europäischen und westlichen Sklaverei und Kolonialherrschaft sind? Die Geschichte des Imperialis-mus und die Erinnerung an vergangenes Unrecht „betrifft“

tatsächlich alle Schüler:innen, und das Interesse daran ist auch enorm. Nicht nur, weil es sich um ein weniger präsen-tes Thema der Geschichte handelt, sondern auch, weil sich aus Vergangenheit eine Verantwortung ableitet, individuell wie kollektiv.

Die Kinder und Jugendlichen im heutigen Bildungsbe-trieb haben an den Konflikten und Verbrechen der Vergan-genheit keinen direkten Anteil, zumal wenn es um den deutschen Kolonialismus geht. Das macht die Diskussion nicht unbedingt einfacher, aber es entbindet von einfachen moralischen Schuldzuweisungen. Die Klassen können ein Raum sein, in dem die zukünftige, vielheitliche Erinne-rungskultur mit ihren unterschiedlichen Positionierungen, Herkünften und Überlieferungen – mit Moderation durch die Lehrenden – ausprobiert wird. Dieser Raum hat eine un-schätzbare Bedeutung, denn zurzeit ist noch gar nicht klar, wie diese Erinnerungskultur aussehen kann. Damit wird die Vielheit der Klassen zum Lernort par excellence. Was dabei auch gelernt wird, ist der Umgang mit Widersprüchen, die Kunst des Streits, das Ausfechten von Problemen, also Demokratie.

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