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Ergebnisse und Auswirkungen der Wissensproduktion (1970er-Jahre)

1971 erschien als erste der hier behandelten Studien die Publikation Jugend und Ge-sellschaft. Wegzeichen zu einer Jugendpolitik, welche die Nationale Schweizerische Unesco-Kommission (NSUK) und die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Ju-gendverbände (SAJV) initiiert hatten. Sie wurde in deutscher Sprache im Zürcher Verlag Benziger und mit dem französischen Titel Jeunesse et société. Jalons pour une politique de la jeunesse im Lausanner Verlagshaus Payot publiziert. Sie um-fasste rund 200 Seiten und ihr Einband zierte eine Schwarz-Weiss-Fotografie mit einer Nahaufnahme, die eine Gruppe junger Menschen zeigte. Optisch sehr ähn-lich präsentierten sich die Zürcher Studien Zur Unrast der Jugend. Auf der sozio-logischen Hauptstudie (1974) sowie der volkskundlichen und der pädagogisch-so-zialpsychologischen Teilstudie (beide 1975), die alle drei in der Reihe «Soziologie in der Schweiz» publiziert wurden, war ebenfalls eine Schwarz-Weiss-Fotografie mit vier jungen Menschen, die in ein Gespräch vertieft schienen.1 Nüchterner war der Bericht der Studiengruppe des EDI gestaltet, der 1973 erschien. Es war dies ein dünner Band, dessen Titel Überlegungen und Vorschläge zu einer schweizerischen Jugendpolitik in schwarzen Lettern auf lindengrünem Cover prangte (Abb. 22–24).

Diese Publikationen waren das handfeste Resultat der im vorhergehenden Kapitel analysierten Produktionsprozesse von Wissen zu Jugend. Zwischen den Buchdeckeln mit den Abbildungen von Jugend waren die Bilder, welche die Stu-dienverantwortlichen von den Jugendlichen zeichneten: Schlussfolgerungen und Problemdiagnosen zu Jugend sowie jugendpolitische Vorschläge zur Lösung der eruierten Probleme. Diese Inhalte sowie die Frage nach deren Rezeption und deren politischer Umsetzung untersuche ich im vorliegenden Kapitel.

Die Studien entstanden im Laufe des «dynamischen Jahrzehnts»,2 das durch einen rasanten gesellschaftlichen Wandel geprägt war. Der Historiker Ulrich Herbert zeigt, wie in allen Ländern des kapitalistischen Westens als Antwort auf diese Transformationsprozesse krisenhafte Lern- und Anpassungsprozesse statt-fanden.3 Diese begannen bereits in den späten 1950er-Jahren, verstärkten sich in den 1960er-Jahren und setzten sich bis in die 1980er-Jahre fort. Deren Kernphase zwischen 1959 und 1973/74 bezeichnet Herbert als widersprüchliche

1 Als erster Band der Reihe «Soziologie in der Schweiz» wurde 1974 das Buch Die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft von René Levy und Thomas Held veröffentlicht. Auch diese Studie war am Lehrstuhl von Peter Heintz entstanden. Die soziologische Zürcher Jugendstudie war Band 2 dieser Reihe. Die volkskundliche und die sozialpsychologische Studie erschienen zusammen als Band 3. Einzig die psychologische Studie (1976) wurde nicht in dieser Reihe pu-bliziert.

2 König/Kreis/Meister et al. 1998, S. 12.

3 Herbert 2002, S. 31, 40, 49.

zeit: Auf der einen Seite hielt die Orientierung an traditionellen Normen und Lebensweisen an.4 Auf der anderen Seite fanden wirtschaftliche und technische Modernisierungsprozesse statt sowie eine Modernisierung und Liberalisierung von Lebensweisen und -normen und politischen Einstellungen «im Sinne von Partizipation, Pluralität und Abbau hierarchischer und autoritärer Strukturen».

In dieser Übergangsphase standen «traditionelle Orientierungen und kritische Gegenkonzepte» oft jahrelang «nebeneinander und in beständigem Konflikt».5

Ich verstehe die Jugendstudien und die Debatten um die Schaffung einer Jugendpolitik als Ausdruck dieser Lern- und Anpassungsprozesse und als eine Strategie, um sich in dieser Umbruchphase zurechtzufinden. Über Jugend als Stellvertreterdiskurs, so meine These, wurde der gesellschaftliche Wandel be-schreibbar und es wurden normative Vorstellungen und gesellschaftliche Ord-nungsmodelle verhandelt. Die Studien machen dieses Nebeneinander zwischen bewahrenden, rückwärtsorientierten Normen einerseits und dynamischem Wandel andererseits in verschiedener Hinsicht evident: Einerseits thematisierten die Studienverantwortlichen vor allem die negativen Auswirkungen des gesell-schaftlichen Wandels auf Jugend und deuteten «Jugendprobleme» als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Problematik. Dies wird in Kapitel 5.1 deutlich, in dem die wichtigsten Themen und Motive der Studien sowie die Schlussfolgerungen und Problemdiagnosen der Autoren analysiert werden. Andererseits entwarfen

4 Ebd., S. 12, 49.

5 Ebd., S. 31.

Abb. 22–24: Die Covers der drei Jugend-studien von 1971, 1973 und 1974.

die Autoren der Studien mit ihren jugendpolitischen Leitbegriffen auch Gegen-konzepte und nahmen einen Perspektivenwechsel vor, den man im Trend des von Herbert beschriebenen Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesses deuten kann. In Kapitel 5.2 werden die wichtigsten jugendpolitischen Vorschläge und Ideen zur Umsetzung einer Jugendpolitik nachgezeichnet. Dabei wird deut-lich, dass sich die Studienverantwortlichen von einer protektiven und paterna-listischen Jugendhilfepolitik ab- und partizipativen Politikmodellen zuwandten.

Die Widersprüchlichkeit dieser Prozesse zeigt sich weiter daran, dass Anspruch und Realität deutlich auseinandergingen. Leitbegriffe wie Partizipation und Mit-bestimmung blieben auf einer theoretischen Ebene und die traditionellen Per-spektiven wurden zumindest teilweise fortgesetzt.

Schliesslich verdeutlicht auch die Rezeption der Studien in der Öffentlich-keit, die Thema von Kapitel 5.3 ist, das Nebeneinander unterschiedlicher Ju-gendbilder und jugendpolitischer Konzepte. Mit der Publikation der Studien erweiterte sich der Kreis, in dem über Jugend und die Umsetzung einer Jugend-politik diskutiert wurde, nochmals. In diesem ausgedehnten und vielschichtigen Meinungsbildungsprozess wurden das produzierte Wissen, die Vorschläge und Modelle für eine Jugendpolitik erneut transformiert. Das letzte Kapitel 5.4 geht der Frage nach, was von den jugendpolitischen Vorschlägen tatsächlich umge-setzt wurde. Hier bestätigt sich die Erkenntnis, dass die Studienverantwortlichen ihren Anspruch an Partizipation nicht realisieren konnten und die präsentierten jugendpolitischen Vorschläge sowie deren Umsetzung mehrheitlich einer tradi-tionellen Jugendhilfepolitik verhaftet blieben.

5.1 «Isoliert» und «am Rand der Erwachsenengesellschaft»:

Das Jugendbild der Studien

Am Anfang aller drei Studien standen die Feststellung eines bestimmten Pro-blems oder Phänomens in Bezug auf Jugend und die Frage nach dessen Ursa-chen. In der Unesco-Studie Jugend und Gesellschaft wurde im Vorwort darauf hingewiesen, dass «die heutige Jugend […] zum Teil oder gänzlich von der ver-schieden ist, die man früher gekannt hat».6 Die Autoren stellten Antworten in Aussicht auf die Frage, wieso «die heutige Jugend beim Abschluss ihrer ‹Lehre›

des gesellschaftlichen Lebens ein ganz anderes Gesicht aufweist als das bisher ge-wohnte».7 Im Vorwort des Berichts der Studiengruppe des EDI wurde festgehal-ten, dass sich eine Minderheit von Jugendlichen im Staat «nicht mehr zuhause»8 fühle. Diese Jugendlichen würden Werte und Institutionen infrage stellen und sich weigern, politische Verantwortung zu übernehmen. Bei den Zürcher Studien war es schliesslich die Frage nach den Gründen der «Unrast der Jugend», die zu den 68er-Unruhen geführt hatten, welche die Untersuchung leitete.

Im vorliegenden Unterkapitel arbeite ich die zentralen Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Studien heraus und frage danach, welches Bild die Auto-ren von den Jugendlichen und ihAuto-ren Lebensbedingungen in der Schweiz zeich-neten und welche Gründe und Erklärungsansätze die Autoren für die eruierten Phänomene präsentierten. Dabei fokussiere ich vor allem Gemeinsamkeiten zwi-schen den Studien. Wie gezeigt, handelte es sich bei Jugend und Gesellschaft, der soziologischen Hauptstudie Zur Unrast der Jugend aus Zürich und dem Bericht Ueberlegungen und Vorschläge zu einer schweizerischen Jugendpolitik aus Bern um voneinander unabhängige Projekte mit je eigener Entstehungsgeschichte, Vorgehensweise und unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Dennoch folgten die Studienverantwortlichen ähnlichen Argumentationsmustern und zogen bei-nahe identische Schlüsse, während markante Unterschiede oder gegensätzliche Schlussfolgerungen kaum zu finden sind: Sie konzipierten Jugend als gesell-schaftliche Kategorie und der soziale Wandel war die zentrale Analysekategorie.

Ein besonderes Augenmerk lege ich bei der Analyse der Ergebnisse auf die in den Studien verwendeten Metaphern. Metaphern reduzieren zum einen Kom-plexität und vermitteln komprimiert Informationen, zum anderen erzeugen sie auch einen Bedeutungsüberschuss.9 In Rekurs auf Hans Blumenberg verstehe ich Metaphern als «Sichtlenkung»,10 welche die Wahrnehmung leiten. Eine ähnliche Bedeutung misst Hayden White Metaphern zu. Er legt dar, wie die Metapher nicht nur abbildet, sondern Anweisungen gibt, wie sie interpretiert oder gelesen werden soll. Sie vermittle uns, «welche Bilder wir in unserer kulturell kodierten

6 Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 11.

7 Ebd., S. 19.

8 Bericht Studiengruppe des EDI 1973, S. 9.

9 Peter/Knoop/Wedemeyer et al. 2012, S. 52.

10 Blumenberg 1998, S. 99.

Erfahrung aufrufen müssen, um festzustellen, wie wir gegenüber dem dargestell-ten Gegenstand empfinden sollen».11 Durch diese Funktion der «Sichtlenkung», so meine These, transportierten die in den Studien verwendeten Metaphern auch normative Vorstellungen und spielten eine wichtige Rolle in der Betonung von Handlungsbedarf und für die Formulierung jugendpolitischer Massnahmen.12

Weiter greife ich in diesem Unterkapitel ein Desiderat der Forschung zur

«Verwissenschaftlichung des Sozialen» auf. Verschiedentlich wird gefordert, die Konzentration auf nationale Kontexte aufzuweichen und transnationale Zirkula-tionsprozesse von Wissen besser zu berücksichtigen.13 Zu diesem Zweck werden am Schluss dieses Unterkapitels die Ergebnisse der Studien im internationalen Forschungskontext situiert. Dabei wird deutlich, dass sich diese in einen inter-nationalen wissenschaftlichen Diskurs einschrieben und geprägt waren von da-mals bekannten Studien zu Jugend, wie etwa derjenigen von Margaret Mead und Friedrich H. Tenbruck.

Jugend und Gesellschaftswandel

Die Studienverantwortlichen fanden die Antworten auf die eingangs erwähnten Fragen nach den Gründen für die «Unrast» der Jugendlichen, für ihre «Anders-artigkeit» und dafür, dass sie sich im Staat nicht mehr zu Hause fühlten, im dynamischen kulturellen und gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit.

Die Autoren von Jugend und Gesellschaft suchten beispielsweise nach Gesell-schaftsumbrüchen, «die es verständlich machen, dass die heutige Jugend zum Teil oder gänzlich von der verschieden ist, die man früher gekannt hat».14 Die eruier-ten Probleme wurden insofern als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Problema-tik und als Folge einer Störung der Gesellschaft gedeutet. Mit dieser Blickrich-tung folgten die Studien einem internationalen Trend: Ab Mitte der 1960er-Jahre rückte Gesellschaft als wichtige Kategorie ins Zentrum der Aufmerksamkeit.15 Das Individuum erschien nun als «Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse»,16 geprägt durch politische, soziale und ökonomische Strukturen.

In den hier untersuchten Studien standen vier Phänomene des Gesellschafts-wandels im Vordergrund: erstens ein Wandel derjenigen Institutionen, die für die «Sozialisierung» der Jugendlichen verantwortlich sind, zweitens ein damit verbundener Wertewandel, drittens die gesellschaftliche und geografische

11 White 1994, S. 142.

12 Auf eine solche Funktion von Metaphern hat etwa das Autorenkollektiv um die Literaturwis-senschaftlerinnen Nina Peter und Christine Knoop verwiesen. Peter/Knoop/Wedemeyer et al.

2012, S. 52 f. Auch Smith zeigt, wie Diskurse und Metaphern Handeln legitimieren können.

Smith 2005, S. 10 f.

13 Reinecke/Mergel 2012, S. 14.

14 Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 11.

15 Janssen 2010, S. 60.

16 Bude 1994, S. 246.

lität Jugendlicher und viertens die Bildungsexpansion.17 Diese Phänomene wei-sen Überschneidungen auf und sind nicht immer klar voneinander abzugrenzen.

Die erste von den Studienverantwortlichen als relevant erachtete Verän-derung betraf die «Sozialisierung» der Jugendlichen. Dieses Konzept wurde ab Mitte der 1960er-Jahre zu einem Schlüsselbegriff jugendtheoretischer Schrif-ten.18 Die Autoren von Jugend und Gesellschaft verstanden darunter die «psy-chologische[ ] und gesellschaftliche[ ] Integration der jungen Menschen in die Gesamtgesellschaft». Konkret gemeint war damit die Tradierung moralischer Werte sowie technischer und praktischer Kenntnisse.19 Mit dem Begriff «Sozi-alisierung» war also eine zentrale normative Funktion von Jugend angespro-chen, wie sie in der Öffentlichkeit verbreitet war und wie ich sie in Kapitel 2.1 dargestellt habe: die intergenerationelle Weitergabe von Werten und Verhal-tensmustern und – damit eng verbunden – die Gewährung gesellschaftlicher und kultureller Kohärenz. Diese Kontinuitätslinie war gemäss den Autoren aber gestört: Bis anhin hätten Jugendliche Werte und Verhaltensmuster von der Familie, der Schule, der Kirche oder der Nachbarschaft übernommen.20 Durch den gesellschaftlichen Wandel schwinde nun aber die Bedeutung die-ser «Sozialisationsinstanzen».21 Sie würden durch die Massenmedien (Presse, Fernsehen), die Unterhaltungsindustrie (Kino, Schallplatten, Taschenbücher), die Werbung, die Konsumgesellschaft und ein neuartiges Freizeitverhalten verdrängt.22

Mit dieser Verschiebung würden sich zweitens auch die Inhalte der Soziali-sation verändern und ein Wertewandel auftreten.23 Traditionelle Wertmassstäbe und Vorstellungen von Staat, Gesellschaft, Autorität und Erziehung schienen sich aufzulösen. Der Bericht der Studiengruppe des EDI hielt fest, dass Jugendliche überlieferte bürgerlich-materielle Werte wie Familie, Vaterland, wirtschaftlicher Erfolg, Leistung und Ordnung durch neue Werte wie Selbstverwirklichung und Mitmenschlichkeit ersetzten.24 Die soziologische Zürcher Studie nannte

17 Bericht Studiengruppe des EDI 1973, S. 20 f.; Blancpain/Häuselmann 1974, S. 18.

18 Synonyme von «Sozialisierung» waren in den Studien «Sozialisation» oder «Vergesellschaf-tungsprozess». Zum Aufkommen dieser Begriffe vgl. auch Sander/Vollbrecht 1998, S. 194;

Janssen 2010, S. 29.

19 Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 18 f., 21, 139–141. Im Bericht Studiengruppe des EDI 1973, S. 20, wurde Sozialisation bezeichnet als «diejenige Phase im Leben, in der ein Mensch zum Angehörigen einer Gesellschaft wird».

20 Im Bericht Studiengruppe des EDI 1973, S. 20, wurden als zusätzliche Sozialisationsinstanzen die Jugendbewegungen genannt.

21 Blancpain/Häuselmann 1974, S. 29; Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 18 f., sprachen auch von «Träger der Vergesellschaftung».

22 Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 19. Vgl. Blancpain/Häuselmann 1974, S. 29 f. Hier argumentierten beide Studien fast identisch. Bericht Studiengruppe des EDI 1973, S. 19.

23 Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 23–33; Bericht Studiengruppe des EDI 1973, S. 22;

Blancpain/Häuselmann 1974, S. 34 f.

24 Bericht Studiengruppe des EDI 1973, S. 22. Zu typisch schweizerischen Werten vgl. Kapitel 2.1.

lich Umweltschutz, Lebensqualität, Originalität und Hedonismus, Jugend und Gesellschaft erwähnte Sinnsuche, Kreativität und Partizipation.25

Drittens massen die Studien der gesellschaftlichen und geografischen Mo-bilität grossen Einfluss auf Jugendliche bei. Die Tatsache, dass viele Jugend liche einerseits einen anderen Beruf ausübten als ihre Eltern und sozial aufstiegen (gesellschaftliche Mobilität) und andererseits für ihre Ausbildung oftmals von ihrem Wohnort weg und in städtische Zentren zogen (geografische Mobilität), habe ebenfalls zur Folge, dass die Jugendlichen in Kontakt mit neuen Einflüssen und Wertvorstellungen kommen würden. Dies würde sie von ihrem Herkunfts-milieu entfremden, weshalb sich ein «Graben» zwischen den Eltern und ihren Kindern öffne.26

Viertens thematisierten die Studien den Einfluss der Bildungsexpansion auf Jugendliche. Seit den 1940er-Jahren war die durchschnittliche Ausbildungsdauer in der Schweiz deutlich angestiegen. Die Anzahl Jugendlicher, die nach der ob-ligatorischen Schulzeit direkt, das heisst ohne Lehre, ins Berufsleben einstiegen, sank stetig und die Absolventen von Berufs-, Sekundar- und Mittelschulen sowie Universitäten nahmen zu. Der Anteil neu abgeschlossener Lehrverträge, gemes-sen an allen Schulentlasgemes-senen, wuchs gemäss Jugend und Gesellschaft von 32,3 Prozent in den Jahren 1940/44 auf 50,4 Prozent im Jahr 1966.27 An der Univer-sität Bern stieg die Zahl der eingeschriebenen Studierenden zwischen 1963 und 1968 um fast die Hälfte von 3249 auf 4826 an. Ähnliche Zuwachsraten waren auch an anderen Universitäten zu verzeichnen.28

Eine Folge der Bildungsexpansion war gemäss Blancpain und Häuselmann die Ausdehnung der Jugendphase, die sich in den Studien in den weit gefassten Altersgrenzen widerspiegelt. Die verlängerte Ausbildung würde den Eintritt Ju-gendlicher ins Erwachsenenalter, das laut der in den Studien verwendeten sozio-logischen Definition von Jugend mit der Heirat und der Erwerbstätigkeit beginnt, verzögern. Zusätzlich verlängert werde die Jugendphase durch einen früheren Beginn der Jugend. Hier kam es zu einer Verschränkung zwischen soziologischen und biologischen Konzepten, wurde dies doch mit dem biologischen Phänomen der «Reifungsakzeleration»29 begründet, einer in den 1950er- und 60er-Jahren verbreiteten Vorstellung, dass die Geschlechtsreife verfrüht einsetze.

Weiter meinten die Jugendstudien, dass die Bildungsexpansion zu einer «Zu-sammenballung in jugendeigenen Räumen und Zeiten»30 führe. Dieses Phänomen nahm in den Studien einen prominenten Platz ein, die Verfasser von Jugend und Gesellschaft widmeten seiner Beschreibung und Analyse sogar ein eigenes Kapitel.

25 Blancpain/Häuselmann 1974, S. 100, 212. Vgl. hierzu auch Häuselmann/Heintz 1976, S. 99 f.;

Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 139.

26 Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 34 f.

27 Zu den Zahlen zu Studenten und Lehrlingen: ebd., S. 36–40.

28 Diese Zahlen nennt Stotzer 2002, S. 42, 51.

29 Blancpain/Häuselmann 1974, S. 23; Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 43, sprachen von «Frühreife im geistigen, affektiven, sexuellen Bereich».

30 Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 47–53.

«Zusammenballung in Raum und Zeit»

Die Autoren von Jugend und Gesellschaft führten aus, dass Jugendliche durch die Bildungsexpansion in der Schule, in der Berufslehre, im Berufsschulunter-richt und im Studium mehr Zeit miteinander verbringen würden und dadurch häufiger und «länger als früher in Gruppen ‹zusammengeschart›»31 seien. Zusätz-lich zu dieser zeitZusätz-lichen Komponente konstatierten die Autoren eine räumZusätz-liche Konzentration Jugendlicher. Sie legten dar, dass deren Ausbildung zunehmend in Räumen stattfinde, wo die Jugendlichen mit Ausnahme einer erwachsenen Lehr-person oder eines Lehrmeisters ausschliesslich unter sich seien.32 Die räumliche Konzentration Jugendlicher führten sie zusätzlich auf die architektonische Be-schaffenheit der Ausbildungsstätten und deren Situierung im städtischen Raum zurück. Dies betraf insbesondere die Universitäten und die Mittelschulen. Sie wurden als «autarke Welten»33 beschrieben, in denen sich Jugendliche fast nur unter Gleichaltrigen aufhielten.34 Hier hatten die Autoren den in den USA schon seit langem existierenden Universitätscampus vor Augen, eine Anlage von For-schungseinrichtungen, Studentenhäusern und Unterrichtsräumen, in der Regel ausserhalb des Stadtzentrums. In der Schweiz war der Campus in den 1960er- und 70er-Jahren hingegen noch kaum verbreitet.35

Dieses Phänomen der «Zusammenballung in Zeit und Raum»,36 so die Au-toren, beschränke sich nicht auf den Bildungsbereich, sondern zeige sich auch in der Freizeit. Jugendliche würden diese zunehmend unter Gleichaltrigen, an bestimmten, ihnen vorbehaltenen Orten und mit «spezifisch jugendgemässen Betätigungen»37 verbringen.38 Die jungen Menschen würden sich dabei «keines-wegs auf das ganze Stadtgelände verstreuen, sondern sich im Gegenteil an ge-nau bestimmten Orten versammeln, die man beobachten und aufzählen kann».39 Dieser Trend bildete sich gemäss den Autoren in der stetig steigenden Zahl von Jugendhäusern, Freizeitzentren oder Sportplätzen ab, die extra für Jugendliche geschaffen würden, sowie in der «Annexion»40 bestimmter Räume durch

31 Ebd., S. 42, vgl. auch S. 47.

32 Gemäss Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 49, wurde das «bunte Bild, dass der Lehr-ling direkt in eine Arbeitsgruppe eingefügt ist, worin alle Altersklassen vertreten sind und der junge Mensch weder über eine eigene Zeit noch über einen eigenen Lebensraum verfügt», von den Berufsschulen und den Lehrwerkstätten in grossen und mittleren Unternehmen abgelöst.

33 Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 138.

34 Ebd., S. 49.

35 Die ETH baute ab 1963 ihren Standort auf dem Hönggerberg aus, www.ethz.ch/de/

die-eth-zuerich/portraet/geschichte/epochen/1911-1968.html. Ein erster Teil des Campus der Universität Zürich beim Irchel wurde erst im Jahr 1979 eröffnet, www.uzh.ch/about/

portrait/history.html.

36 Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 11.

37 Ebd., S. 138.

38 Blancpain/Häuselmann 1974, S. 22.

39 Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 50.

40 Blancpain/Häuselmann 1974, S. 23; Arnold/Bassand/Crettaz/Kellerhals 1971, S. 50, stellten fest, dass Jugendliche solche Räume «annektiert» hätten.

liche.41 Dazu zählten sie Bars, Cafés, Dancings und Kegelbahnen sowie öffent-liche Räume wie beispielsweise das Zürcher Limmatquai, an dem sich am Abend und am Wochenende viele Jugendliche aufhielten.42

Diese Entwicklung werde verstärkt durch die Urbanisierung, die in den Ju-genddebatten ein Dauerbrenner und Teil eines kulturkritischen und antimoder-nistischen Repertoires war. Ängste vor dem schädlichen Einfluss der Stadt auf Jugendliche sind schon in den Fürsorgediskursen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachzuweisen. Die hier untersuchten Studien spielten dabei primär auf die Aus-weitung der Städte in ländliche Gegenden, die Bildung von Agglomerationen und auf Verdichtungsprozesse innerhalb der Städte ab. Der Abbruch alter Quartiere und der Bau grosser Wohnblöcke würden dazu führen, dass sich die Jugendlichen, so die Autoren von Jugend und Gesellschaft, in «relativ beschränkten Räumen […]

begegnen».43 Auch Blancpain und Häuselmann beschrieben, wie es in den Städten zu «räumlichen und zeitlichen Massierungen von Jugendlichen»44 komme.

Die Autoren der Studien betrachteten dieses Phänomen primär mit Besorg-nis. Darauf verweisen die dafür verwendeten Ausdrücke wie «Massierungen»

und «Zusammenballung»45 und die Beschreibungen, wie Jugendliche «zusam-mengeschart»46 seien. Sie entstammten einer Massensemantik, die oftmals nega-tiv konnotiert war. In der Tradition der Massenpsychologie Gustav Le Bons ist die Reaktion auf Massenansammlungen bis heute zumeist von Misstrauen ge-prägt. Massen gelten als irrational, unkontrollierbar, unverantwortlich, anfällig für Manipulation, als potenzielle Unruheherde und somit als gefährlich. Da die meisten dieser Attribute gemeinhin auch Jugendlichen zugeschrieben wurden, stellte eine Masse Jugendlicher gewissermassen eine Potenzierung der Gefahren

und «Zusammenballung»45 und die Beschreibungen, wie Jugendliche «zusam-mengeschart»46 seien. Sie entstammten einer Massensemantik, die oftmals nega-tiv konnotiert war. In der Tradition der Massenpsychologie Gustav Le Bons ist die Reaktion auf Massenansammlungen bis heute zumeist von Misstrauen ge-prägt. Massen gelten als irrational, unkontrollierbar, unverantwortlich, anfällig für Manipulation, als potenzielle Unruheherde und somit als gefährlich. Da die meisten dieser Attribute gemeinhin auch Jugendlichen zugeschrieben wurden, stellte eine Masse Jugendlicher gewissermassen eine Potenzierung der Gefahren