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Er braucht Erfolgserlebnisse, sagt seine Mentorin Petra Meyer-Schefe – und fährt

mit ihm in die Berge.

Sieben Jahre alt war Cem, als er zum ersten Mal seine kleine Hand in meine schob. Das Mentorprojekt „Yoldaş“

der Bürgerstiftung Hamburg, das sich um sozial benachtei-ligte Kinder mit türkischen Wurzeln kümmert, hatte uns zusammengebracht. Yoldaş ist das türkische Wort für Weg-gefährte. Und das sind wir einander seit bald vier Jahren.

Jeden Freitag hole ich Cem (der eigentlich anders heißt) von der Schule ab, dann gehen wir auf den Spielplatz, ins Schwimmbad, ins Museum oder auch mal zum Tierpark Hagenbeck, Elefanten füttern – alles Dinge, die sonst kei-ner mit ihm macht. Die alleikei-nerziehende Mutter, jung, überfordert und schnell genervt, liebt ihren Sohn, weiß aber wenig mit ihm anzufangen. Selbst an schönen Som-mertagen läuft der Fernseher, bleibt das Handy der liebs-te Zeitvertreib. Für Cem eine Katastrophe. Besonders am Montag ist er in der Schule zu nichts zu gebrauchen.

Lesen, Schreiben, Rechnen – alles fällt ihm schwer.

Lernen überhaupt, weil in seinem Kopf immer so ein Durcheinander ist. Keine Minute kann er still sitzen. Ge-fürchtet sind seine Faxen wie seine Wutausbrüche. Seit drei Jahren wird er wegen ADHS (Aufmerksamkeitsde-fizit-/Hyperaktivitätsstörung) mit Methylphenidat, das auch unter dem Handelsnamen Ritalin bekannt ist, behan-delt. Für seine Lehrerinnen in der Grundschule blieb er dennoch ein hoffnungsloser Fall. Ob ich mich beim Thera-peuten nicht mal dafür stark machen könne, dass die Do-sis erhöht wird, fragte mich seine Klassenlehrerin mal. Wie immer tigerte Cem allein und wie ferngesteuert auf dem Schulhof herum, gefangen in seiner eigenen Phantasiewelt.

„Der Junge braucht nicht mehr Pillen, er braucht Erfolgs-erlebnisse!“, erwiderte ich wütend. Und genau die wollte ich ihm mit einer Reise geben. Ein kleiner Schubs für mehr Selbstvertrauen, wenn er auf einer neuen Schule in die 5.

Klasse kam.

Laut der Selbsthilfeorganisation ADHS Deutschland e. V. leiden fünf Prozent aller Kinder in diesem Land un-ter der neurobiologischen Hirnfunktionsstörung. Immer häufiger werden sie deswegen medikamentös behandelt.

Ich hatte die Diskussionen über das Für und Wider von Methylphenidat verfolgt. Meine ablehnende Einstellung dazu hatte sich ein wenig geändert, seit ich Cem kannte.

Ihm half das Ritalin. Wenn auch nur für Stunden. Darüber hinaus aber mangelte es leider an allem, was zu einer gelin-genden Therapie nötig ist. „Mehr als alle anderen Kinder brauchen Kinder mit ADHS einfache und klare Regeln, ei-nen strukturierten Tagesablauf, wenig Reizangebote durch Fernsehen und PC-Spiele und viel Geduld“, erklärt der Kinderarzt Dr. Klaus Skrodzki, selbst Vater eines betroffe-nen Kindes und Beisitzer im Vorstand ADHS Deutschland e. V. „Auch eine gesunde Ernährung ist wichtig, ebenso Sport und Bewegung, um überschüssige Energien in die richtigen Bahnen zu lenken.“ Cem spielte so gut wie nie draußen, und zur Schule startete er meistens ohne Früh-stück.

In dieser einen Ferienwoche sollte endlich mal alles anders sein. Im Internet stieß ich auf ein kleines

Reiseun-24 Allgemeines ADHS Deutschland e. V.

ternehmen, das genau das anbot, was ich mir vorstellte: ein Hüttentrekking für Familien. Kein Luxus, kein Firlefanz, dafür Wanderungen über grüne Südtiroler Almen und Übernachtungen auf Hütten mit Matratzenlager. Sibylle Janssen, Wander- und Geschäftsführerin von „Siabella-Rei-sen“ (www.siabella.de), sah kein Problem darin, ein Kind wie Cem mitzunehmen.

Trotzdem: Richtung Brenner kamen mir Zweifel. Die Fahrt war lang, und Cem strapazierte mit seinem Bewe-gungsdrang die Nerven sämtlicher Fahrgäste. Hätten wir doch besser das Handy mitnehmen sollen? Er war dafür gewesen, ich dagegen. „Du musst auch mal lernen, dich zu langweilen“, erklärte ich Cem. Das hatte ich nun davon.

Endlich Brixen. Raus jetzt! Mit dem Taxi ging es noch gut eine Stunde den Berg hinauf. Cem, der nichts kannte außer Hamburg und ein bisschen Nordsee, verschlief den herrlichen Blick über das Eisacktal hin zu den Dolomi-ten, eingelullt von unzähligen Kurven, die so manchem Kind aus unserer Gruppe Übelkeit verursachte. Blass und stumm standen sie am Treffpunkt Kaserparkplatz neben ihren Eltern.

Cem aber sprang herum wie ein Fohlen, die Böschung rauf und wieder runter. „Darf ich auf den Steinhaufen klet-tern?“ Sibylle Janssen lachte: „Du darfst hier alles!“ Die erfahrene Bergführerin mit Sozialpädagogik-Studium und Waldorf-Zusatzausbildung kann gut mit Kindern. Trotz-dem lässt sie sich beim Hüttentrekking gern von ihrem Sohn Johann begleiten, 27 Jahre alt, Geograf, groß, bärtig, sangesfreudig. Ein Abenteurer und Staudammbauer an je-dem Bach!

Acht Erwachsene und sieben Kinder waren wir insge-samt. Vier Jungs und drei Mädchen zwischen neun und elf Jahren. Jeder fand schnell Anschluss. Auch Cem, der schon bald aufhörte, ständig die türkische Fahne zu hissen. Auf dem Schulhof mag die familiäre Herkunft eine Rolle

spie-len, hier aber war er nur ein zehnjähriger Junge, der es ir-gendwie schaffen musste, mit seinem Rucksack den Berg raufzukommen und sich in einer völlig fremden Welt zu-rechtzufinden. Beides sollte ihm schon bald in einem Tem-po gelingen, das mich staunen ließ.

Am nächsten Morgen auf der Stöfflhütte war er nach dem Frühstück so schnell mit den anderen Kindern drau-ßen bei den Hühnern und Meerschweinchen, dass ich völ-lig vergaß, ihm das Ritalin zu geben. Als es mir später wie-der einfiel, marschierten wir bereits über die Villanwie-derer Alm. Die Mädchen streichelten mit Inbrunst Haflinger, die Jungs trödelten an jedem Bachlauf rum und holten uns Er-wachsene, kaum dass es etwas steiler wurde, mühelos wie-der ein.

Oben beim Totenkirchl gibt es einen alten, engen Sil-berstollen, in den man sich gebückt und mit Taschenlam-pen hineinwagen kann. „Wer will mit?“, fragte Johann.

„Ich!“, rief Cem. Und dann zog er mit den anderen Aben-teuerlustigen auf und davon. In Hamburg klebte er wie eine Klette an mir. Ängstlich und ohne Selbstvertrauen.

Hier ging er schon am zweiten Tag seinen eigenen Weg und ließ mich sprachlos zurück. Abends fiel er todmüde ins Bett. So lange war er noch nie an der frischen Luft ge-wesen. Ich las ihm noch ein Kapitel aus „Emil und die De-tektive“ vor, ein Ritual, das ihn jeden Abend als ersten in seinen Schlafsack kriechen ließ, dann schlief er auch schon ein.

Am nächsten Tag ging es weiter Richtung Latzfonser Kreuz. Stolz schulterte Cem seinen Rucksack. Nichts un-terschied ihn von den anderen Kindern. Auch auf das Ri-talin hatten wir am Morgen einvernehmlich verzichtet. „Ich fühle mich wohler ohne“, hatte er gemeint. Hier auf der Alm brauchte er das Medikament auch nicht. Wenn er in

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seine Phantasiewelt abdriftete und mit seinem imaginären Laserschwert gegen Dämonen kämpfte, dann ließen wir ihn. Sobald es anstrengender wurde, der Weg steiniger und abschüssiger, verschwand der Spuk von selbst. Wie sonst hätten wir an unserem zweiten Wandertag schon die 2581 Meter hohe Kassianspitze ersteigen können? Das „Yol-daş“-Team tat sich schwer. „Ich kann nicht mehr!“, stöhnte Cem. Aber wir schafften es. Stolz wie Bolle trugen wir uns ins Gipfelbuch ein. Dann noch ein Selfie. „Das glaubt uns Mama nie!“

Am Abend verabredete sich die Gruppe in der kleinen Wallfahrtskirche vom Latzfonser Kreuz zum Singen. Nur Cem wollte nicht. Der Glaube spielt in seinem Leben kei-ne Rolle, aber welche Lieder kennt er schon? Wer singt mit ihm? Ich ließ ihn allein in der Hütte zurück. Mit einem mulmigen Gefühl. Aber als ich zwischendurch nach ihm schaute, saß er wie ein Alter in der Wirtsstube und spielte Karten mit einer Familie aus Berlin. Es war nicht das erste und letzte Mal, dass ich einen Kloß im Hals hatte.

Jeden Tag traute er sich mehr zu, jeden Tag wuchs er ein großes Stück über sich hinaus. Trotz Höhenangst kra-xelte er einen Kinder-Klettersteig hinauf. Am nächsten Tag beobachtete ich ihn, wie er, der doch eigentlich Angst vor Tieren hatte, völlig versunken ein Haflinger-Fohlen strei-chelte. Auch mit den anderen Kindern lernte er zu spielen, wenngleich das nicht immer einfach war, weil sein Drang, etwas zu zerstören, größer war als jener, etwas aufzubauen.

Aber die anderen sechs nahmen ihn, wie er war, und ließen ihm seinen Raum.

Ein einziges Mal rastete er aus. Als ich ihm sein Schnitzmesser wegnahm, weil er sich wie beim Handy mehr und mehr darauf fixierte. Ich ließ ihn wüten, bis er sich ausgetobt hatte. Danach schlang er die Arme um mich.

„Es tut mir leid!“ Das kaum mit ihm geschimpft wurde, rumgeschrien schon mal gar nicht, auch das war eine neue Erfahrung für ihn. Als er beim Rumtoben mit den anderen Kindern mitsamt Wanderklamotten im Radelsee landete,

schien er kurz die Fassung zu verlieren. Aber dann lachte er, weil alle lachten. Was für ein Erlebnis?! Am nächsten Tag sprang er sogar freiwillig mit der Badehose ins Tiefe.

Mir stockte der Atem, denn ein sicherer Schwimmer ist er nicht, und das Wasser ist eiskalt. Aber er wollte das Floß ans Ufer holen! Keines von den anderen Kindern hatte sich getraut. Nur er!

Viel zu schnell waren wir wieder auf der Stöffl-Hüt-te, wo alles begann. Lauthals feierten wir Abschied. Cem stand barfuß, die Arme schwenkend, auf der Eckbank und sang fröhlich das Lied vom Vogelbeerbaum mit, mit dem wir so oft singend über die Almen gezogen waren. „Halli, hallo, Elisabeth!“ Kerngesund sah er aus, braungebrannt, fit und ausgeschlafen. Und zugenommen hatte er sicher auch, bei all den Kaiserschmarren und Hüttennudeln, die er täg-lich verputzt hatte.

Ich fuhr mit einem anderen Kind nach Hause. Irgend-wo zwischen Kassel und Göttingen, schaute mich Cem an.

„Du hast doch gesagt, dass ich auch mal lernen muss, mich zu langweilen.“ Ja, und? „Ich konnte das aber nicht lernen, weil ich mich die ganze Woche einfach nicht gelangweilt habe.“

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Im Kino geht nach einem solchen Happy-End das Licht an, in Wahrheit aber geht das Leben weiter. Alles blieb beim Alten: das Stubenhocken, das Handygedaddel, das Gezappel, das Ritalin, die Wurschtigkeit der Mutter. Ich gebe zu, nach den Erfolgserlebnissen dieser einen Woche kam mir der Schwung für die Mentorschaft ein wenig ab-handen. Was ging mich das alles eigentlich an? Wozu die-ses Engagement? Aber dann: Was konnte das Kind dafür, dass sein Leben so war, wie es war?

Jetzt treffen wir uns wieder. An einem Freitag im Feb-ruar überraschten wir Sibylle an ihrem Stand auf der Reise-messe in Hamburg. Sie küsste und herzte Cem, und schon sprudelten die Erinnerungen nur so aus ihm raus. „Das war so toll!“, sagte er und strahlte. Und ich dachte: Viel-leicht darf man einfach nicht zu viel erwarten. Weder von einer Reise noch von der Mentorschaft. Vielleicht muss es manchmal einfach genügen, ein Kind für eine kurze Zeit glücklich gemacht zu haben.

AUTORIN | Petra Meyer-Schefe freie Autorin

-An der Lottbek 32 a, 22949 Ammersbek Tel. 040-251 47 24, Mobil: 0151-59 23 30 79 E-Mail: p.meyer-schefe@freenet.de

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