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Finden – Erfinden – Erleben

Im Dokument Ottmar Ette ReiseSchreiben (Seite 70-114)

Kommen wir aber nun endlich zu jener Weltkarte, die im Hintergrund unserer bishe-rigen Betrachtungen stand und so etwas wie der stumme Dialogpartner für die Kar-ten Martin Waldseemüllers und Bordones blieb, die wir bereits in unserer Vorlesung besprochen haben. In seiner faszinierenden, heute imMuseo Navalzu Madrid auf-bewahrten Weltkarte des Jahres 1500 hat Juan de la Cosa diese beeindruckende Ver-räumlichung und ebenso gewaltige wie gewaltsame Vektorisierung des Wissens seiner Zeit von der Welt kartographisch wie in einer Momentaufnahme festgehalten.

Es ist und bleibt, da lege ich mich fest, die eigentliche Verräumlichung und Veran-schaulichung der europäischen Expansion und damit der ersten Phase beschleunig-ter Globalisierung, die von den iberischen Mächten getragen wurde.

Die Weltkarte ist eine Schöpfung von Juan de la Cosa. Der spanische Seemann und Kartograph, der alspilotound späterpiloto mayoran der Expansion Spaniens in den karibischen Raum und entlang der Küstenlinien Südamerikas aktiven Anteil hatte und sich als der wohl versierteste Navigator der spanischen Flotte bei den Ex-peditionen des Columbus, aber auch des Amerigo Vespucci auszeichnete, darf mit seinem kartographischen Meisterwerk wohl als einer der maßgeblichen Schöpfer eines frühneuzeitlich europäischen Welt-Bildes verstanden werden, dessen Konzep-tion bis in unsere heutigen Kartendarstellungen des Planeten Erde fortwirkt. Die Be-deutung von Juan de la Cosa einerseits und von seiner Weltkarte andererseits kann gar nicht überschätzt werden–auch wenn sein Bild der Erde letztlich eine Geheim-karte war, die nur wenigen offenstand. Aber ihre Wirkung war indirekt.

Es ist ein für die Entwicklung der Weltgeschichte, für die Entfaltung Europas und die Expansion des europäischen Kolonialismus entscheidender Zeitpunkt– und ganz gewiss eine Zeitenwende. Mit dieser Karte des Juan de la Cosa tauchen wir ein in die Frühe Neuzeit und in die Entstehungsgeschichte unserer eigenen Welt, die wir noch immer bewohnen und aus der wir noch nicht herausgetreten sind. Eine neue Welt und eine neue Welt-Ordnung waren in Entstehung begrif-fen: Die erste von bislang vier Phasen beschleunigter Globalisierung wirkte welt-weit mit einer Wucht, die man – um den von Goethe geprägten Begriff zu verwenden–sehr wohl alsvelociferisch, als teuflisch schnell bezeichnen könnte.1

1 Vgl. zu der bei Goethe insbesondere zwischen 1825 und 1827 wiederholt auftauchenden Rede von einemvelociferischen Zeitalterim Zusammenhang mit Goethes Konzept einer Weltliteratur Bohnenkamp, Anne:Den Wechseltausch zu befördern. Goethes Entwurf einer Weltliteratur. In:

Goethe, Johann Wolfgang:Ästhetische Schriften 18241832. Über Kunst und Altertum VVI.

Hg. v. Anne Bohnenkamp. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 937964.

Open Access. © 2020 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommericial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110650686-004

Abb.15:MapamundidesJuandelaCosa,circa1500.

Und teuflisch schnell war auch diese Karte, die denReyes Católicosihre weiten Besitzungen vor Augen führen sollte, entstanden. Juan de la Cosa war ein Meister der kartographischen Visualisierung.

Die besondere Relevanz und Bedeutung der kartographischen Leistung des spanischen Seefahrers wird deutlich, wenn wir seine Weltkarte mit jener des Hylacomylus alias Martin Waldseemüller vergleichen, die–im Jahre 1507 ent-standen– zwar erstmals den Namen Amerika auf die von den Europäern neu

‘aufgefundenen’Gebiete jenseits des Atlantik heftete, aber keineswegs die erste kartographische Darstellung des frühneuzeitlichen Weltbildes repräsentiert.2 Die Geheimarchive Spaniens enthielten weit mehr als das, was wir ein Jahrsiebt später auf Waldsdeemüllers Amerikakarte vorfinden können. Waldseemüllers zweifellos epochemachender Entwurf ist durch eine stark die Kontinente und das Kontinentale hervorhebende Darstellungsweise geprägt, die seinem karto-graphischen Weltbild trotz aller historischen Beschleunigung der Entdeckungs-fahrten seiner Zeit etwas sehr Statisches vermittelt, auch wenn seine ‘Neue Welt’sich erst am äußersten Rand der zuvor den Europäern bekannten Welt he-rausschält. Doch die Karte des Juan de la Cosa war etwas ganz anderes.

Juan de la Cosa ist ohne jeden Zweifel ein unmittelbarer Augenzeuge der spanischen Expansion und des Ausgreifens Spaniens auf seine transatlanti-schen Besitzungen. Er ist der vielleicht wichtigste Augenzeuge der ersten Phase beschleunigter Globalisierung und begriff von der Neuen Welt weit mehr als Christoph Columbus, der sich noch in seinem Todesjahr in Asien angekommen wähnte. So enthält Juan de la Cosas Karte eine Vielzahl von Eintragungen, die allein auf seine unmittelbaren Erfahrungen und Befahrungen der weiten Seege-biete, die er bereiste, zurückgehen. Wir haben es hier mit der Funktion des Fin-densoderVorfindenszu tun, die uns ein faszinierend ausagekräftiges Bild von der damaligen Kenntnis der karibischen Inselwelt in all ihrer Diversität liefert.

Aber seine Karte beschränkt sich keineswegs auf das von ihm vor Ort Vorgefun-dene und empirisch Nachgewiesene.

Einen ebenso wichtigen Teil seiner Kartenwelt nimmt dasErfundeneein: die Welt der Fiktionen, Mythen und Legenden. Dabei handelt es sich um Projektio-nen, die Juan de la Cosa etwa auf jenen Teil der Erde richtete, den wir heute als den Fernen Osten bezeichnen. Viele der damals vorhandenen Mythen und Le-genden richteten sich auf diesen Teil der Erde oder wurden dorthin projiziert: an

2 Vgl. die Darstellung in dem ansonsten sehr nützlichen Band von Reichardt, Ulfried: Globali-sierung. Literaturen und Kulturen des Globalen. Berlin: Akademie Verlag 2010., S. 117. Der karto-graphische Entwurf des Hylacomylus ist keineswegs dieerste Weltkarte(S. 117); und Martin Behaims berühmter Globus in Form eines Erdapfels entstand ein halbes Jahrhundert vor den hier für denerste[n] Globusangegebenen vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts (S. 24).

die Ränder der damals (für Europa) bekannten Welt. So finden wir hier etwa Gog und Magog und die von ihnen ausgehende Bedrohung der Fundamente der christlich-abendländischen Welt. Oder auch, um im Nahen Osten zu bleiben, die Heiligen Drei Könige, die aus dem Morgenland in Richtung Bethlehem unterwegs sind, um das Christuskind anzubeten. Oder auch die Königin von Saba, die wir in all ihrer Pracht auf dem afrikanischen Kontinent verortet sehen. Hier aber han-delt es sich nicht um ein Vorgefundenes und von Juan de la Cosa Überprüftes, sondern um ein Erfundenes, das der spanischepiloto mayorin seine Kartenwelt mit derselben Beharrlichkeit und Selbstverständlichkeit einzeichnete, als wäre es eine von ihm festgehaltene Position einer in ihren Umrissen genau erfassten Insel. Diese Mythen und Legenden waren ihm ebenso vertraut wie die von ihm eingezeichneten Küstenstriche.

Das von dem spanischen Kartographen Vorgefundene wie das Erfundene ist freilich in einem Erlebten fundiert, das uns im Kartenbild entgegentritt.

Denn für Juan de la Cosa war nicht nur das von ihm Gefundene und Vorgefun-dene eine gelebte Realität, sondern auch das ErfunVorgefun-dene, das er in seinen Karten getreulich verzeichnete. Wie wäre an der Existenz der Heiligen Drei Könige zu zweifeln gewesen? Finden und Erfinden verbinden sich bei ihm zu einem Erle-ben, das den dritten Term seiner Vorgehensweise ausmacht.

Denn im Lebenswissen des Juan de la Cosa existiert nicht nur das empirisch Gefundene, sondern auch das Erfundene in all seiner Macht und Wirksamkeit.

Die Wirklichkeit reduziert sich nicht nur auf das Empirische, sondern schließt die unterschiedlichsten Erlebensformen mit ein. Der Priesterkönig Johannes ist dabei ebenso gegenwärtig und‘real’wie die Existenz der Insel Cuba, die Juan de la Cosa mit großer Detailfreude ausmalte. Es ist folglich nicht nur die (experimentelle) Fahrung, sondern im eigentlichen Sinne das Erleben, in dem sich Finden und Er-finden miteinander verbinden und jene dreigestaltige Einheit bilden, welche die Karte des Juan de la Cosa so sehr auszeichnet. Seine Verortung des Christophorus, der das Christuskind an das andere Ufer trägt, ist für ihn ebenso gelebte Realität wie die von ihm befahrenen und erfahrenen Küstensäume, die er sorgfältig in seine Karten einzeichnete. Und daran, dass die Mission des Christophorus Colum-bus, des Cristóbal Colón, nicht nur die der Kolonisierung einer‘Neuen’Welt, son-dern auch deren christliche Missionierung war, zweifelte er nicht.

Zugleich zeichnet sich die Weltkarte des Juan de la Cosa durch ihren hohen Bewegungskoeffizienten, durch ihre ausgeprägte Vektorizität aus. Seine Karte aus dem Jahre 1500 enthält nicht nur das erste kartographische Bild Amerikas, das auf uns gekommen ist, sie entwirft nicht nur das avancierteste, mit ungeheurer Präzi-sion das damalige kartographische, nautische und geographische Wissen integrie-rende Kartenbild der Neuen Welt als Teil einer in Aufbau befindlichen neuen Welt-Ordnung, sondern verschränkt dieses Wissen auch mit den seit der Antike

tradierten abendländischen Bildvorstellungen von den außereuropäischen Weltre-gionen.3 Mit einer beeindruckenden Genauigkeit ist bis heute abzulesen, wie in diesem Weltentwurf des spanischen Steuermanns nicht nur ein detailreiches Kar-tenbild der Antillen und einiger zirkumkaribischer Festlandsäume skizziert, nicht nur die geostrategische Bedeutung dieser Region im Zentrum des sich abzeichnen-den amerikanischen Kontinents vor Augen4geführt wurde, sondern all jene okzi-dentalen Projektionen wieder auftauchten, die nun auf eine den Europäern noch

‘unbekannte’Welt gerichtet werden konnten. Juan de la Cosa lässt all diese Ele-mente für uns, für die BetrachterInnen seiner Weltkarte, lebendig werden.

Das Ergebnis ist eine hochkomplexe Verschränkung von Bild und Schrift, von Kartenbild, Bilderschrift und Schriftbild in einer handgemalten Weltkarte.

Wir finden in dieser Weltkarte daher nicht nur eine außerordentlich scharfe Mo-mentaufnahme jener Kartennetze, die von verschiedenen‘Nullpunkten’, verschie-denen‘Greenwichs’aus von Europa über die außereuropäische Welt geworfen wurden, stoßen nicht nur auf das Wissen und die Konfigurationen jener Portu-lane, welche die Schifffahrtslinien im Mittelmeer seit Ende des 13. Jahrhunderts so viel sicherer gemacht hatten, sondern auch auf das Land von Gog und Magog, die Ungeheuer und die Menschen ohne Kopf, die uns mit ihren Augen auf der Brust genauso‘getreu’anblicken wie die Küstenlinien dessen, was man künftig alsGreater Caribbeanbezeichnen sollte. Vieles von dem, was die mittelalterlichen Vorstellungen ausgezeichnet hatte, findet sich nun hier als Projektion in eine frühneuzeitliche Welt, die ihre Fiktionen buchstäblich lebt. Und die nicht zögern wird, viele der einst ins entfernte Asien projizierten Legenden nun in der Neuen Welt zu verorten, wo es dann künftig auch Menschen ohne Kopf beziehungsweise mit dem Kopf auf der Brust geben sollte.

So navigieren wir hinsichtlich Amerikas durch einen neuen und zugleich selt-sam vertrauten Raum, der von den Flotten der großen Seemächte Europas ausge-messen und von den Mythen Europas bevölkert wurde. Alles ist vertraut und im Freud’schen Sinne unheimlich zugleich. Gleichzeitig bewegen wir uns durch das im Verlauf vieler Jahrhunderte in großen Sammlungen zusammengeführte und immer wieder veränderte technologische und mythologische Wissen, das– von vielen Weltgegenden herkommend–in Europa angehäuft und gesammelt worden war. Erst auf der Grundlage dieses Wissens, dieses über den Planeten geworfenen Netzes, macht die Karte Welt. Amerika ist uns vertraut und heterotopisch zugleich:

3 Zu diesen Bilderwelten vgl. u. a. die zahlreichen Abbildungen in Rojas Mix, Miguel:América imaginaria.Barcelona: Editorial LumenQuinto Centenario 1992.

4 Vgl. hierzu auch Cerezo Martínez, Ricardo:La Cartografía Náutica Española de los Siglos XIV, XV y XVI.Madrid: Centro Superior de Investigaciones Científicas 1994, S. 8283 sowie die dazugehörigen Kommentare.

bald schon bevölkert von den Bewohnern Indiens, den Indianern, aber auch von Amazonen und Meerjungfrauen, welche die europäischen Männer mit ihren Rei-zen locken. Amerika wird zu einer europäischen Anderwelt.

Die Lektüre des auf diese Weise Gesammelten–und damit ist im etymologi-schen Sinne eine Verdoppelung gemeint, insofern sich ‘Sammeln’ und ‘Lesen’ aus derselben Quelle speisen5–erzeugt in Juan de la Cosas historischer Moment-aufnahme eine fast schwindelerregende Tiefenschärfe, die nicht nur durch ihre geographisch-historiographische Ausleuchtung, sondern mehr noch durch ihre bewegungsgeschichtliche Dynamik beeindruckt. es wäre unnütz, Finden und Er-finden bei ihm scharf voneinander trennen zu wollen: Beides ist im eigenen Erle-ben verankert.

Wie aber passen technologisches und mythologisches Wissen, geographi-sche und literarigeographi-sche Kenntnisse, Navigations- und Glaubensvorstellungen zusammen? Es wäre mithin gänzlich unbefriedigend und irreführend, wollte man die beiden Traditionslinien abendländischen Wissens künstlich vonein-ander trennen und die eine anachronistisch dem Bereich der Faktizität, die andere jenem der Fiktionalität zuordnen. Bei Juan de la Cosa ist auf eine für seine Zeit gänzlich selbstverständliche Weise das Vorgefundene mit dem Er-fundenen verwoben, so dass man sehr wohl formulieren könnte, dass Ame-rika im Grunde von Europa aus erfunden worden ist, bevor es von denselben Europäern aufgefunden und in die eigenen Kartennetze eingetragen werden konnte.6Auf die faktenschaffende Wirkkraft des Erfundenen, der Mythen, Le-genden und Glaubensüberzeugungen ebenso der Seefahrer wie der Theoreti-ker, ebenso der Reisenden wie der Daheimgebliebenen, hat wie kaum ein anderer schon früh Alexander von Humboldt als der erste Globalisierungs-theoretiker im eigentlichen Sinne aufmerksam gemacht.7Er begriff auf beein-druckende Weise die Gemengelage von Wissen und Wissenschaft, die nicht voneinander zu trennen waren, verstand die Mischung aus Gesehenem und Erlesenem, das auch und gerade die frühneuzeitlichen Reiseberichte durch-zog. Aber hat sich daran seit der Frühen Neuzeit wirklich etwas geändert?

Blenden wir nicht schon immer das Vorgewusste in unsere Betrachtungen mit

5 Vgl. hierzu Sánchez, Yvette:Coleccionismo y literatura.Madrid: Ediciones Cátedra 1999.

6 Vgl. hierzu das Standardwerk von OGorman, Edmundo:La invención de América.México:

Fondo de Cultura Económica 1958.

7 Vgl. Humboldt, Alexander von:Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geo-graphischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert.Vgl. zu dieser Dimension des Humboldtschen Schaffens Ette, Ottmar:

Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens.Frankfurt am Main Leipzig: Insel Verlag 2009.

ein und lenken diese vorgefassten Einstellungen nicht auch unseren Blick auf die europäischen wie die außereuropäischen Gebiete?

Wir werden uns im weiteren Verlauf der Vorlesung mit der für den Reisebe-richt charakteristischen Mischung ausfactsundfictionsausführlicher beschäftigen und dabei den Reisebericht als einefriktionaleGattung bestimmen, in der sich Dik-tion und FikDik-tion (im Sinne von Gérard Genette) miteinander vermengen. Denn es wäre naiv, würden wir diese Gattung der Literatur allein dem Pol der Wahrhaftig-keit, der Information und Dokumentation überantworten. Besonders deutlich scheint mir all dies auf der Weltkarte des Juan de la Cosa am Beispiel nicht nur der karibischen Inselwelt, sondern jenes Teiles der Amerikas zu werden, den wir heute als Mexico bezeichnen. Denn noch vor seiner geographischen Auffindung und Er-oberung ist Mexico– wie sich bei einer genaueren Lektüre der entsprechenden Kartensegmente erschließt–bereits Teil eines weltweiten geschichtlichen Prozes-sesde longue durée. Mexico ist noch vor seiner geographischen Auffindung Teil einer Weltgeschichte oder Globalgeschichte aus europäischer Perspektive.

Denn Mexico beziehungsweise das vizekönigliche Neuspanien existiert an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert noch nicht auf den Kartenwerken der Eu-ropäer; und doch ist es auf diesen bereits global vernetzt und eingebunden. Jahr-zehnte vor dem Erscheinen von Hernán Cortés im Hochtal von Anáhuac zeichnen die Kartenwelten der Spanier ein erstes Bild dessen, was das künftige Mexico erst noch werden wird: ein Teil jener gewaltigen und gewalttätigenEmpresa de In-dias,8jener ersten Phase beschleunigter Globalisierung, die in denCapitulaciones de Santa Fezwischen den Katholischen Königen und Christoph Columbus sowie im Vertrag von Tordesillas zwischen Spaniern und Portugiesen unmittelbar vor und nach der ersten Landung der drei spanischen Schiffe an jenen Küsten, die erst Amerigo Vespucci alsMundus Novus bezeichnen wird, die Verteilung von Macht und Gewalt über die Erdoberfläche für lange Jahrhunderte festlegte.

Es ist ein entscheidender Augenblick der europäischen Expansionsgeschichte:

einer mit Langzeitwirkung für die Macht- und Kräfteverhältnisse auf unserem Pla-neten. Auch wir leben heute noch in einer Welt, die von diesen Entwicklungen ganz wesentlich gesteuert ist und Asymmetrien kennt, die zum damaligen Zeit-punkt entstanden. So ist die erste Sichtbarmachung Mexicos auf europäischen Karten, von der wir wissen, die Visualisierung dessen, was es noch nicht gibt, das aber in seinem Noch-Nicht-Sein oder Noch-Nicht-So-Sein längst zu existieren be-gonnen und konkrete Gestalt angenommen hat. Die Erfindung geht der Findung mithin voraus und bestimmt sie in weiten Zügen.

8 Zur Aktualität dieses Themas vgl. den Roman von Orsenna, Erik:LEntreprise des Indes.

Roman. Paris: StockFayard 2010.

Die einfache Scheidung zwischen Faktizität und Fiktionalität, gleichsam zwischen Wahrheit und Lüge, scheint mir bei weitem zu schlicht zu sein, um der Komplexität jener Wahrheit der Lügen–und der Lügen der Wahrheit– ge-recht werden zu können, von der die jahrtausendealte Wissenszirkulation des-sen, was wir heute als Literatur bezeichnen, im Spannungsfeld von Dichtung und Wahrheit zu berichten weiß.9 Jenseits einer seit geraumer Zeit um sich greifenden Verarmung des Vokabulars, die sich zunehmend auch über die Grenzen des englischsprachigen Raumes hinaus der Unterscheidung zwischen fictionundnon-fictionbedient, scheint es mir aus heutiger Sicht entscheidend zu sein, dass sich das vor Ort Vorgefundene und das Erfundene miteinander in einem Erleben und Erlebten verbinden oder–mit anderen Worten–im Zusam-menhang eines Erlebenswissens stehen, das auch die Rezeptionsvorgänge bei der ‘Auffindung’(oder ‘Entdeckung’) neuer Länder durch die Europäer prägt.

Denn es ist im selben Maße möglich, nicht nur das in Amerika ‘Gefundene’, sondern auch das auf Amerika Projizierte und damit‘Erfundene’zu leben und zu durchleben. Gelebte Findungen und Erfindungen also, wie die Literatur seit ihren Anfängen weiß und welche die Kraft, die Stärke der Literatur ausmachen.

Dies zeigt sich auch bei der Weltkarte, bei der wir dieses Phänomen zum ers-ten Mal studieren können. Der kostbare Karers-tenentwurf von Juan de la Cosas Mappamundiwird damit zum vielgestaltigen, Bild-Schrift und Schrift-Bild mitein-ander transversal verbindenden Medium des Wissens, das die wechselseitigen Verschränkungen von Vorgefundenem, Erfundenem und Erlebtem, welches der Seefahrer, Steuermann und Kartograph festhielt, auf eindrucksvolle Weise sicht-bar macht und uns vor Augen führt. Dabei bilden Finden, Erfinden und Erleben zwar keine Dimensionen, die in diesem kartographischen Meisterwerk scharf und eindeutig voneinander abgrenzbar wären, wohl aber einen wechselseitigen Verweisungszusammenhang, der noch heute auf faszinierende Weise in seiner Relationalität erlebbar und nacherlebbar ist. Würde sich Columbus je auf den Weg gemacht haben, hätte er seine Lügen nicht intensiv gelebt?10 Wäre er zu jenem Entdecker Amerikas geworden, dessen kontinentale Eigenständigkeit er noch nicht einmal begriff? Wäre er zu seinen Entdeckungsfahrten abgesegelt, hätte er den Umfang der Weltkugel wirklich berechnet und die Ausdehnung der Weltmeere nicht erheblich unterschätzt?

9 Ich spiele hier selbstverständlich nicht nur auf Goethes berühmte Titelfindung an, sondern auch auf Vargas Llosa, Mario:La verdad de las mentiras.Barcelona: Seix Barral 1990.

10 Bei Orsenna klingt dies in der letzten Frage seines Erzählers an den Genuesen ähnlich an:

Hättest Du nicht gelogen und zuallererst Dich selbst belogen, würdest Du den Mut gehabt haben, dich so weit gen Westen einzuschiffen?Orsenna,LEntreprise des Indes, S. 372.

Im Dokument Ottmar Ette ReiseSchreiben (Seite 70-114)