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Erfahrungen bei unserer Spurensuche

Im Dokument Als jüdische Schülerin entlassen (Seite 151-156)

"Unserer und Ihrer jugend etwas zum Denken geben"

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Zum Thema

Im Rahmen unserer Nachforschungen waren zunächst wir die Fragenden.

Aber auch uns wurden Antworten abverlangt: ,Yielleicht könnten Sie die beste Information doch aus erster Hand haben - von der anderen Seite, von denen, die es angerichtet haben? Es kann doch unmöglich sein, daß sich niemand mehr erinnert, was geschah." Die Auffassung, auch die lokale Geschichte und ebenso die Alltagwirklichkeit von Verfolgung und Entrechtung der Juden seien hinrei-chend dokumentiert oder gar im öffentlichen Bewußtseins Kassels fest verankert, war zu einem großen Teil unberechtigt. Im Besucherbuch unserer Ausstellung vermerkte eine Besucherin, daß frühere Freundschaften mit Mitschülerinnen ein

"jähes, furchtbares Ende" fanden, als die "schreckliche Zeit" kam; ehemalige Schülerinnen erinnern sich, daß die jüdische Klassenkameradin, "plötzlich nicht mehr da" gewesen sei.

Mit der Ausgrenzung des jüdischen Bevölkerungsteils, der Isolation jüdischer Schülerinnen, ihrem Abgang von der Schule, war ein Erfahrungsbereich geschaf-fen, den allein jene ehemaligen jüdischen Schülerinnen selbst aufklären konnten.

Ihre Erfahrungen und sie selbst dem Vergessen zu entreißen, war das erste Anlie-gen unserer Arbeit.

Zeitgeschichtliche Forschung, die in einem hohen Maße auf die Kornmuni-kation mit Zeitzeugen, Betroffenen setzt, ist vielfältigen Möglichkeiten von Ver-letzungen ausgesetzt. Dies gilt insbesondere bei Menschen, derem Schicksal als Opfer unsere Bemühungen galten und von denen wir nicht wußten, welches Ver-hältnis zur Vergangenheit sie selbst heute haben.

Wenn in einem Brief nach dem Alter des beteiligten Lehrers und danach ge-fragt wurde, ob er diese "schreckliche Zeit" selbst miterlebt habe, dann lag dem die unausgesprochene Befiirchtung zugrunde, man könne es mit einem Angehö-rigen der "Mördergeneration" zu tun haben. Es zeigt auf: welche Barrieren zwangsläufig zwischen ihnen und uns liegen. Lisel Kahn schrieb, daß es für sie noch kein "tiefgreifendes Gespräch" mit Deutschen ihrer Generation gegeben habe.

Die Befragung von Zeitzeugen hat aber auch Barrieren zu respektieren, die in deren eigener Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begründet liegen, die der Befragende berührt: "Ihre Fragen greifen sehr stark hinein in unsere eigenen Auseinandersetzungen mit dem 'Damals' und Ihr Interesse berührt auch bei uns, meinem Mann und mir, sehr vieles, was wir tiefvergraben haben, was aber mehr und mehr hervorgeholt wird, je älter wir werden. Sie haben neue Türen geöffnet-und neue Schwellen müssen dabei überwgeöffnet-unden werden." (L. Kahn)

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Schwierigkeiten der Verständigung, mögliche Verletzbarkeiten entdeckten wir häufig erst dann, wenn es galt, für Phänomene Formulierungen zu benutzen, die im Gespräch unter uns nicht immer problematisiert wurden. Wenn eine Brief-partnerin auf unsere Frage nach ihrer Vertreibung antwortet, sie sei nicht vertrie-ben worden, sondern ausgewandert, so hatten wir ihr eine passive Rolle dort zuge-schrieben, wo sie sich als Subjekt ihrer eigenen Geschichte verstand. Und wenn sie im Hinblick auf die Frage nach "Halbjuden" bat, die unselige Terminologie der Nazis zu vergessen, so machte sie uns darauf aufmerksam, wie sehr zeitge-schichtliche Forschung in der Gefahr ist, die von Verfolgern erst geschaffene Rea-lität mit deren eigener Begriffiichkeit zu erfassen.

Nur ganz wenige unserer Briefpartnerinnen haben im Vergessen, fast alle aber in der Erinnerung an das "Damals", im Fragen an die Geschichte versucht, diese zu "bewältigen". Unter Überwindung von "Schwellen", bereitwillig, mit dem eige-nen Interesse an hstorischer Aufklärung und dem Wunsch, "unserer und Ihrer Jugend etwas zum Denken zu geben" (A. Silber), haben sie ihre Erfahrungen an

uns weitergegeben.

Daß "Bewältigung von Vergangenheit" fiir Juden und im deutschjüdischen Verhältnis eine fortwährende Aufgabe bleibt, die zu keinem "harmonischen" En-de gefuhrt werEn-den kann, liegt aufEn-der Hand. Deutlich wird es, wenn vom Problem der eigenen Identität und den Auswirkungen des Völkermords auch bei denen, die "noch einmal davongekommen" sind, die Rede ist. Wirklich "davongekom-men" ist niemand.

Lisel Goldschmidt Stockholm, 30. Dezember 1983

Unddamitkämen wirzur Frage der eigenen Identität (ach, so schwerzu beantworten):

wenn ich den BegriffIdentität wörtlich nehme, also wie im Konversationslexikon defi-niert, "völlige Uebereinstimmung" meine, ja dann habe ich ja keine Identität mehr.

Obwohl ich Deutsche war und deutsch lebte und dachte, habe ich nicht, wieMarlene Dietrich singt, "noch einen Koffer in Berlin '; bezw. in Kassel. Den Koffer habe ich mitge-nommen. Was darin war, was des Mitnehmens (im übertragenen Sinne also) wert war undmir noch heute wertvoll istan deutschem Kulturgut, daslebt in mirnoch heute weiter.

Wieauch dieSprache, obwohl schwedisch meine eigentliche Umgangs- und Schriftsprache geworden ist.

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Aberwenn ich von "beiuns"spreche (ausser in dem Sinne von"Damals, in meinem El-ternhaus") dann meine ich nicht Kassel und Deutschland, dann meine ichfaktisch Stock-holm und Schweden, woich Wurzeln gefasst undFamiliegegründet habe. Dennnoch kann ich mich kaum als"Schwedin" bezeichnen. weil, siehe oben, da eben die "völlige Ueberein-stimmung" nicht erreicht werden kann, teenn man in einem anderen Land auJiewachsen ist.

Meine einzige wirkliche Identität, die mirgeblieben ist, ist die jüdische. Die ich von Hause mitbekommen habe und die unversehrt geblieben ist und im Laufeder jahre ver-stärkt und erweitert wurde. Dabei hat natürlich auch Israel mitgewirkt, alsdasLand, das uns Substanz gibt und dasunsaufnehmen würde, wenn so etwas noch einmal nötig wer-den sollte ...

Das klingt alles nicht recht logisch - aber, um mit einem schwedischen Dichter zu re-den: "Das dunkel Gesagte ist das dunkelGedachte'; washierganz gut passt.

Armemarie Hoffa Santiago (Chile), 16. Mai 1984 ja, ich habe esfertig gebracht, mit Gottes Hilfe; einfruchtbares Leben ohne vielMate-rielles vomheutigen europäischen Standard, bürgerlich von unserem Standard, im klaren über meine Identität, obwohl vieles dagegen spricht. Ich bin Chilenin, aber doch eigentlich Deutsche; ich binCbnstin, obwohl dochjüdin. Muttersprache habe ich keine, Deutsch ha-beich nierecht gelernt, im Spanischen merktman den Ausländer. Unsere Kinder sprechen nurSpanisch undEnglisch, denn alssie insSchulalter kamen, waren diechilenischen deut-schen Schulen noch nicht entnazifiziert.; der Vater spricht neben dem Spanideut-schen nurEng-lisch.

Ilse Oppenheim KfarMordechai, 4. Mai 1983 Ihr Briefemeichte mich genau zu unserem Gedenktag an den 'Holocaust; jedesjahr begehen wir diesen Tag in Israel. Erfängt an mit dem Heulen der Sirenen anjedem Platz hier. jederMensch steht diese Minuten still, Autos und Verkehr bleiben stehen und ruhen, jegliche Arbeitwirdunterbrochen, Schulkinder stehen still. Esistwieeininneres undäuße-res weinen allderer, die hier leben. Denganzen Tag wirdin Radiound Fernsehen dasThe-ma der Vernichtung dadasThe-mals besprochen.

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Lisel Goldschmidt Stockholm, 5. April 1983

Unser 'Emigrantenscbicksal; wenn wir es so nennen wollen, hat auch die Generation unserer Kinder stark betroffen. Untersuchungen haben erwiesen, daß sie alle irgendwie Schaden erlitten haben durch die Schicksale ihrer Eltern, obwohl sie hiergeboren und auf gewachsen sind, und wirsehen es auch an unseren Mädels, die nun allmählich ihren weg gefunden haben, dieaber, wieauch die Kinder unserer Emigrantenfreunde. sehr vieles 'er-fühlt haben, wovon wirglaubten, sie verschonen zu können oder zu müssen. Dies istoft spät, beiDiskussionen, beiAuseinandersetzungen und auch bei vielen durch Psychothe-rapie, herausgekommen.

Armemarie Hoffa Santiago (Chile), 16. Mai 1984

IhrBrieferreichte mich gerade an demTag,an dem der berüchtigte Nazi undMassen-mörder Walter Rauffhierin Santiago deChile begraben wurde. Die Traueransprache hielt ein evangelischer Pfarrer, und man hörte sehr deutlich .Heil-Hitler'-Scbreie, alsdie Nach-richten darüber am Abendim Fernsehen kommentiert wurden. Siekönnen sich vorstellen, wie uns zu Mute war.

Ungeachtet ihres eigenen und der Schicksale der anderen sehen ehemalige jü-dische Deutsche heute fast nie mit Haß auf die Deutschen schlechthin. Bezeich-nend für diese Haltung sind die Schlußsätze der Ansprache, die der ehemalige Landesrabbiner Robert R. Geis anläßlich der Einweihung des Gedenksteins für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in Kassel am Sonntag, dem 25.Juni 1950, hielt:

"Lassen Sie mich schließen mit einem Gebet, das uns im Talmudtraktat von den Segenssprüchen überliefert ist: 'Gib, Ewiger,mein Gott und Gott meiner Vä-ter, daß in keines Menschenherz Haß aufsteigegegen uns und gegen keinen Men-schen Haß in unserem Herzen aufsteige",'

Rede von Landesrabbiner Dr. Robert R. Geis, in: Schoeps, HansJoachim (Hrsg.):Jüdische Geisteswelt. Zeugnisse aus zwei Jahrtausenden, Darmstadt und Genf o.J.,S. 317ff., Zit. S. 319.

"Man erinnert sich jetzt an so vieles"

Im Dokument Als jüdische Schülerin entlassen (Seite 151-156)