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Auf der Grundlage der in Abschnitt 3 beschriebenen Anforderungsbereiche, die aus Erfahrungen mit webbasierten Schreibprojekten in Schule und Hochschule abgeleitet wurden, lässt sich nun ein Entwurf für ein Kompetenzprofil für das Schreiben mit webbasierten Schreibtechnologien in Lehr-/Lernkontexten entwer-fen. Es ergibt sich das folgende Kompetenzraster:

Mediale Anforderungen: Webbasierte Schreibtechnologien

Domänenspezifische Anforderungen des Schreibens mit webbasierten Schreibtechnologien

... ... ...

Abb. 3: Kompetenzraster für das Schreiben mit webbasierten Schreibtechnologien. Die Darstel-lung ist angelehnt an die DarstelDarstel-lung des „Kompetenzmodells Schreiben“ von Mrotzek/Schindler (2007). Zur Möglichkeit der Eingliederung in das Modell von Becker-Mrotzek/Schindler s.u.

Der Beschreibungsrahmen übernimmt in horizontaler Gliederung die Anfor-derungsbereiche (1–6), die in Abschnitt 3 unterschieden wurden; in vertikaler Dimension werden diejenigen Wissenstypen unterschieden, die auch in Ossner (2006) und Becker-Mrotzek/Schindler (2007) in Anlehnung an Differenzierun-gen aus der pädagogischen Psychologie zugrunde gelegt werden, nämlich (A) deklaratives Wissen, (B) Problemlöse-Wissen, (C) prozedurales Wissen und (D) metakognitives Wissen.56

56 Vgl. Becker-Mrotzek/Schindler 2007, 9f.

Die einzelnen Felder im Raster – gekennzeichnet jeweils durch eine Kom-bination aus der Buchstabenkennung für den Wissenstyp und der Nummer des Anforderungsbereichs – können wie folgt mit Beschreibungen von Wissensinhal-ten zu Anforderungsbereichen versehen werden:

[A] Deklaratives Wissen – z.B.:

A 1 – Anwendungsrelevantes Hintergrundwissen zu den Funktionen der Nutzerschnittstel-le (= welche Funktionen es gibt und wozu sie da sind).

A 2 – Wissen zu den strukturellen Besonderheiten von Hypermedia-Texten.

– Wissen, dass (und in welcher Hinsicht) Texte am Bildschirm / im WWW anders gelesen werden als Print-Texte.

A 3 – Wissen, dass der Schreibprozess in Teilprozesse zerlegt werden kann und nichtlinear verläuft.

– Wissen, welche Potenziale (in einem gegebenen Szenario) damit verbunden sind, den eigenen Schreibprozess für andere offenzulegen (z.B. Möglichkeit zum Erhalt prozessbegleitenden Feedbacks; Möglichkeit zur Thematisierung von Widerständen und Schreibproblemen direkt am dokumentierten Zwischenergebnis; Möglichkeit zur retrospektiven Reflexion des dokumentierten Prozesses; …).

– Wissen, dass Unfertiges auch unfertig formuliert und gestaltet sein darf.

– Wissen, welche Versprachlichungs- und Gestaltungsansprüche an Fertiges (im Ge-gensatz zu Unfertigem) gestellt werden und wie diese funktional begründet sind.

A 4 – Beispiele für erfolgreiche kooperative Schreibprojekte (z.B. Wikipedia, Wiktionary) kennen und wissen, wie diese organisiert sind.

– Wissen, welche Teilaufgaben und Verantwortlichkeiten beim arbeitsteiligen / schrittweise kooperativen / gemeinsamen kooperativen Schreiben anfallen.

– Wissen, welche Kommunikationsfunktionen es (in der gegebenen Schreibumge-bung) gibt und für welche Teilaufgaben bei der Kooperation sie (im gegebenen Sze-nario) zu verwenden sind.

A 5 – Wissen, dass in derselben Schreibumgebung eigene Beiträge sowohl als Texte als auch als Diskursbeiträge realisiert werden können (im Wiki: auf Artikelseiten und Diskussionsseiten; im Weblog: in Form von Blogger-Postings und Kommentar-Postings), die zwar aufeinander bezogen sein können, aber für unterschiedliche Zwecke (situationsunabhängige Rezeption vs. interaktive Problembearbeitung) und für unterschiedliche Adressaten konzipiert sind.

A 6 – Wissen zu den technischen Hintergründen des World Wide Web, insbesondere in Hinblick auf ein Verständnis der Publikationsbedingungen im WWW (dezentrale Organisationsform; keine Vorselektion publizierter Inhalte durch Verleger oder In-stitutionen; …).

– Wissen, welche Systeme der Qualitätssicherung es in offenen Online-Communities (z.B. der Autorencommunity von Projekten wie Wikipedia oder Wiktionary) gibt.

– Wissen, dass man auch im Internet Informationen aus externen Ressourcen belegen und den Unterschied zwischen fremden und eigenen Textteilen kenntlich machen muss.

[B] Problemlöse-Wissen – z.B.:

B 1 – Wissen, wie man anhand der Nutzerschnittstelle Texte eingeben, speichern, bearbei-ten, gestalten und kommentieren kann.

B 2 – Wissen, welche Vorüberlegungen und Planungsschritte bei der Konzeption und Strukturierung von Hypermedia-Texten eine Rolle spielen.

– Wissen, wie man Hyperlinks zur Explikation von Bezügen zwischen Hypertextmo-dulen verwenden kann.

– Wissen, wie man Texte bildschirm-, web- und hypertextgerecht gestaltet (mediale Präsentation; sprachliche Gestaltung, Kohärenzmanagement, …).

B 3 – Wissen, wie man in Wikis eigene Textentwürfe und Textänderungen mit Meta-Kommentaren versehen kann (als Erläuterungen für andere).

– Wissen, wie man die „Revision History“ nutzen kann, um Bearbeitungen und Schreibprozesse anderer Nutzer zu verfolgen.

B 4 – Wissen, wie man Verantwortung und Teilaufgaben beim arbeitsteiligen / beim schrittweise kooperativen / beim gemeinsamen kooperativen Schreiben teilt und be-arbeitet.

– Wissen, wie man konstruktive Kritik an Beiträgen anderer (schriftlich) formuliert.

– Wissen, wie man in Wikis, in Weblogs, in Foren und Bulletin Boards schriftliche Diskursbeiträge verfasst und wie Threads aufgebaut werden.

B 5 – Wissen, welche Versprachlichungsanforderungen für Texte und welche für Diskurse gelten (text- vs. interaktionsorientiertes Schreiben).

– Wissen, welche der eigenen Beiträge in einer gegebenen Schreibumgebung der Ka-tegorie Text und welche der KaKa-tegorie Diskursbeitrag zuzurechnen sind.

B 6 – Wissen, wie man vorgehen kann, um das Globalthema, die Einschlägigkeit und die Verlässlichkeit einer im WWW recherchierten Informationsressource zu ermitteln.

– Wissen, wie man WWW-Ressourcen zitiert.

[C] Prozedurales Wissen:

C 1 –C 6

Die Verfahren aus B1–B6 in automatisierter Form.

[D] Metakognitives Wissen – z.B.:

D 1

D 2 – Wissen, welche Zerlegungsstrategien sich für welche Arten von Themen eignen.

– Wissen, welche Formen der textuellen Explikation von Hyperlinks sich für welche Art der Beziehung zwischen Ausgangs- und Zielressource eignen.

D 3 – Wissen, wie man Feedback zu Vorversionen des eigenen Zieltextes bzw. zu eigenen Beiträgen zu einem gemeinsam kooperativ zu erzeugenden Text in die weitere Ges-taltung des Schreibprozesses bzw. in die weiteren eigenen Beiträge zur gemeinsa-men Aufgabe einfließen lässt.

D 4 – Wissen, wie man Online-Zusammenarbeit (in einem asynchronen Medium) organi-siert.

– Wissen, welche Möglichkeiten es gibt, Konflikte bei der Teamarbeit zu bearbeiten und zu moderieren.

– Wissen, welche Strategien es gibt, um Ko-Autoren zur Mitarbeit oder zum Feedback zu aktivieren.

D 5 – Wissen, wie man im Zweifelsfall die Angemessenheit der Versprachlichung eines eigenen Beitrags in der Schreibumgebung überprüfen kann.

D 6 – Wissen, welche Strategien der Qualitätsbewertung sich für welche Typen von Onli-ne-Ressourcen eignen.

– Die Verlässlichkeit online recherchierter Informationsressourcen an deren eigenem Umgang mit Quellen und Fachliteratur messen.

Das Kompetenzprofil ist in dieser Fassung noch stark technologiezentriert, da es die erforderlichen Kompetenzen ausschließlich ausgehend von den Rahmen-bedingungen der zum Schreiben verwendeten Schreibtechnologien entwickelt.

Einige der beschriebenen Kompetenzen sind auch beim Schreiben unter anderen Rahmenbedingungen relevant (beispielsweise Kompetenzen für die Gestaltung von kooperativen Arbeitsprozessen und konversationellen Schreibinteraktionen, Schreibprozesskompetenzen oder Kompetenzen für die Selektion und Bewertung digitaler Informationsressourcen). Inwiefern Teile der hier skizzierten Kompe-tenzen eher in den Bereich allgemeiner SchreibkompeKompe-tenzen einzugliedern sind bzw. inwiefern und welche Beziehungen zwischen den hier skizzierten Kompe-tenzen und TeilkompeKompe-tenzen der allgemeinen Schreibkompetenz – etwa im Bereich der Anwendung von Textmusterwissen, von Verfahren zur Herstellung von Adressatenorientierung, von Verfahren zur Textstrukturierung mit den Mit-teln der Lexik und Syntax – bestehen, lässt sich erst ermitMit-teln, wenn geklärt ist, wie sich die hier skizzierten Anforderungsbereiche in ein allgemeines Modell der Schreibkompetenz eingliedern lassen.

Eine solche Integration kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht endgültig geleistet werden. Einerseits gibt es noch wenig Forschung speziell zu den Besonderheiten von Schreibprozessen unter den Bedingungen webbasierter Schreibtechnologien. Zum anderen ist der Status des Mediums als eines Anfor-derungsbereichs im Rahmen von Schreibkompetenzmodellen (insbesondere in seinem Verhältnis zu den übrigen Anforderungsbereichen beim Schreiben) noch nicht so weit entwickelt, dass die besonderen Anforderungen beim Schreiben in komplexen, technologisch determinierten Schreibumgebungen darin zufrieden-stellend darstellbar wären. Einen guten Anknüpfungspunkt bietet das „Kompe-tenzmodell Schreiben“ von Becker-Mrotzek/Schindler (2007), das den Faktor ,Mediumʻ als einen eigenständigen Anforderungsbereich beschreibt und somit die Anforderungen, die sich durch die medialen Rahmenbedingungen des Schreibens ergeben, als einen separaten Kompetenzbereich darstellbar macht.

Abb. 4: „Kompetenzmodell Schreiben“ von Becker-Mrotzek/Schindler (2007).

Das Modell unterscheidet folgende Arten von domänenspezifischen Anforderun-gen des Schreibens: die ,Sprachproduktion im engeren Sinneʻ (mit den Teilberei-chen Lexik und Syntax), die ,Textproduktion im engeren Sinneʻ (als textbe-zogene Erweiterung der Sprachproduktion um die Bereiche ,Textmusterʻ und ,Leserorientierungʻ), die ,Textproduktion im weiteren Sinneʻ, die zusätzlich den Bereich der Orthographie integriert, und schließlich den Bereich des Mediums, der die medialen Anforderungen beim Schreiben beschreibt, womit in der Kon-zeption von Becker-Mrotzek/Schindler vor allem Hilfsmittel für die Enkodierung und Fixierung der schriftlichen Äußerung gemeint sind:

Medien: Texte […] werden zum Zwecke der Überdauerung, der zerdehnten Kommunika-tion produziert, so dass sie auf irgendeine Weise medial gespeichert werden müssen. Das kann entweder motorisch per Hand- oder Tastaturschreiben oder auf andere Weise (Dik-tat, Text-to-Speech-Programme, Gedächtnis) erfolgen. In diesen Bereich fallen etwa auch die motorischen Prozesse beim Handschreiben.57

Für die Beschreibung von Kompetenzen für das Schreiben mit webbasierten Schreibtechnologien müsste dieses Medienkonzept weiter gefasst werden; die Anlage des Modells lässt dies zu. Insofern ließen sich die sechs

57 Becker-Mrotzek/Schindler 2007, 12.

bereiche, die in Abschnitt 3 unterschieden und in Abb. 3 visualisiert wurden, als Spezifikation des Anforderungsbereichs ,Mediumʻ für den Bereich der web-basierten Schreibtechnologien in das Modell von Becker-Mrotzek/Schindler in-tegrieren. Das somit modifizierte Gesamtmodell wäre dann ein Modell der domänenspezifischen Anforderungen beim Schreiben mit webbasierten Schreib-technologien; in der Darstellung des Kompetenzprofils in Abb. 3 ist diese Spezi-fikation bereits angedeutet.

Ein auf diese Weise erweitertes Modell, das spezifisch auf das Schreiben mit webbasierten Schreibtechnologien zugeschnitten ist, kann hilfreich sein, um z.B. für schreib- und mediendidaktische Zwecke die technologiespezifischen Kompetenzen zusammen mit den allgemeinen Schreibkompetenzen in einer Dar-stellung zu erfassen. Auch könnte eine solche Modellvariante genutzt werden, um sie mit anderen Modellvarianten zu vergleichen, die Anforderungen und Kompetenzen für das Schreiben unter anderen medialen Rahmenbedingungen (z.B. beim handschriftlichen Schreiben, beim Schreiben mit Textverarbeitung-sprogrammen) beschreiben; Unterschiede beim Schreiben unter unter-schiedlichen „medialen“ Rahmenbedingungen ließen sich auf diese Weise an-schaulich aufzeigen.

Dennoch bleiben in Bezug auf den Status des Anforderungsbereichs ,Mediumʻ wie auch in Hinblick auf die Frage der Beziehungen zwischen „me-dien“-spezifischen Anforderungen und Anforderungen der Sprach- und Textpro-duktion eine Reihe von Fragen offen – etwa: Ist beim webbasierten Schreiben der Anforderungsbereich ,Mediumʻ wirklich gleichrangig mit den übrigen Anfor-derungsbereichen? Bedingen Anforderungen, die aus den „medialen“ Rahmen-bedingungen resultieren, spezifische Kompetenzanforderungen in anderen forderungsbereichen (bei der Sprach- und Textproduktion)? Sind bestimmte An-forderungen, die sich unter technologiezentrierter Perspektive beim webbasierten Schreiben als „medial“ determinierte Anforderungen ergeben, nicht vielmehr Anforderungen, die qualitativ in den Bereich der Sprach- bzw. Textproduktion fallen, dabei aber eine technologiespezifische Prägung erfahren (z.B. das spezi-fische Problemlöse-Wissen, das in Bezug auf die hypermediale Organisations-form erforderlich wird und das in den Bereich des Textmusterwissens hinein-greift oder das Verfügen über Verfahren zur Prüfung stilistischer Angemessen-heit, das sich online in Bezug auf die Unterscheidung zwischen text- und interak-tionsorientiertem Schreiben stellt, dass aber auch außerhalb des Internet eine wichtige sprachliche Kompetenz darstellt)? Wäre der Faktor ,Mediumʻ im Zeital-ter komplexer Schreibtechnologien nicht möglicherweise ganz oder teilweise aus

den Anforderungsbereichen des Modells herauszunehmen und stattdessen als eine Rahmenbedingung des Schreibens zu modellieren, die Schreibprozessen – je nach Art der verwendeten Schreibtechnologie – von vorn herein eine bestimmte Konstellation an Prägungen verleiht, die sich auf alle Anforderungsbereiche des Schreibens im engeren Sinne auswirkt (wobei die Art der Beziehung zwischen Rahmenbedingungen und Anforderungsbereichen im Modell dann noch eigens zu präzisieren wäre)?

Die zentrale Frage dabei ist diejenige nach dem Einfluss der verwendeten Schreibtechnologie auf den Schreibprozess: Welche Teile des Schreibprozesses werden durch die Technologie beeinflusst? Wie werden sie beeinflusst? Wie wirkt sich das auf andere Teile des Schreibprozesses aus? Welche Teile des Schreibprozesses sind unabhängig vom Einfluss der verwendeten Technologie?

Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es weiterer – insbesondere auch em-pirischer – Klärung. In Modellen des Schreibprozesses ist der Faktor ,Mediumʻ erst ansatzweise berücksichtigt. In ihrer Besprechung des revidierten Schreib-modells von John Hayes (1996) (s. Abb. 5) würdigen Becker-Mrotzek/Böttcher (2006) die gegenüber dem Ausgangsmodell von Hayes/Flower (1980) neu hinzugekommenen Faktoren ,composing mediumʻ („Schreibwerkzeug“) und ,collaboratorsʻ („Ko-Aktanten“) in der Modellkomponente ,task environmentʻ („Schreibumgebung“) als wichtige Erweiterungen und begründen deren Relevanz unter Verweis auf das Schreiben mit digitalen Schreibwerkzeugen und Formen kooperativen Schreibens:

Die Bedeutung der Schreibwerkzeuge für den Schreibprozess ist uns erst durch die Neuen Medien wirklich bewusst geworden. Solange wir überwiegend auf Papier geschrieben ha-ben, blieben die beschränkten Einflüsse weitgehend unbeachtet. Erst die modernen Textverarbeitungsprogramme schaffen durch ihre verschiedenen Revisionsfunktionen die Voraussetzungen für eine nicht-lineare Textproduktion. Mit ihrer Hilfe können Texte auf einfache Weise immer wieder neu bearbeitet werden. Der Faktor „Ko-Aktant“ verdeut-licht, dass Schreiben keineswegs immer ein einsamer Prozess ist. Vor allem im Beruf ha-ben wir es häufig mit einem kooperativen Schreiha-ben zu tun.58

58 Becker-Mrotzek/Böttcher 2006, 41.

THE TASK ENVIRONMENT

THE INDIVIDUAL

The Social Environment The Physical Environment The audience

Collaborators

The text so far

The composing medium

MOTIVATION/AFFECT

WORKING MEMORY

COGNITIVE PROCESSES Goals

Predispositions

Beliefs and Attitudes

Cost/Benefit Estimates

Phonological Memory

Visual/Spatial Sketchpad

Semantic Memory

Text Interpretation

Reflection

Text Production

LONG-TERM MEMORY Task Schemas

Topic Knowledge

Audience Knowledge

Linguistic Knowledge

Genre Knowledge

Abb. 5: Das Schreibprozessmodell von Hayes (1996).

Auch Carmen Heine59 würdigt die beiden in Hayes (1996) neu hinzugekomme-nen Faktoren als grundlegende und wichtige Erweiterungen und betont (aus der Perspektive der Produktion fachlicher Textsorten und unter Einbeziehung der Kritik, die das Modell aus Sicht der Fachtextforschung erfahren hat60), dass diese bei einer Weiterentwicklung von Schreibprozessmodellen in ihren Konsequenzen für die Textproduktion noch prominenter zu berücksichtigen wären.

An diese Forderung lässt sich für das Schreiben mit webbasierten Schreib-technologien unmittelbar anschließen: Auch dieses ist wesentlich durch Bedin-gungen des „Schreibwerkzeugs“ und durch die Interaktion mit „Ko-Aktanten“

geprägt. Als „Werkzeug“ wirken sich dabei nicht nur die technischen Funktionen

59 Vgl. Heine 2010, 123-127.

60 Vgl. Göpferich 2002.

der verwendeten Technologien auf den Schreibprozess aus, sondern im weiteren Sinne auch die Einbindung der jeweiligen Anwendungen in den soziotechnischen Handlungsraum „World Wide Web“. Die Technologie umfasst dabei nicht nur technische Werkzeuge für die Enkodierung und Gestaltung von Texten und Möglichkeiten der sozialen Interaktion bei der Textproduktion, sondern auch – speziell im Falle der Wikis – Funktionen für die Dokumentation einzelner Teil-prozesse des SchreibTeil-prozesses im engeren Sinne. Es erscheint daher sehr sinn-voll, mit Odile Endres die Technologie (am Beispiel des Schreibens mit Wikis) nicht nur als einen Faktor im Rahmen der „Schreibumgebung“ anzusehen, son-dern als Fundament und Rahmenbedingung der „Schreibumgebung“ als Ganzer:

Denn das Wiki ist mehr als ein einfaches Schreibwerkzeug: Es ist zugleich Textproduk-tions-, Diskussions-, Gestaltungs- und Präsentationsinstrument. Damit wird das Schreib-werkzeug zu einer komplexen Schreibumgebung, die nicht nur einen starken Einfluss auf den Schreibprozess hat, sondern in dem sich bei kollaborativen Online-Schreibprojekten auch die soziale Umgebung befindet; bei Blended-Learning-Szenarien hingegen verlagert sich die soziale Komponente zumindest teilweise in die Kommunikationsform Wiki. In der konkreten Wiki-Instanz verschmelzen so teilweise oder vollständig die soziale Um-gebung, einschließlich der Subkomponenten Ko-Aktanten und Adressaten und die physi-kalische Umgebung, einschließlich der Subkomponenten Textentwurf und Schreib-werkzeug. In solchen Fällen kann die gesamte task environment-Komponente […] als Schreibumgebung […] bezeichnet werden.61

Entsprechend schlägt Endres vor, „im Hayes-Modell die Wiki-Technologie mit ihren Möglichkeiten als Schreibwerkzeug zu interpretieren und die konkrete Wi-ki-Instanz als Schreibumgebung zu definieren, in der alle in der Aufgabenumge-bung vorgesehenen Komponenten integriert sind und sich dort auch beobachten lassen“62.

Dieser Vorschlag, der zwei verschiedene Dimensionen des Einflusses der Technologie auf das Schreiben bzw. auf den Schreibprozess unterscheidet, er-scheint geeignet, um eine Perspektive für die Adaption auch von Schreibkompe-tenzmodellen an die Besonderheiten webbasierter Schreibtechnologien aufzuzei-gen: Zum einen wirkt sich die Technologie dadurch aus, dass sie bestimmte tech-nische Funktionen bereitstellt, deren routinierte Handhabung die Voraussetzung dafür darstellt, die an sie geknüpften Potenziale zu nutzen. Diese technischen Funktionen und ihre Handhabung entsprechen im „Kompetenzmodell Schreiben“

von Becker-Mrotzek/Schindler (2007) in etwa dem, was dort als

61 Endres 2012, 129.

62 Ebd.

bereich ,Mediumʻ konzipiert ist. Daneben prägen – und das ist das eigentlich In-novative – webbasierte Schreibtechnologien den Schreibprozess entscheidend dadurch, dass sie die gesamte ,Aufgabenumgebungʻ – also: Textentwurf, Nutzer-schnittstelle, Ko-Akteure und (zumindest Teile der) Adressatenschaft – umfassen und dokumentieren. Zudem unterstützen sie durch die lückenlose Dokumentation und Vergleichbarkeit aller Entwurfsfassungen eines in Arbeit befindlichen Tex-tes in besonderer Weise diejenigen kognitiven Teilprozesse des Schreibens, die auf das Monitoring der Textproduktion, auf Evaluieren und Überarbeiten aus-gerichtet sind. Dieser zweite Aspekt, der die Technologie nicht nur als ein Inven-tar an zu handhabenden Funktionen versteht, sondern vielmehr die mit diesen Funktionen verbundenen Potenziale für (und Auswirkungen auf) die Organisa-tion des Schreibprozesses beschreibt, lässt sich nicht sinnvoll als Anforderungs-bereich in einem Kompetenzmodell abbilden; stattdessen handelt es sich dabei um einen Faktor, der Anforderungsbereiche determiniert und der entsprechend als eine vor jeder Anforderung stehende Rahmenbedingung des Schreibens zu modellieren wäre.

In die Veranschaulichung des Kompetenzprofils für das Schreiben mit webbasierten Schreibtechnologien in Abb. 3 habe ich die in Endres (2012) vor-geschlagene Differenzierung mit der Unterscheidung zwischen Anforderungen des Schreibwerkzeugs und Anforderungen der Schreibumgebung bereits über-nommen. In einem weitergehenden Integrationsschritt wäre aber zu überlegen, diejenigen Anforderungen, die in Abb. 3 als Anforderungen der Schreibumge-bung beschrieben sind, als technologiespezifische Erweiterungen in den Anfor-derungsbereich der Textproduktion zu übernehmen und den Faktor ,Schreibumgebungʻ als eine Rahmenbedingung des Schreibens zu modellieren, die diese Erweiterungen in einzelnen Anforderungsbereichen determiniert. Die-ser Integrationsschritt ist derzeit noch nicht möglich; empirische Forschungen zu webbasierten Schreibprozessen werden aber dazu beitragen können, Schreib-kompetenzmodelle wie dasjenige von Becker-Mrotzek/Schindler (2007) in entsprechender Weise weiterzuentwickeln.