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ENTWICKLUNG DER DGPPN 1954 Gründung der Deutschen Gesellschaft

Im Dokument psyche im fokus (Seite 36-43)

Die Literatur zur Geschichte der Psychiatrie im nationalsozialistischen Deutschland füllt mittlerweile viele Regalmeter. Die Geschichte der psychiatrisch-neurologischen

ENTWICKLUNG DER DGPPN 1954 Gründung der Deutschen Gesellschaft

für Psychiatrie und Nervenheilkunde 1992 Namenserweiterung zur Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie,

Psychotherapie und Nervenheilkunde 2013 Namenserweiterung zur Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie

und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde

schieden werden, wenngleich in der Praxis niemand aus diesem Personen-kreis aufgenommen worden sein dürf-te. Auch vermieden es Rüdin und Nit-sche, „nichtarische“ Mitglieder bei den Jahrestagungen referieren zu lassen.

Die bestehenden Mitgliedschaften von Menschen jüdischen Glaubens oder jü-discher Herkunft in der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater wurden hingegen bis 1939 nicht aufge-hoben. Nach Angaben Rüdins gab es im August 1937 noch immer 49 Mitglieder, die als „jüdisch“ galten. Diese Praxis wurde von der Reichsärzteführung und vom Reichsgesundheitsamt gedeckt.

Erst im März 1939 – also nach dem No-vemberpogrom – verfügte das Reichs-gesundheitsamt angesichts des Erlö-schens der Bestallung „jüdischer“ Ärzte eine einheitliche Regelung für alle me-dizinischen Fachgesellschaften, die „jü-dische“ Mitglieder ausschloss.

MITTEL UND MÖGLICHKEITEN Welche Wirksamkeit entfaltete die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater? Schließlich stellt sie sich als ein fragiles Gebilde dar. Ihre institutio-nelle Struktur blieb nur etwa vier Jah-re intakt. Mit Beginn des Zweiten Welt-kriegs kam die Geschäftsführung nahe-zu nahe-zum Erliegen, trotz erheblicher An-strengungen gelang es nicht mehr, eine weitere Jahresversammlung abzuhalten, die Verbandsorgane tagten nicht mehr.

Das informelle Netzwerk, das die ins-titutionelle Struktur überformte, blieb freilich bis in die Endphase des Zwei-ten Weltkriegs hinein aktiv, wenngleich die Kommunikation immer schwieriger wurde.

Welche Mittel und Möglichkeiten standen der Gesellschaft zu Gebote, um an der Schnittstelle von Politik und Wissenschaft zu wirken, und zwar in beide Sphären hinein? Hier sind im We-sentlichen vier Instrumente zu nennen:

Erstens lag die Programmgestaltung der Jahrestagungen bei Rüdin und sei-nem inneren Kreis. Sie legten die

Gene-ralthemen der Sektionen fest, bestimm-ten die Themen der Haupt- und Kurz-vorträge und die Referenten, übten über die seit 1936 bei der Anmeldung der Referate einzureichenden Inhalts-angaben eine Vorzensur aus und führ-ten bis in die Diskussion hinein Regie.

Zweitens kontrollierte der innere Zir-kel die Redaktionen der einschlägigen Fachzeitschriften. Drittens hatten Rü-din und seine Verbündeten erheblichen Einfluss auf die Zusammensetzung der deutschen Delegationen auf internati-onalen Kongressen. Viertens schließ-lich konnte die Fachgesellschaft offiziel-le und inoffizieloffiziel-le Kanäoffiziel-le wissenschaftli-cher Politikberatung nutzen, etwa durch vertrauliche Eingaben an das Reichsin-nenministerium oder das Reichsgesund-heitsamt oder aber durch Resolutionen und Denkschriften.

Umgekehrt konnte die Gesellschaft ihre Organe – insbesondere den Aus-schuss für Praktische Psychiatrie – nut-zen, um ihren Mitgliedern in Anwesen-heit von Vertretern der Reichs- und Län-derbehörden, des Deutschen Gemeinde-tages und des Reichsgesundheitsamtes die Leitlinien nationalsozialistischer Ge-sundheits- und Sozialpolitik zu vermit-teln.

Das Hauptanliegen des Netzwerks um Ernst Rüdin war es, über die Fachge-sellschaft die Rassenhygiene in Wissen-schaft und Praxis der Psychiatrie und Neurologie hineinzutragen. In dieser Hinsicht war man durchaus erfolgreich.

Dass die Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“

in den Heil- und Pflegeanstalten ab dem 1. Januar 1934 in rasantem Tempo ein-setzte und sehr rasch in eine in der Ge-schichte der Eugenik bis dahin bei-spiellose Dimension vorstieß, verdank-te sich ganz wesentlich der Schulungs-arbeit, die parallel zur Umgestaltung der Fachgesellschaften in die Wege ge-leitet wurde. Im Mittelpunkt stand da-bei ein rassenhygienischer Schulungs-kurs, der im Januar 1934 an der Deut-schen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München stattfand und an dem etwa

120 Psychiater, überwiegend Direkto-ren und Oberärzte der Heil- und Pflege-anstalten, teilnahmen. In den Diskussi-onen nach den Vorträgen kamen viele offene Fragen, Bedenken und Anregun-gen zur Sprache. Für die Feinjustierung des Sterilisierungsprogramms war eine solche vertrauliche Aussprache – zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Ge-setzes – von eminenter Bedeutung. Die Kritikpunkte der Praktiker fanden ih-ren Niederschlag etwa in dem von Rü-din mit verfassten amtlichen Kommen-tar zum „Gesetz zur Verhütung

erbkran-ken Nachwuchses“. Auch in den fol-genden Jahren blieb Rüdin die zentrale Anlaufstelle für die Monita sowohl der Ärzte in den Heil- und Pflegeanstalten als auch der als Gutachter und Beisit-zer der Erbgesundheitsgerichte tätigen Fachkollegen.

Intensiv wirkte die Gesellschaft Deut-scher Neurologen und Psychiater an der Weiterentwicklung der Erbgesund-heitspolitik mit und befasste sich mit Themen wie der „erbbiologischen Be-standsaufnahme“, dem Ausbau der psy-chiatrischen Außenfürsorge, der euge-nischen Eheberatung und Ehegesetzge-bung, der „Irrenstatistik“, der Ausdeh-nung des Sterilisierungsprogramms auf sogenannte „asoziale Psychopathen“, der Abtreibung aus eugenischer Indi-kation oder der Kastration von

Triebtä-Die Geschichte der psychiatrisch-neurologischen Fachgesellschaften zur Zeit des „Dritten Reiches“

war bislang kaum untersucht worden.

Eine Umfrage der Gesellschaft Deut-scher Neurologen und Psychiater unter den deutschen Heil- und Pflegeanstal-ten ergab, dass es infolge der Gesetzes-änderung – aus der Sicht der Psychiater – in vielen Fällen zu „Fehlbelegungen“

gekommen war, die den Krankenhaus-charakter der Heil- und Pflegeanstal-ten gefährdePflegeanstal-ten. Von SeiPflegeanstal-ten der Behör-den wurde es nicht gerne gesehen, dass die Fachgesellschaft dieses Thema öf-fentlich verhandelte – ein entsprechen-der Hinweis aus dem bayerischen In-nenministerium aus dem Jahre 1936 ge-hört zu den wenigen Belegen für eine Einflussnahme staatlicher Stellen in in-haltlichen Fragen. Es war der rheini-sche Anstaltsdezernent Walter Creutz, also ein beamteter Arzt, der schließlich die Ergebnisse der Umfrage vor dem

„Ausschuss für praktische Psychiatrie“

im Rahmen der IV. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen

und Psychiater in Köln am 24. Septem-ber 1938 referierte und im Jahr darauf in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psy-chiatrie“ publizierte. Wenig später wur-de Creutz als Nachfolger Nitsches zum Geschäftsführer der Gesellschaft Deut-scher Neurologen und Psychiater beru-fen [8].

Die Gesellschaft befasste sich jedoch keineswegs nur mit Fragen rund um den Themenkreis der Erbgesundheits-politik. Seit 1936 legte sie, nach anfäng-lichem Zögern, besonderes Gewicht auf die Förderung der neu entwickelten so-matischen Therapieformen, der Insu-linkoma-, der Cardiazol- und Elektro-krampftherapie [9]. Hinter den Kulissen warb Rüdin bei den Reichsbehörden für die neuen Verfahren. Für Rüdin und sei-nen inneren Kreis bestand kein Wider-spruch zwischen den neuartigen Thera-pieformen und einer rassenhygienisch angeleiteten Erbgesundheitspolitik. Be-trachtet man die Schwerpunkte ihrer Interessenpolitik in der Zusammen-schau, so kommt man zu dem Schluss, dass für sie die anatomische, histologi-sche, serologische und pathophysiologi-sche Grundlagenforschung, die „aktive-re Krankenbehandlung“ und offene Für-sorge, Schock- und Krampftherapien, Neurochirurgie, Psychotherapie, psychi-sche Hygiene, empiripsychi-sche Erbprognose und negative Eugenik allesamt Elemen-te eines Kontinuums psychiatrisch-neu-rologischer Wissenschaft und Praxis bil-deten.

Die Hoffnung auf ein „goldenes Zeit-alter“ der Psychiatrie erfüllte sich je-doch nicht. Indem die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater ihren Teil dazu beitrug, Psychiatrie und Neurologie der Erbgesundheitspolitik des Regimes nutzbar zu machen, half sie, die Psychiatrie in eine tiefe Legiti-mationskrise zu manövrieren.

Gegen Ende der 30er Jahre kehrte Er-nüchterung ein. In der Fachgesellschaft erkannte man die Gefahren sehr deut-lich und versuchte gegenzusteuern. Auf der V. Jahresversammlung, die vom 27.

bis zum 30. März 1939 in Wiesbaden HINTERGRUND

Der vorliegende Artikel ist eine Kurz-fassung des Abschlussberichts zum For-schungsprojekt "Geschichte des Deut-schen Vereins für Psychiatrie, bzw. der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater in der Zeit des Nationalso-zialismus", in dessen Rahmen geklärt werden soll, inwieweit die Vorläufer-organisationen der DGPPN und derer Repräsentanten bei dem sogenannten Euthanasieprogramm, der Zwangs-sterilisierung psychisch Kranker, der Vertreibung jüdischer und politisch missliebiger Psychiater und anderen Verbrechen in der Zeit zwischen 1933 und 1945 beteiligt waren.

2010 hatte der Vorstand der DGPPN eine internationale unabhängige Kom-mission zur Aufarbeitung der Geschich-te der DGPPN eingerichGeschich-tet. Diese Kom-mission besteht aus vier renommierten Medizinhistorikern. Diese sind in ihren Handlungen frei und unabhängig, also gegenüber der DGPPN nicht weisungs-gebunden:

tern nach dem „Gesetz gegen gefährli-che Gewohnheitsverbregefährli-cher“, der Ein-führung einer Sektionspflicht im Hin-blick auf psychiatrische Patienten usw.

In den Jahresversammlungen und in ih-ren Zeitschriften setzte die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater starke Akzente im Hinblick auf die Dif-ferentialdiagnostik etwa der Psychosen, der Epilepsien und des sogenannten

„angeborenen Schwachsinns“.

Die Gesellschaft Deutscher Neuro-logen und Psychiater setzte aber auch Probleme auf die politische Agenda, vor die sich die Psychiatrie infolge der NS-Erbgesundheitspolitik gestellt sah. Ein besonders heißes Eisen war die Unter-bringung von strafrechtlich verurteilten Menschen in der Psychiatrie als nungsunfähig oder vermindert zurech-nungsfähig nach § 51 StGB in der Neu-fassung, die dieser durch das „Gewohn-heitsverbrechergesetz“ erhalten hatte.

| Volker Roelcke (Vorsitz), Profes-sor und Leiter des Instituts der Ge-schichte der Medizin an der Justus-Liebig-Universität Giessen

| Carola Sachse, Professorin am Ins-titut für Zeitgeschichte der Univer-sität Wien

| Heinz-Peter Schmiedebach, Profes-sor und Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

| Paul Weindling, Professor in the History of Medicine, School of Arts and Humanities, Oxford Brookes University

Die „Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der DGPPN“ vergab den Forschungsauftrag an Prof. Hans-Wal-ter Schmuhl (Bielefeld) und Prof. Rake-fet Zalashik (Israel). In absehbarer Zeit wird der Abschlussbericht als wissen-schaftliche Monografie erscheinen.

LITERATUR

1. Ehrhardt, H. E. (1972). 130 Jahre Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde, Wiesbaden: Franz Steiner; Weber, M. M. (1993). Ernst Rüdin. Eine kritische Biographie, Berlin Heidelberg New York: Springer, 223-236;

Gerrens, U. (1996). Medizinisches Ethos und theologische Ethik. Karl und Dietrich Bonhoeffer in der Auseinanderset-zung um Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Natio-nalsozialismus, München: Oldenbourg, 67-73; Fellmann, S.

(2000). Die Tätigkeit der medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften und Vereine im Bereich der Neurologie und Psychiatrie in Deutschland zwischen 1933 und 1945, med.

Diss. Leipzig.

2. Georg Ilberg an Karl Bonhoeffer, 8.9.1933, Archiv der Humboldt-Universität Berlin, NL Karl Bonhoeffer 10.

3. Ernst Rüdin an Arthur Gütt, 17.7.1933, Archiv des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie München (MPIP-HA): GDA 127.

4. Telegramm Gütts an Rüdin, 18.5.1934, MPIP-HA: GDA 127.

5. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 102 (1934), 389.

6. Walter Jacobi an Gerhard Wagner, 27.12.1933, MPIP-HA, GDA 129.

7. Ernst Rüdin an Arthur Gütt, 11.10.1934, MPIP-HA, GDA 129.

8. Schmuhl, H.-W. (2013). Walter Creutz und die

NS-„Euthanasie“. Kritik und kritische Antikritik. In: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“

und Zwangssterilisation (Hrsg.), Schatten und Schattierun-gen – Perspektiven der Psychiatriegeschichte im Rheinland, Münster: klemm & oelschläger, 23-56.

9. Schmuhl, H.-W., & Roelcke, V. (Hrsg.) (2013). „Heroische Therapien“. Die deutsche Psychiatrie im internationalen Vergleich, 1918-1945, Göttingen: Wallstein.

10. Zuletzt: Roelcke, V. (2012). Ernst Rüdin. Rennomierter Wissenschaftler, radikaler Rassenhygieniker, Der Nerven-arzt 83, 303-310.

11. Sandner, P. (2006). Auf der Suche nach dem Zu-kunftsprojekt. Die NS-Leitwissenschaft Psychiatrie und ihre Legitimationskrise. In Fangerau, H., & Nolte, K. (Hrsg.), „Mo-derne“ Anstaltspsychiatrie im 19. Jahrhundert. Legitimation und Kritik, Stuttgart: Steiner, 117-142, 126.

12. Aktennotiz Paul Nitsche v. 9.4.1941, Bundesarchiv Kob-lenz, All. Proz. 7, Roll 12, Frame 220.

13. Ernst Rüdin an Reichsgesundheitsführer, z. Hd. Doz. Dr.

Schütz, 23.10.1942, MPIP-HA, GDA 129.

APL. PROF. DR. PHIL.

HANS-WALTER SCHMUHL

Außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Fakultät für Geschichts-wissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld

Im Auftrag der DGPPN erforscht er die Ge-schichte ihrer Vorgängerorganisationen im Nationalsozialismus.

stattfand, warnte Rüdin in seiner Eröff-nungsansprache, dass der Psychiatrie eine schwere Legitimationskrise drohe.

NS-„EUTHANASIE“

Gleichwohl wirkten führende Vertre-ter der Gesellschaft Deutscher Neuro-logen und Psychiater kurze Zeit spä-ter an der „Aktion T4“, der Vergasung von mehr als 70.000 Patienten aus deut-schen Heil- und Pflegeanstalten, mit, al-len voran Paul Nitsche, seit 1940 ärzt-licher Leiter des „Euthanasie“-Pro-gramms, aber auch der Vorsitzende Ernst Rüdin, der in die Begleitforschung zur „Euthanasie“ verstrickt war [10].

Sie taten dies in der Hoffnung, dass es gelingen würde, auf der Basis der

„Eutha nasie“ zu einer Modernisierung des gleichsam „gesundgeschrumpf-ten“ Anstaltswesens zu gelangen. In ei-ner Denkschrift legten führende Vertre-ter der Gesellschaft Deutscher Neurolo-gen und Psychiater im Jahre 1943 ihre Vorstellungen zur künftigen Gestaltung der Psychiatrie nieder. Doch war dies ein Versuch zu retten, was noch zu ret-ten war. Denn „mit der Ermordung ih-rer Klientel machten die Psychiater sich […] letztlich überflüssig“ [11].

In dieser Krise der Psychiatrie agier-te die Deutsche Gesellschaft für Neu-rologie und Psychiatrie immer defensi-ver. Im Vorfeld der – dann doch nicht zustande gekommenen – VI. Jahresver-sammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, die 1941 in Würzburg stattfinden sollte, stell-ten die Verantwortlichen Überlegun-gen an, was zu tun sei. Paul Nitsche for-derte, den „Irrtum zu bekämpfen, dass die Psychiatrie künftig als minderwerti-ges Fachgebiet abminderwerti-gestempelt sein wer-de.“ Vielmehr werde „künftig gerade die psychiatrische Arbeit sich auf hö-herer Ebene abspielen und damit der ganze Berufsstand gehoben sein“ [12].

Die höhere Ebene – das meinte die Hei-lung des „Volkskörpers“ unter Preisgabe der chronisch psychisch kranken und schwer geistig behinderten Menschen.

Um dem Imageverlust der Psychiatrie entgegenzuarbeiten, plädierte Nitsche dafür, auf der nächsten Jahrestagung der versammelten Fachöffentlichkeit die Grundlagen und Ziele der laufenden Mordaktion zu erläutern. Die „Kanzlei des Führers“ ließ sich von dieser Argu-mentation überzeugen: Sie förderte die anstehende Jahresversammlung mit ei-nem Zuschuss von 10.000 Reichsmark.

In diesem Sinne schritten die Vorbe-reitungen zur Würzburger Tagung vo-ran – nur der Kriegsverlauf verhinder-te, dass sich die Fachgesellschaft gleich-sam offiziell zur NS-„Euthanasie“ be-kannte. Hinter den Kulissen freilich unterstützte das Netzwerk um Ernst Rü-din auch weiterhin die „Euthanasie“. In einer vom Reichsgesundheitsführer Le-onardo Conti angeforderten Stellung-nahme, welche Forschungsfragen im Krieg vorrangig behandelt werden soll-ten, empfahl Rüdin – wohlgemerkt:

in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Gesellschaft Deutscher Neurolo-gen und Psychiater – im Oktober 1942 u. a.: „Rassenhygienisch von hervorra-gender Wichtigkeit, weil bedeutsam als Grundlage zu einer humanen und si-cheren Gegenwirkung gegen kontrase-lektorische Vorgänge jeder Art in unse-rem deutschen Volkskörper wäre die Er-forschung der Frage, welche Kinder […]

können, als Kinder schon, klinisch und erbbiologisch […] so einwandfrei als minderwertig eliminationswürdig cha-rakterisiert werden, dass sie mit voller Überzeugung und Beweiskraft den El-tern […] zur Euthanasie empfohlen wer-den können?“ [13]

Als Begründer der einflussreichen Kritik an „Medikalisie-rungsprozessen“ gilt der amerikanische Soziologe Irving Ken-neth Zola, der in den 60er-Jahren durch seine umfangreichen empirischen Studien bekannt wurde, in denen er offensicht-liche soziale und kulturelle Unterschiede in der Krankheits-wahrnehmung etwa bei italienischen und irischen Migranten der zweiten Generation oder zwischen Töchtern von Arbeitern und Kleinbürgern belegt hatte. Bahnbrechend war dabei sein methodischer Ansatz: Er ging epidemiologisch gut belegten Befunden differenter Krankheitsinzidenzen durch ethnogra-phisch-qualitative Erhebungen in den entsprechenden Popu-lationen nach, um mögliche soziale und kulturelle Faktoren zu finden, die zu diesen unterschiedlichen Erkrankungsraten bei-trugen. Für Zola war aufgrund seiner Studien evident, dass so-ziokulturelle Faktoren regelmäßig zu unterschiedlichen Wahr-nehmungen, Interpretationen und Ausdrucksformen physio-logisch gleichartiger körperlicher Zustände führten. Beispiele sind etwa die wahrgenommene Schwere von Erkältungskrank-MEDIKALISIERUNG SOZIALER PROBLEME

IRVING ZOLA UND DIE KULTURALISIERUNG DER MEDIZIN

In den Sozialwissenschaften ist spätestens seit den 70er-Jahren die Medikalisierungs-kritik etabliert. Sie besagt, dass die moderne Medizin sich durch einen epistemischen Imperialismus auszeichne, indem zunehmend soziale und kulturelle Phänomene und schließlich die ganze Gesellschaft unter die Herrschaft des medizinischen Diskurses subsumiert würden [1].

Autor: Stefan Beck

heiten bei Patienten irischer oder italienischer Abstammung oder aber seine Analyse über die Akzeptanz beziehungswei-se die Beunruhigung, die halluzinatorische Zustände in unter-schiedlichen Kulturen auslösen können.

MEDIKALISIERUNG ALS ELEMENT DES HUMANITÄREN FORTSCHRITTS

Obwohl seine Studien im Schnittfeld zwischen Epidemio-logie, Medizinsoziologie und Medizinethnologie immer noch sehr lesenswert sind, ist Irving Zola vor allem durch seine so-zialhistorisch fundierte Kritik der Medizin bekannt geworden, deren Kernthese wie folgt lautet: „Medizin wird [in der Mo-derne] zu einer der wichtigsten Institutionen sozialer Kontrol-le, sie marginalisiert [...] sogar traditionellere Institutionen wie Religion und Recht. Sie wird zu einem neuen Repositorium der Wahrheit, zu einem Ort, an dem absolute und oft endgültige Urteile getroffen werden durch angeblich moralisch neutrale und objektive Experten. Und diese Urteile werden gefällt nicht im Namen einer besonderen Tugend oder Legitimität, sondern im Namen der Gesundheit.“ Dabei besäßen Mediziner keine besondere politische Macht, sondern diese spezifische Herr-schaftsform komme durch eine völlig undramatisch scheinen-de Entwicklung in die Welt: inscheinen-dem die Kategorien „gesund“

und „krank“ für einen immer größeren Teil der menschlichen Existenz relevant gemacht würden – hierdurch würde ein wachsender Anteil des Alltagslebens „medikalisiert“ [2].

Zola bemühte sich dabei vor allem im Falle der Psychiatrie nachdrücklich darum, diese Medikalisierung nicht als Resultat eines kollektiven „imperialen Willens“ der medizinischen Pro-fession oder der Machtausübung in asymmetrischen Arzt-Pa-tienten-Beziehungen darzustellen. Im Gegenteil, die Medikali-sierung sei die konsequente Folge eines in die Moderne ein-geschriebenen humanitären, oft auch philanthropischen Im-pulses, gesundheitliche und soziale Probleme zu beseitigen.

Dieser humanistische Impuls habe sich mit der Medizin als

Dr. Irving Kenneth Zola (1935-1994), Aktivist und Autor im Bereich Medizinsoziologie und in der Behindertenbewegung

Wissenschaft verbündet. Wenn man so will, liegt die beson-dere Durchschlagskraft dieser Entwicklung darin begründet, dass sich hier Moral und Rationalität in spezifischer Weise ver-bünden und die Medikalisierung der gesamten Gesellschaft, ihrer Institutionen und der individuellen Erwartungen voran-treiben. Zola bringt damit ein zutiefst anthropologisches Ar-gument vor: Für den Menschen in der westlichen Moderne er-scheint es demnach weder erträglich noch rational, anderen ta-tenlos beim Leiden zuzusehen; es muss nach Abhilfe gesucht werden und Wissenschaft, Verwaltung und andere in der Mo-derne „erfundene“ Institutionen haben diesem Ziel zu dienen.

Aber auch noch aus einem anderen Grund sieht Zola in der Medikalisierung keine finsteren Mächte am Werk, sondern streicht ihre positiven Aspekte heraus, wobei er u. a. auf his-torische Analysen der britischen Soziologin und Kriminologin Barbara Wootton zurückgreift. Wootton analysierte die Rolle der Psychiatrie bei der Bekämpfung

„so-zialer Devianz“ und „antisozialem Ver-halten“ im 19. und 20. Jahrhundert. Ge-rade die Psychiatrie habe eine wichtige Rolle bei der Entkriminalisierung psy-chisch Kranker gespielt und sie – mit wissenschaftlich fundierten Argumen-ten – aus den Klauen eines grausamen, religiös verbrämten Strafsystems befreit [3]. Auch dieser Hinweis Zolas ist im-mer noch wichtig: Mit der Medikalisie-rung entstand vor allem im 19. Jahrhun-dert ein machtvolles Instrument – das aber stets im Kontext anderer machtvol-ler gesellschaftlicher Institutionen ope-riert, die durchaus gegenläufige Dynami-ken entfalten können.

Dieser Zusammenhang war auch Zeit-genossen dieser Entwicklung durchaus

bewusst. So formulierte etwa bereits im Kontext der deut-schen Revolution 1848 der Berliner Mediziner und Anthropo-loge Rudolf Virchow, dass die Medizin zu allererst der an wis-senschaftlich-rationalen Kriterien orientierten Transformation der sozialen Lebensumstände zu dienen habe. Und auch die Politik habe sich dieser wissenschaftlichen Rationalität zu un-terwerfen, womit er sogar das konventionelle Verständnis des Verhältnisses von Medizin und Politik umkehrte: „Politik“ – so Virchow – sei „weiter nichts, als Medicin im Grossen.“ [4] Nach diesem Verständnis hatte die Medizin durchaus sozialrevoluti-onäres Potenzial zu entfalten.

UMVERTEILUNG VON VERANTWORTUNG

Ein offensichtlicher Erfolg der Medikalisierung ist vor allem die Entstigmatisierung von Krankheit und der von ihr

Ein offensichtlicher Erfolg der Medikalisierung ist vor allem die Entstigmatisierung von Krankheit und der von ihr

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