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1. Einleitung

1.1 Das Restless-Legs-Syndrom unter dem Aspekt der spinalen Hyperexzitabilität

Das Restless-Legs-Syndrom, abgekürzt RLS, ist eine häufige neurologische Erkrankung mit einer Prävalenz in Studien von 4% bis 29% erwachsener Patienten in westlichen Ländern (Innes et al. 2011). Es ist auch unter dem Namen Willis-Ekbom Disease (WED) bekannt und wird klinisch über die vier essenziellen Kriterien der Konsensuskonferenz des National Institute of Health (Allen et al. 2003) definiert:

1. Bewegungsdrang in den Beinen, oft assoziiert mit Missempfindungen 2. Verschlechterung der Beschwerden in Ruhe

3. Besserung bei Bewegung

4. Zirkadiane Rhythmik der Beschwerden mit Verschlechterung am Abend.

Als unterstützende Kriterien werden ein Ansprechen auf Behandlung mit Levodopa (L-Dopa-Test), eine positive Familienanamnese sowie ein erhöhter Index periodischer Beinbewegungen (PLM) im Schlaf (PLMS) oder im Wachzustand (PLMW) angesehen (Benes und Kohnen 2009).

Oft wird ein primäres, d.h. idiopathisches, und ein sekundäres RLS, welches Folge einer anderen Erkrankung (z.B. Polyneuropathie, chronische Niereninsuffizienz, Eisenmangel) ist, unterschieden.

Die Periodic Limb Movement Disorder (PLMD) ist von einem Restless-Legs-Syndrom abzugrenzen. Sie ist durch periodische Beinbewegungen im Schlaf (PLMS) >15/h und eine reduzierte Schlafqualität charakterisiert. Dabei muss ein klinisches RLS gemäß den vier essenziellen Kriterien oder eine andere Ursache der Schlafstörung ausgeschlossen worden sein (Hornyak et al. 2006).

Ein wichtiger Aspekt des pathophysiologischen Konzepts des RLS beschreibt eine erhöhte spinale Exzitabilität in symptomatischen Phasen (Trenkwalder und Paulus 2010; Bachmann et al. 2010). Zur Entstehung der RLS-Symptome auf Ebene des Spinalmarks stellten die Autoren Clemens et al. (2006) folgende Hypothese auf: Aus der A11-Region im dorsoposterioren Hypothalamus projizieren dopaminerge hemmende Neurone ins Spinalmark (Abbildung 1).

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Pathophysiologie der spinalen Hyperexzitabilität bei RLS

Abbildung 1 aus Clemens et al. (2006), S.3, die Verwendung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des „Wolters Kluwer Health“-Verlags:

Von der A11-Region im dorsoposterioren Hypothalamus projizieren dopaminerge hemmende Neurone ins Spinalmark. Eine Dysfunktion dieser Hemmung ist an der Entstehung der RLS-Symptome beteiligt.

Eine Dysfunktion dieser hemmenden Neurone resultiert in einer spinalen Hyperexzitabilität und ist somit an der Entstehung der RLS-Symptome beteiligt.

Verschiedene Studien stützen diese Hypothese einer spinalen Hyperexzitabilität bei symptomatischen RLS-Patienten:

RLS-Patienten mit spinalen Läsionen oder nach Spinalanästhesie klagen aufgrund einer Schädigung der deszendierenden hemmenden Bahnen häufig über eine Verstärkung der RLS-Symptomatik (Högl et al. 2002). Außerdem zeigen primäre und sekundäre RLS-Patienten in symptomatischen Phasen eine statische mechanische Hyperalgesie, primäre RLS-Patienten zusätzlich eine Vibrationshyperästhesie sowie eine Hyperalgesie auf stumpfen Druck (Stiasny-Kolster et al. 2004; Bachmann et al.

2010). Darüber hinaus wiesen Bara-Jimenez et al. (2000) niedrigere Schwellen und

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Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen nach, was ebenfalls auf eine spinale Hyperexzitabilität hindeutet.

1.2. Der Hoffmann-Reflex bei RLS

Der Hoffmann-Reflex (H-Reflex), nach seinem Beschreiber Paul Hoffmann benannt, ist ein monosynaptischer Eigenreflex, der an verschiedenen Muskeln des Menschen durch elektrische Stimulation entlang der zugehörigen Nerven ausgelöst werden kann (Misiaszek 2003). Die Reflexbahn besteht aus den elektrisch gereizten Ia-Afferenzen, die monosynaptisch auf die zugehörigen Alpha-Motoneurone projizieren.

Die Zellkerne der Ia-Afferenzen liegen im Spinalganglion, die der Alpha-Motoneurone im Vorderhorn des Rückenmarks. Die Umschaltung erfolgt lokal jeweils im zugehörigen Rückenmarkssegment.

Die H-Reflex-Antwort kann durch verschiedene Faktoren moduliert werden.

Abbildung 2A aus Misiaszek (2003) zeigt den H-Reflexbogen mit möglichen modulierenden Faktoren in vereinfachter Darstellung: Zum einen gibt es präsynaptisch inhibierende Verbindungen auf die terminalen Ia-Afferenzen (1), zum anderen direkt an der Synapse die homosynaptische Depression (2). Sie wird auch Postaktivierungsdepression genannt und ist eine Verminderung der synaptischen Stärke durch langanhaltende hochfrequente Stimulation. An den Alpha-Motoneuronen selbst sind exzitatorische und inhibitorische Verbindungen (3), oftmals über lange supraspinale Bahnen, möglich. Die beschriebenen Faktoren (1) – (3) resultieren letztlich alle in Veränderungen des Membranpotenzials der Alpha-Motoneurone und modulieren so die H-Reflex-Antwort.

In dieser Arbeit wurde der H-Reflex des Musculus soleus (M. soleus), auch Soleus-H-Reflex genannt, verwendet. Der M. soleus liegt in der oberflächlichen Flexorenloge des Unterschenkels und gehört zusammen mit den beiden Köpfen des Musculus gastrocnemius zum Musculus triceps surae. Der M. soleus entspringt vom oberen Drittel der Tibia und Fibula, verläuft unter den beiden Köpfen des Musculus gastrocnemius und vereinigt sich zusammen mit diesem zur Achillessehne. Er wird vom Nervus tibialis (N. tibialis) innerviert und bewirkt eine Plantarflexion und eine Supination des Fußes. Die Reflexbahn des Soleus-H-Reflexes besteht aus den im N.

tibialis elektrisch gereizten Ia-Afferenzen, die auf Höhe des Rückenmarkssegments S1 auf die zugehörigen Alpha-Motoneurone umgeschaltet werden. Die Axone der Alpha-Motoneurone verlaufen über den N. tibialis zum M. soleus, von dem die

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Reflex-Antwort abgeleitet werden kann. Abbildung 2B zeigt beispielhaft das elektroneurographische Bild einer H-Reflex-Antwort am M. soleus. Neben einem Stimulusartefakt zeigt sich in der elektroneurographischen Antwort zuerst die M-Welle mit einer Latenzzeit von 5-10 ms und darauffolgend die eigentliche H-Reflex-Welle mit einer Latenzzeit von 30-35 ms. Die M-H-Reflex-Welle entsteht durch direkte Stimulation der Axone der Alpha-Motoneurone im Verlauf des peripheren Nervs (N.

tibialis) unter Umgehung des H-Reflexbogens, weswegen die Latenzzeit niedriger als bei der H-Reflex-Welle ist. Die Alpha-Motoneurone weisen eine höhere Depolarisationsschwelle als die Ia-Afferenzen auf, weswegen höhere Stimulusstärken zur Ableitung einer M-Antwort benötigt werden. Insgesamt ist die vom M. soleus abgeleitete elektro-neurographische Antwort von der angewendeten Stromstärke abhängig: Niedrige Stimulusstärken führen primär zu einer Depolarisation der Ia-Afferenzen des N. tibialis mit konsekutiv lediglich ableitbarer H-Reflex-Welle. Höhere Stimulusstärken lösen zusätzlich über eine direkte Depolarisation der Axone der Alpha-Motoneurone eine M-Antwort aus. Auf starke Erhöhung der Stimulusintensität nimmt die Amplitude der H-Reflex-Antwort wieder ab. Dabei werden durch Stimulation der Axone der Alpha-Motoneurone Aktionspotenziale generiert, die sowohl orthodrom, also entlang der physiologischen Ausbreitungsrichtung nach distal, als auch antidrom, entgegen der physiologischen Ausbreitungsrichtung nach proximal, fortgeleitet werden. Die durch Stimulation der Ia-Afferenzen generierten und im Rückenmark auf die Alpha-Motoneurone übergeleiteten Aktionspotenziale stoßen somit auf ein durch die antidrome Erregung refraktäres Alpha-Motoneuron. Folglich wird bei zunehmender M-Antwort eine abnehmende Amplitude des H-Reflexes gemessen.

Der H-Reflex wird in der klinischen Diagnostik z.B. bei einem Kompressionssyndrom der sakralen Nervenwurzel S1 oder einer Läsion des Ischiadikusnervs (Nervus ischiadicus) angewendet.

Bei RLS- und PLMD-Patienten konnten die Autoren Rijsman et al. (2005) pathologisch gesteigerte H-Reflex-Antworten des Soleus-H-Reflexes in Form eines erhöhten H2/H1-Quotienten zeigen. Dieser H2/H1-Quotient berechnet sich aus zwei H-Reflex-Antworten auf Doppelstimuli, die in verschiedenen Abständen (ISIs) ausgelöst werden (s. Methodenteil, Abbildung 4B). Dabei waren die H2/H1-Quotienten für die Interstimulusintervalle (ISIs) von 0.2, 0.3 und 0.4 sec bei acht Patienten mit RLS und einem Patienten mit PLMD im Vergleich zu gesunden

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Kontrollpersonen signifikant erhöht. Der erhöhte Quotient bei symptomatischen RLS- und PLMD-Patienten ist somit ebenfalls als Zeichen einer spinalen Hyperexzitabilität in symptomatischen Phasen zu werten.

Neurophysiologie des H-Reflexes

Abbildung 2 nach Misiaszek (2003), S.2, die Verwendung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des „John Wiley and Sons“-Verlags:

A H-Reflex-Bogen mit zugehörigen neuronalen Komponenten. Gezeigt ist die Ia-Afferenz mit monosynaptischer Umschaltung auf das zugehörige Alpha-Motoneuron. Die Modulation der H-Reflex-Antwort erfolgt über die Faktoren 1-4.: 1. Präsynaptische Inhibition über präsynaptische Verbindung auf die terminale Ia-Afferenz; 2. Homosynaptische Depression 3. Exzitatorische und inhibitorische synaptische Eingänge mit Veränderung der Erregbarkeit des Motoneurons;

4. Veränderungen des Motoneuronmembranpotenzials.

B Elektroneurographische Antwort des Soleus-Reflex mit Stimulusartefakt, M-Welle und H-Reflex-Welle.

1.3. Neue therapeutische Wege: Transkutane spinale Gleichstromstimulation (tsDCS)?

Die vielfach angewendete Therapie mit L-Dopa oder Dopaminagonisten bei RLS wird durch das Auftreten von Augmentation, einer Verstärkung der RLS-Symptome unter

Ia

1.

2.

4.

3.

A

B

M-wave Stimulus

Artifact

H-reflex

10ms

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stabiler Medikation, erschwert (Allen und Earley 1996; Allen et al. 2011; Garcia-Borreguero und Williams 2011). Weitere von RLS-Patienten als sehr unangenehm beschriebene Nebenwirkungen der dopaminergen Medikation sind Störungen der Impulskontrolle und Gewichtszunahme (Earley und Silber 2010; Provini et al. 2009).

Aufgrund dessen werden neue, nebenwirkungsärmere, am besten nicht-pharmakologische Therapiemethoden mit effizienter Wirkung gesucht.

Eine effiziente nicht-pharmakologische Methode in der Schmerztherapie ist anodale transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS), bei der über Elektroden an der Kopfhaut ein minimaler Gleichstrom appliziert wird (Antal et al. 2010).Transkutane spinale Gleichstromstimulation (tsDCS) kann gemäß aktueller Studienlage spinale Aktivität modulieren (Truini et al. 2011). Bei dieser Technik wird ebenfalls ein minimaler Gleichstrom, zumeist 2,5 mA für 15 min, über die Haut am Thorakalmark appliziert. Insbesondere anodale tsDCS nach diesem Protokoll hat in Studien hemmende Einflüsse auf spinale Aktivität gezeigt und führte sogar zu einer erhöhten Schmerztoleranz (Cogiamanian et al. 2008; Cogiamanian et al. 2011; Truini et al.

2011; Winkler et al. 2010). Könnte sie deshalb für RLS-Patienten, die eine spinale Hyperexzitabilität aufweisen, eine neue Therapieoption darstellen?

1.4. Fragestellung

Ziel dieser Arbeit war es, im Rahmen einer Pilotstudie zu untersuchen, ob tsDCS als neue nicht-pharmakologische Therapiemethode bei idiopathischem RLS in Frage kommt.

Dabei stellten wir insbesondere drei zentrale Fragen:

Hat die Applikation anodaler tsDCS inhibitorische Effekte auf spinale Aktivität, welche sich in einer Senkung der bei RLS-Patienten erhöhten H2/H1-Quotienten für die Doppelstimulusintervalle von 0.2, 0.3 und 0.4 sec zeigen (1)?

Führt die Applikation von anodalem Gleichstrom zu einer signifikanten Linderung der subjektiven RLS-Beschwerden (2)?

Gibt es (3) eine signifikante Korrelation zwischen einem möglichen inhibitorischen neurophysiologischen Effekt aus (1) und einem möglichen klinischen Effekt einer Linderung der RLS-Symptome aus (2)?