• Keine Ergebnisse gefunden

Allgemeine Einleitung

Gemeindeprotokollbücher – zentrale Quellen jüdischer Kulturgeschichte

Pinkasim1 sind, in Anlehnung an die von Mordechai Nadav vorgeschlagene Definition, die offiziellen und rechtlich verbindlichen Protokollbücher der autonomen jüdischen Gemeinden im frühneuzeitlichen Europa.2 Inhalt-lich lassen sie sich nur begrenzt mit den modernen, landessprachInhalt-lichen Protokollbüchern der jüdischen Gemeindevorstände, wie sie seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zu finden sind, vergleichen. Die pinkasim weisen in den meisten Fällen ein deutlich größeres Inhaltsspektrum auf. Sie sind somit zum einen ein Charakteristikum des frühneuzeitlichen europäischen Judentums und legen zum anderen Zeugnis von der umfassen-den administrativen Autonomie der Gemeinumfassen-den ab. Pinkasim gab es sowohl im aschkenasischen Kulturraum als auch in den sephardischen Gemein-schaften in den Niederlanden, in Italien und in Norddeutschland. Bis heute fehlt jedoch eine vergleichende Typologisierung der aschkenasischen und sephardischen pinkasim.

Der vorliegende Band gibt einen repräsentativen Überblick über die politische Interessenvertretung (Fürsprache) des aschkenasischen Judentums, wie sie in den frühneuzeitlichen Protokollbüchern der Gemeinden doku-mentiert ist. Damit schließt die vorliegende Edition an ihre 2014 erschienene

1 Im Singular pinkas; das Wort leitet sich vom griechischen πίναξ – eine mit Wachs be-schichtete Schreibtafel – ab. Im talmudischen Hebräisch bedeutet es neben »Schreib-tafel« auch »Register« oder »Liste«; siehe Marcus Jastrow, A Dictionary of the Targumim, the Talmud Babli and Yerushalmi, and the Midrashic Literature, 2 Bde., London/Philadelphia 1903, Nachdruck Jerusalem (o. J.), s. v. סקנפ. Allerdings wurde jedes Buch mit administrativem Inhalt oder registerartiger Struktur als pinkas be-zeichnet, so etwa die pinkase mohel (Beschneidungsbücher), pinkase ḥeshbonot (Kas-senbücher), pinkase bet ha-kneset (Synagogenplatzbücher) u. a.

2 Mordechai Nadav (Hg.), The Minutes Book of the Jewish Community Council of Tykocin, 1621–1806. 2 Bde., Jerusalem 1996–1999 (hebr.), hier Bd. 1, 18.

Vorgängerin an, die eine repräsentative Auswahl von in frühneuzeitlichen pinkasim niedergelegten Statuten zur innergemeindlichen Organisation bietet.3

Bereits seit dem ausgehenden Mittelalter war es in den bedeutenden asch-kenasischen Gemeinden üblich geworden, wichtige Entscheidungen der je-weiligen Gemeindevorstände schriftlich in Form eines Protokolls zu fixie ren.

Der traditionell hohe Alphabetisierungsgrad der Juden ermöglichte das Ver-fassen derartiger Texte und deren spätere Rekapitulation nicht nur durch die Bildungselite. In Archiven und Sammlungen haben sich einige solcher Einzel-protokolle erhalten, die für gewöhnlich am Ende des Blattes die Unterschrif-ten der Beschließenden zur Bestätigung aufweisen.4 Die häufig schlechte Quellenlage für das Spätmittelalter lässt allerdings kaum Schlüsse darüber zu, wie verbreitet letztlich das Protokollieren und somit Bewahren von wichtigen Entscheidungen in jüdischen Gemeinden dieser Zeit war. Unzweifelhaft ist aber, dass spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts mehrere bedeutende Gemeinden in Deutschland und in Italien begannen, mehr oder weniger regelmäßig die Beschlüsse der Vorsteher in Büchern zu protokollieren, weil diese im Fall wiederholter Lektüre stabiler und leichter auffindbar waren als Einzelblätter.

Der früheste Hinweis auf die Existenz und den Gebrauch solcher Proto-kollbücher stammt aus Italien, wo die Statuten der jüdischen Gemeinde von Rom bereits 1524 festlegten, dass professionelle Protokollanten alle Beschlüsse der Gemeindeführung in ein gesondertes Buch einzuschreiben hätten.5 Die ältesten erhaltenen pinkase kahal (Protokollbücher des Gemeindevorstands) wurden ab dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts geführt, darunter jenes aus Friedberg in Hessen (ab 1536),6 aus Verona (ab 1539),7 aus Frankfurt a. M.

3 Jüdische Gemeindestatuten aus dem aschkenasischen Kulturraum 1650–1850, hg.

von Stefan Litt (Archiv jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1), Göttingen 2014.

4 Siehe etwa das Beispiel aus Worms von 1377, Fritz Reuter, Warmaisa. 1000 Jahre Juden in Worms, Worms 1984, 62.

5 Siehe Yaakov Andrea Lattes (Hg.), The Register of the Jewish Community of Rome 1615–1695, Jerusalem 2012 (hebr.), Einleitung, 7, Anm. 3. Das Statutenbuch von Rom aus jenen Tagen hat sich nicht erhalten.

6 Das Original befindet sich in der Handschriftensammlung des Jewish Theological Seminary of America (JTS) in New York, vollständig ediert und ins Deutsche über-setzt in Stefan Litt (Hg.), Protokollbuch und Statuten der Jüdischen Gemeinde Fried-berg (16.–18. Jahrhundert), FriedFried-berg 2003.

7 Yaakov Boksenboim, Pinkas kahal Werona [Protokollbuch des Gemeindevorstands von Verona], 3 Bde., Tel Aviv 1989.

Allgemeine Einleitung 9 (ab 1552)8 und aus Padua (ab 1577).9 Die Anwendung dieser Protokoll-technik fand zuerst in den großen urbanen Zentren Verbreitung und dürfte vom zeitgleich entstehenden Protokollwesen christ licher Zünfte und anderer Korporationen (z. B. Kaufmannsgilden oder Bruderschaften) sowie der sich entwickelnden Verwaltung in den aufkommenden Territorialstaaten über-nommen worden sein.

Die kontinuierliche Führung eines pinkas bot die Möglichkeit zum späte-ren Nachvollziehen von Gemeindebeschlüssen im Verlauf der gemeindlichen Administrativgeschichte. Die in zahlreichen Einträgen der pinkasim vorhan-denen Querverweise auf frühere Beschlüsse zeigen, dass die Gemeindevor-steher bald den Vorteil dieses Systems erkannten und sich zunutze machten.

Die allmähliche Ausbreitung von Gemeindeprotokollbüchern in der Epoche zwischen 1500 und 1800 bis in kleine Landgemeinden verweist auf das zu-nehmende Bemühen um Effizienz der administrativen Vorgänge.10 Im jüdi-schen Rechtswesen ist mit der gleichzeitig einsetzenden Protokollierung der Tätigkeit von Rabbinatsgerichten eine ähnliche Entwicklung zu beobachten.11

8 Dieses bedeutende Protokollbuch wird in der National Library of Israel (NLI) in Je-rusalem aufbewahrt, von ihm sind nach wie vor nur kurze Auszüge ediert. Ein Index zum Inhalt wurde vorgelegt von Mordechai Nadav, Pinkas kahal Frankfurt de-Main [Protokollbuch des Gemeindevorstands von Frankfurt am Main], in: Kiryat Sefer 31 (1957), 507–516 (Nachdruck in: Mordechai Nadav, Pinkas patuaḥ. Meḥkarim be-toldot yehude Polin we-Lita [Offenes Protokollbuch. Forschungen zur Geschichte der Juden in Polen und Litauen], Tel Aviv 2003, 257–266).

9 Daniel Carpi, Minutes Book of the Council of the Jewish Community of Padua, 1577–1630, 2 Bde., Jerusalem 1973–1979 (hebr.).

10 Siehe auch Elisheva Carlebach, The Early Modern Jewish Community and its Insti-tutions, in: Jonathan Karp/Adam Sutcliffe (Hg.), The Cambridge History of Judaism, Bd. 7: The Early Modern World, 1500–1815, Cambridge 2018, 168–198, hier 176–179.

11 Ähnlich wie die pinkasim sind diese zahlreich vorhandenen Gerichtsprotokolle von der Forschung lange vernachlässigt worden. Vor einigen Jahren wurden Editionen der Gerichtsprotokollbücher von Frankfurt a. M. und Metz vorgelegt; siehe Edward Fram (Hg.), A Window on Their World. The Court Diary of Rabbi Hayyim Gunders-heim, Frankfurt am Main, 1773–1794, Cincinnati 2012; Jay R. Berkovitz (Hg.), Pro-tocols of Justice. The Pinkas of the Metz Rabbinic Court 1771–1789, 2 Bde., Leiden/

Boston 2014.

Überlieferung und Editionsgeschichte

Pinkasim haben sich für zahlreiche Gemeinden erhalten. Häufig sind sie Bestandteil der Gemeindearchive, sofern diese überhaupt die Kriege, Verfol-gungen und Katastrophen der letzten Jahrhunderte überdauert haben. In den Gemeinden wurden sie hoch geachtet und häufig kam ihnen ein besonderer Aufbewahrungsort in der Gemeindestube zu. In Worms wurde 1650 fest-gelegt, dass der pinkas in einer verschlossenen Truhe liegen müsse, deren Schlüssel nicht der amtierende Monatsvorsteher, sondern sein Vorgänger aufbewahren solle.12 Diese Vorschrift diente nicht zuletzt der Kontrolle der Amtsführung und der Vorbeugung von Manipulationen. Das Mitnehmen des Protokollbuchs nach Hause wurde darüber hinaus mit einer hohen Geldstrafe belegt, offenbar hatte es zuvor solche Fälle gegeben.

Als am 22. August 1614 in Frankfurt a. M. aufgestachelte christliche Ein-wohner die Judengasse stürmten und plünderten,13 wurde das Protokollbuch, das damals schon rund 80 Jahre im Gebrauch war, von einem Plünderer ent-wendet. Anfang Oktober 1614 zeigte ein gewisser Langhahn das Buch einem Gemeindevorsteher, der es für ganze elf Pfennige zurückkaufte.14 Dieser Bericht unterstreicht die gefährdete Überlieferungsgeschichte der pinkasim und erzählt nebenbei, dass der Plünderer ganz offensichtlich keine Ahnung davon hatte, was genau er da für einen überaus geringen Preis zum Rückkauf anbot. In den Fürther Statuten von 1770 wurde festgelegt, dass das Protokoll-buch (hier HauptProtokoll-buch genannt) zusammen mit anderen wichtigen Instru-menten der Gemeindeführung – dem Siegel sowie den Kassen- und Rech-nungsbüchern – in einem gesonderten und offenbar gesichertem Schrank (Kassa) aufbewahrt werden sollte.15 Auch in der westungarischen Gemeinde Deutschkreuz war noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Steuererheber verpflichtet, sämtliche pinkasim verschlossen zu halten.16 Es kann somit davon ausgegangen werden, dass in anderen Gemeinden ähnlich verfahren wurde.

Seit dem frühen 19. Jahrhundert rückten pinkasim in den Blickwinkel der historischen Forschung. Dabei wurden sie zunächst von den übrigen Gemein-dearchivalien getrennt betrachtet. Zu dieser Zeit untersuchten insbesondere

12 Litt, Jüdische Gemeindestatuten, 46, § 81 (א״פ).

13 Isidor Kracauer, Geschichte der Juden in Frankfurt  a. M. (1150–1824). Heraus-gegeben vom Vorstand der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a. M. durch Hedwig Kracauer, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1925, hier Bd. 1, 386–389.

14 National Library of Israel (NLI), Ms. Heb° 4 662, fol. 58, Eintrag Nr. 80.

15 Litt, Jüdische Gemeindestatuten, 178, § 119.

16 Ebd., 434, § 10.

Allgemeine Einleitung 11 die ersten Vertreter der »Wissenschaft des Judentums« einzelne dieser für die jüdische Gemeindegeschichte herausragenden Werke. So erhielt Raphael Kirchheim (1804–1889) in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Friedberger Protokollbuch zur wissenschaftlichen Nutzung, er versäumte allerdings, es der Gemeinde zurückzugeben. Diesem im Nachhinein glücklichen Umstand ist es zu ver danken, dass der Pinkas Friedberg nicht wie das restliche Fried-berger Gemeindearchiv während des Zweiten Weltkriegs verbrannte, sondern sich heute in den Sammlungen des Jewish Theological Seminary (JTS) in New York befindet.17

Ähnlich erging es anderen Protokollbüchern. Während der Pinkas Frank-furt auf bislang ungeklärte Weise Mitte der 1950er Jahre in die damalige Jewish National and University Library (JNUL, heute NLI) in Jerusalem ge-langte, wurde das Archiv der Frankfurter Gemeinde während des Zweiten Weltkriegs teilweise zerstört bzw. wurden die Überreste in alle Welt zerstreut.

Auch die Fürther Protokollbücher aus dem 18. Jahrhundert wurden vom großen Gemeindearchiv getrennt. Sie sind heute Teil der Sammlungen des Hebrew Union College (HUC) in Cincinnati, während die übrigen Fürther Gemeindeakten in den Central Archives for the History of the Jewish People (CAHJP) in Jerusalem aufbewahrt werden. Nur in solchen Fällen, in denen vollständige Gemeindearchive bereits vor Beginn des Zweiten Weltkriegs an jüdische oder staatliche Zentralarchive übergegeben wurden, haben sich die Protokollbücher als organischer Teil der gemeindlichen Gesamtüberliefe-rung erhalten. Beispiele dafür sind die Archive von Altona, Amsterdam und Den Haag.

In den letzten Jahren rückten pinkasim wieder mehr in den Fokus der Forschung, und auch die Möglichkeit einer digitalen Nutzung wird zuneh-mend gefordert. Einzelne Protokollbücher wurden von den aufbewahrenden Archiven digitalisiert, ein zentraler Zugriff auf viele pinkasim ist nunmehr über die National Library of Israel (NLI) möglich.18

Aus dem Korpus frühneuzeitlicher jüdischer Gemeindequellen aus Deutschland sind bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nur wenige Texte publiziert worden. Zu nennen sind hier der pinkas der Judenschaft Wied-Runkel, herausgegeben von Bernhard Wachstein,19 der unvollendet gebliebene Ver-such von Fritz Baer zum Protokollbuch der Landesjudenschaft im Herzogtum

17 Litt, Protokollbuch Friedberg, 1.

18 Siehe <https://web.nli.org.il/sites/nlis/en/pinkas> (8.9.2020).

19 Bernhard Wachstein, Das Statut der jüdischen Bevölkerung der Grafschaft Wied-Runkel (Pinkas Wied-Runkel), in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 4 (1932), 129–149. Wie der Titel anzeigt handelt es sich dabei allerdings um die takka-not der Gemeinde, nicht um ein Protokollbuch.

Kleve,20 das Protokollbuch der Bamberger Landesjudenschaft durch David Kaufmann,21 die Statuten der mittelfränkischen Landgemeinde Sugenheim durch Max Freudenthal22 sowie die Statuten der Altonaer Gemeinde von 1723 durch Max Grunwald.23

Anders hingegen ist die Situation für Protokollbücher aus Ostmittel-europa. Hier schenkten jüdische Historiker den innerjüdischen Quellen grö-ßere Aufmerksamkeit und brachten eine nicht geringe Anzahl von entspre-chenden Publikationen heraus. Beispiele hierfür sind die Arbeiten von Feivel Wettstein zu Krakau,24 von Salomon Buber zu Zołkiew mit Auszügen aus dem dortigen Gemeindeprotokollbuch25 und von Chajim Margolies zu Dubno mit ähnlichem Material.26 Majer Bałaban edierte für Kraków die frühen Statuten 20 Fritz Baer, Das Protokollbuch der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve. Teil 1, Berlin 1922. Dieses Werk bietet die Geschichte der klevischen Judenschaft, die für den zweiten Teil vorgesehene Edition des Protokollbuchs wurde nie vorgenommen;

Baers Manuskript des Pinkas Kleve wird in den CAHJP aufbewahrt: Inv. 263 a–c.

21 David Kaufmann (Hg.), Pinkas k’’k Bamberg [Protokollbuch der heiligen Gemeinde Bamberg], in: Sammelband kleiner Beiträge aus Handschriften. Koveẓ al Yad 7 (1896–1897), 1–46. Der Titel führt in die Irre, da es sich nicht um das Protokollbuch der Bamberger Gemeinde handelt, sondern vielmehr um das der bambergischen Landesjudenschaft.

22 Max Freudenthal, Die Verfassungsurkunde einer reichsritterlichen Judenschaft. Das Kahlsbuch von Sugenheim, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutsch-land 1 (1929), 44–68.

23 Max Grunwald, Die Statuten der »Hamburg-Altonaer« Gemeinde von 1726, in: Mit-teilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde 11 (1903), 1–62.

24 Feiwel H. Wettstein, Kadmonyot mi-pinkasot yeshanim le-korot Yisra’el be-Polin bi-khlal u-we-Krako bi-frat [Altertümer aus alten Protokollbüchern zur Geschichte der Juden in Polen allgemein und in Krakau insbesondere], Krakau 1892; siehe auch ders., Devarim atikim. Mi-pinkase ha-kahal be-Krako le-korot Yisra’el we-ḥakhmaw, rabbanaw u-manhigaw be-Polanya bi-khlal u-we-Krako bi-frat [Alte Dinge. Aus den Krakauer Protokollbüchern des Gemeindevorstands zur Geschichte der Juden und ihrer Gelehrten, Rabbiner und Gemeindevorsteher in Polen allgemein und in Krakau insbesondere], Krakau 1900.

25 Salomon Buber, Kirja Nisgaba. Biographien und Leichensteininschriften hervor-ragender Männer, Rabbiner, Gemeindevorsteher und Schriftgelehrter der Stadt Zol-kiew, in alphabetischer Reihenfolge geordnet, nebst einem Beitrage zur Geschichte der Juden in Zolkiew, Krakau 1903 (hebr.). Aus dem Titel geht nicht hervor, dass das Buch einige Einträge aus dem Gemeindeprotokollbuch aus der Zeit von 1620 bis 1704 enthält.

26 Chajim Margolies, Dubno rabbati. Toldot ha-ir Dubno we-ha’atakot mi-pinkas ha-kahal shela mi-shnat 475 we-hal’a u-mi-maẓevot she-al kivre gedole ha-ir hazot we-nikhbadeha [Das große Dubno. Geschichte der Stadt Dubno und Abschriften

Allgemeine Einleitung 13 der Gemeinde aus dem Jahr 1595,27 Schulim Ochser die Gemeindestatuten von Kuttenplan28 und Bernhard Wachstein edierte und übersetzte große Teile des Gemeindeprotokollbuchs von Eisenstadt.29

Nach der Zäsur des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs fand die Be-schäftigung mit den zentralen Quellen aschkenasischer Gemeindegeschichte vor allem unter israelischen Forschern größeren Anklang. Schon 1945 legte Israel Halperin den Pinkas Wa’ad Arba ha-Araẓot (Protokollbuch der [polni-schen] Vierländersynode) vor, wobei es sich hier um den durchaus kühnen Versuch handelte, einen pinkas zu rekonstruieren, dessen frühere Existenz nur vermutet wurde.30 Über eine konkrete Vorlage verfügte Halperin dagegen für die Edition der Statuten der mährischen Landesjudenschaft.31 Im Jahr 1962 publizierte Josef Meisl das Protokollbuch der Berliner Gemeinde.32 Vier Jahre darauf erschienen in Israel gleich zwei Editionen: Dov Avron edierte das Protokollbuch der Posener Wahlmänner,33 das im Wesentlichen kumulative Statuten enthält, und Daniel J. Cohen den pinkas der ansbachischen Landes-judenschaft.34 Die Edition des vergleichsweise sehr früh begonnenen pinkas der ursprünglich aschkenasischen Gemeinde von Verona wurde 1989 von Yaakov Boksenboims besorgt.35 Meir Hildesheimer legte 1992 das

Protokoll-aus ihrem Protokollbuch des Gemeindevorstands vom Jahr 1715 ff. sowie von Grab-steinen bedeutender und angesehener Personen dieser Stadt], Warschau 1910.

27 Majer Bałaban, Die Krakauer Judengemeinde-Ordnung von 1595 und ihre Nach-träge, in: Jahrbuch der jüdisch-literarischen Gesellschaft 10 (1912), 296–360, 11 (1916), 88–114.

28 Schulim Ochser, Der Pinkas der Gemeinde Kuttenplan, in: Mitteilungen zur Jüdi-schen Volkskunde 13 (1910), 32–89.

29 Bernhard Wachstein (Hg.), Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Eisen-stadt und den Siebengemeinden, Leipzig/Wien 1926.

30 Israel Halperin (Hg.), Pinkas wa’ad arba ha-araẓot. Likkute takkanot, ktavim we- re shumot [Protokollbuch der Vierländersynode. Sammlung von Statuten, Korrespon-denzen und Berichten], Jerusalem 1945 (erweiterte Auflage 1990).

31 Israel Halperin (Hg.), Takkanot medinat Mehrin [Gemeindestatuten des Landes Mähren], Jerusalem 1952.

32 Josef Meisl (Hg.), Das Protokollbuch der jüdischen Gemeinde zu Berlin (1723–1854), Jerusalem 1962. Das Original dieses pinkas ist heute verschollen.

33 Dov Avron (Hg.), Pinkas ha-ksherim shel kehillat Pozna [Protokollbuch der Wahl-männer der Gemeinde von Posen], (1621–1835) Jerusalem 1966.

34 Daniel J. Cohen (Hg.), The Statute- and Minute-Book of the Jewry of Brandenburg-Ansbach (1710–1718, 1771), in: Koveẓ Al Yad – Minora Manuscripta Hebraica, NS 6 (16), Jerusalem 1966, 457–537 (hebr.).

35 Siehe oben, Fußnote 7.

buch der fränkischen Gemeinde Schnaittach36 vor und Mordechai Nadav vier Jahre später den pinkas der polnischen Gemeinde Tykocin.37 Seitdem sind in Israel (Stand 2020) keine weiteren Gesamteditionen von aschkenasischen Gemeindeprotokollbüchern mehr entstanden.

Seit den 1990er Jahren fand das Thema auch in Mitteleuropa wieder größeres Interesse. Annette Haller edierte 1992 das Trierer Protokollbuch.38 Der Herausgeber der vorliegenden Edition publizierte 2003 das Protokoll- und Statutenbuch der alten Friedberger Gemeinde39 und 2014 die eingangs genannte Edition von ausgewählten Statutentexten verschiedener aschke-nasischer Gemeinden.40 Auch in Polen entstanden Editionen von pinkasim.

Anna Michałowska-Mycielska gab 2003 eine Auswahl von Dokumenten aus polnischen Protokollbüchern heraus,41 zwei Jahre später Teile des pinkas von Schwersenz (Swarzędz).42 Im Jahr 2015 folgte die Publikation des pinkas der Gemeinde Boćki.43

Sprachen und Inhalt

Die Einträge in den Protokollbüchern wurden überwiegend in den klassi-schen jüdiklassi-schen Sprachen Hebräisch und Jiddisch vorgenommen. Der jewei-lige Sprachgebrauch richtete sich nach lokalen Traditionen, dem Bildungs-grad der Schreiber und dem Inhalt. Häufig wurden Einträge, die sich auf Angelegenheiten der Rabbiner und der Synagogen beziehen, auf Hebräisch vorgenommen, während die übrigen Texte mehrheitlich auf Jiddisch notiert wurden. Seit dem 18. Jahrhundert weisen die Protokolle zunehmend in der Landessprache verfasste Anteile auf. Bei diesen handelt es sich meist um

Ab-36 Meir Hildesheimer (Hg.), Pinkas kehillat Shnaitakh [Protokollbuch der Gemeinde Schnaittach], Jerusalem 1992.

37 Siehe oben, Fußnote 2.

38 Annette Haller, Das Protokollbuch der jüdischen Gemeinde Trier (1784–1836). Edi-tion der Handschrift und Übertragung ins Deutsche, Frankfurt a. M. u. a. 1992.

39 Siehe oben, Fußnote 6.

40 Siehe oben, Fußnote 3.

41 Anna Michałowska-Mycielska, Gminy żydowskie w dawnej Rzeczypospolitej. Wybór tekstow źródłowych [Jüdische Gemeinden in der Polnisch-Litauischen Adelsrepub-lik. Eine Auswahl von Quellentexten], Warschau 2003 (hebr., poln.).

42 Dies., Pinkas kahału swarzędzkiego [Protokollbuch der Gemeinde Schwersenz]

(1734–1830), Warschau 2005 (poln., engl., hebr.).

43 Dies., Pinkas kahału boćkowskiego (1714–1817). Pinkas of the Bócki Kahal (1714–

1817), Warschau 2015 (hebr., poln.).

Allgemeine Einleitung 15 schriften offizieller Schreiben der jeweiligen christlichen Autoritäten, aber auch, wenngleich seltener, um innergemeindliche Angelegenheiten.

Die frühneuzeitlichen Protokollbücher weisen eine Reihe von Standard-themen auf, darunter Regeln zu Vorsteherwahlen und zur Mitgliedschaft in der Gemeinde sowie Verordnungen zu gemeindlichen Finanzfragen, zum Er-halt der Gemeindeinstitutionen (der Synagoge, des Ritualbades, des Friedhofs u. a.), zur Wohlfahrt, zu Immobilien und zu Disziplinarmaßnahmen gegen Gemeindemitglieder, die gegen das Religionsgesetz oder die Gemeinde-statuten verstießen. In den meisten Fällen bezieht sich der Inhalt der Ein-träge auf profane Belange der Gemeindeverwaltung. Folglich sind pinkasim als administratives Werkzeug der Vorsteher anzusehen. Rabbiner hingegen hatten nur sehr selten das Recht, Einträge vorzunehmen, wenn dies dennoch geschah, dann vor allem in ländlichen Gemeinden. In den urbanen Zentren hingegen setzte sich in der Frühen Neuzeit immer mehr der Gedanke durch, dass Rabbiner lediglich, wenngleich hoch angesehene, Gemeindeangestellte waren, deren Dienstverhältnis seit dem 16. Jahrhundert üblicherweise in Ver-trägen (ktav rabbanut) geregelt wurde.44

Den in den pinkasim häufig enthaltenen Sammlungen von Gemeindesta-tuten (hebräisch takkanot) kommt eine herausgehobene Bedeutung zu, da sie das profane innergemeindliche Zusammenleben regelten und organisierten.45 In den größeren Stadtgemeinden mit ausdifferenzierter Verwaltung wurden sogar gesonderte Statutenbücher geführt (z. B. Krakau, Friedberg, Altona).

Neue Statuten markierten oft einen Einschnitt für die Gemeindemitglieder, denn der Erlass neuer Regeln erforderte, zumindest theoretisch, die Anpas-sung von Verhaltensweisen an die neue Situation. Somit erzählen die Statuten viel über das Selbstverständnis der Gemeinde.

Viele pinkasim weisen lokale Spezifika auf, die mit den unterschiedlichen rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen der jüdischen Gemeinden in verschiedenen Territorien und Staaten korrespondieren. Diese Unterschiede betreffen beispielsweise Belange der Erwerbstätigkeit oder Kontakte zur Ob-rigkeit und zu anderen jüdischen Gemeinden.

44 Yitzhak Zimmer, The Fiery Embers of the Scholars. The Trials and Tribulations of German Rabbis in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Jerusalem 1999, 15–17 (hebr.).

45 Siehe dazu Stefan Litt, Statuten jüdischer Gemeinden im frühneuzeitlichen Europa.

Beobachtungen zu ihrer Genese, Struktur und Bedeutung, in: Gisela Drossbach (Hg.), Von der Ordnung zur Norm. Statuten im Mittelalter und Früher Neuzeit, Paderborn u. a. 2010, 235–252; ders., Jüdische Gemeindestatuten, passim.

Fürsprache (shtadlanut) im frühneuzeitlichen Aschkenas

Anders als in den pinkasim kleinerer, ländlicher Gemeinden finden sich in jenen von großen Gemeinden häufig Belege für diplomatische Missionen, Verhandlungen mit christlichen Autoritäten und Kontakte zu städtischen Behörden. Im jüdischen Sprachgebrauch wurden solche Aktivitäten als

Anders als in den pinkasim kleinerer, ländlicher Gemeinden finden sich in jenen von großen Gemeinden häufig Belege für diplomatische Missionen, Verhandlungen mit christlichen Autoritäten und Kontakte zu städtischen Behörden. Im jüdischen Sprachgebrauch wurden solche Aktivitäten als

ÄHNLICHE DOKUMENTE