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Von den Einflüssen der Freiheitsbewegungen auf die Anfänge der deutschen Südosteuropaforschung

D er langandauernde Nationswerdungsprozeß bei den Völkern zwischen A dria, Ägäis und der unteren D onau, der ״ teilweise bis heute noch nicht abgeschlossen ist“ , 1 erhielt während der Napoleonischen Kriege neue Impulse und näherte sich in den Befreiungskämpfen einem m arkanten Höhepunkt. Vorausgegangen waren wirt- schaftliche und sozio-kulturelle Verflechtungen mit den wichtigsten urbanen Zent- ren Mitteleuropas, aber auch mit einigen Studien- und Bildungsschwerpunkten West- und Osteuropas, die zum Aufstieg neuer Bildungseliten bei den durch Handel und geographische Lage begünstigten Völkern Südosteuropas geführt hatten. In der Zeitspanne zwischen G oethes Italienischer Reise und der Pariser Revolution von 1830 hatte die soziale Mobilität ebenso zugenommen wie die Reiselust der

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und W esteuropäer. Zunächst wurde Italien von den Bildungsreisenden der Offent- lichkeit nähergebracht, sodann Griechenland, und schließlich wurde der innere Balkan ״ entdeckt“ .

Die Anfänge landeskundlich-wissenschaftlicher Beschäftigung mit diesen Kultur- landschaften reichen zwar weiter zurück als bis zum Beginn der Befreiungsbewegun- gen, sie belebte sich aber seit dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts deutlich.

Zunächst stand Griechenland im Mittelpunkt des Interesses, dessen Antiken auf Forscher, Sammler und H ändler ihre Anziehungskraft ausübten. Danach zogen die Südslawen mit ihrem Freiheitsdrang und der davon beseelten reichen Volksdichtung die Aufmerksamkeit der Sprach- und Literaturforscher, später auch der Historiker auf sich. Im deutschen Sprachraum wurde das Interesse an den vielfältigen Kultur- formen dieses europäischen Subkontinents sowohl von den Impulsen der Romantik wie auch von den ethno-politischen Strömungen begünstigt, die mit dem W iderstand gegen den Imperialismus des Korsen breite Schichten erfaßten. D aher stießen die Freiheitskämpfe der Serben und Griechen nicht nur auf Verständnis, sie genossen vielmehr volle Sympathien, weil der nationale G edanke und die Forderung nach Selbstbestimmung seit d er Aufklärung und der Französischen Revolution verbreitet waren. Dies machte es den Vordenkern leichter, sich in ihrem geistigen Schwung

״ über die historisch gewachsene Staatenwelt“ hinwegzusetzen und das Schicksal der Menschen höher zu bewerten als das der Staatsgrenzen. Das aufsteigende Bürger- tum stellte die Idee der nationalen Selbstbestimmung auf neue G rundlagen, nach- dem die deutsche Jugend, an ihrer Spitze T heodor Körner, diesen Kampf für die Freiheit nicht als ״ Krieg der Kaiser und Könige“ , sondern als Kreuzzug und als

״ heiligen Krieg“ angenommen h a tte .2

Vielfältige Anstöße hatten dazu beigetragen, über die Grenzen hinauszublicken, das Geschehen auf den südlichen Halbinseln des Kontinents, in Spanien und auf dem Balkan, zu registrieren. Auch berichteten überregionale Zeitungen gelegentlich

1 Hösch, 159 2 Schnabel 492 f.

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über den Freiheitskampf der Serben oder über die wissenschaftlich-publizistischen Bemühungen der Griechen. G erade die Völker des übrigen Südosteuropa, Grie- chen, R um änen und Bulgaren, verfolgten den serbischen Aufstand mit weitaus grö- ßerer A nteilnahme als die deutsche Öffentlichkeit, denn die Anfangserfolge und die von Rußland erwartete und gelegentlich auch gewährte direkte o d e r indirekte Hilfe bedeuteten eine nicht zu unterschätzende Ermutigung, sich auf die eigenen Kräfte zu besinnen. Die tatkräftige Hilfe, welche die Aufständischen von ihren serbischen und kroatischen Brüdern aus der Vojvodina und aus anderen Teilen der Habsbur- germonarchie erhielten, erweckten auch bei den Griechen die Hoffnung, zumal die Schwächen der Janitscharen und der türkischen Verwaltung offensichtlich w aren.3

Die Sorgen um das eigene Schicksal erschwerten es der Öffentlichkeit im deut- sehen Sprachraum jedoch, das Ausmaß dieser Freiheitsbewegung vor dem E nde der Napoleonischen Kriege in vollem Umfang zu erfassen. Entsprechend der Prägung der deutschen Intelligenzschicht durch die humanistische Bildung stand die Anteil- nähme am Schicksal der Griechen im Vordergrund. Deshalb entwickelte sich der Philhellenismus zunächst in der Oberschicht, vor allem in Süddeutschland, wo die Erinnerung an den Seesieg von Lepanto im Jahre 1571, als die Christenheit sich von der Türkenbedrohung befreit glaubte, in vielen Kirchen durch bildliche Darstellun- gen wachgehalten worden war. Hier erhielt die Griechensympathie einen betont konfessionellen C harakter, der häufig mit der Begeisterung für die Kunst der A ntike verbunden wurde.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Türkenkriege auch deshalb noch in lebhafter Erinnerung, weil bayerische und badische Truppen an vielen Schlachten teilgenommen und reiche Beute gemacht hatten, so auf Kreta, Korfu und schließlich 1683 vor Wien. Als der Kronprinz und spätere König von Bayern, Ludwig, im Jahre 1810 heiratete und aus diesem Anlaß in München ein Volksfest veranstaltet wurde, schmückte ein von Kurfürst Max Em anuel erbeutetes türkisches Prachtzelt den Festplatz.

Die Anteilnahme am Schicksal der Christen unter der drückenden Herrschaft des theokratischen Osmanischen Reiches war also weit verbreitet, fand aber einen deut- liehen H öhepunkt erst während des Wiener Kongresses. Damals gelang es Vertre- tern der 1813 in A then unter internationaler Beteiligung von einigen zu der Zeit in Griechenland anwesenden Malern, Architekten und Bildungsreisenden gegründe- ten Gesellschaft der Philomusen, die aus allen Teilen Europas angereisten gekrönten H äup ter und deren Diplomaten auf die Ziele dieser Gesellschaft aufmerksam zu machen. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ״ für den Schutz der A ltertüm er zu sorgen und junge Griechen zur Ausbildung in das Ausland zu senden“ , wie O tto Magnus G raf Stackeiberg, einer der Mitbegründer dieser Gesellschaft, 1813 schrieb.

Begonnen hatte die Entwicklung dieser Gesellschaft, die es sich als erste zur Aufgabe gemacht hatte, eine menschen- und völkerverbindende Wissenschaftsför- derung in Südosteuropa zu betreiben, am 8. November 1811 in der Wohnung der aus England stamm enden Architekten Charles Robert Cockerell und John Forster in A then. Zunächst als Freundschaftsbündnis gedacht, hatte Carl Haller von Haller- stein, der erste deutsche Bauforscher und Archäologe in Griechenland, gemeinsam

3 Turczynski, Austro-Serbian Relations, 175 f.

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Einflüsse der Freiheitsbewegungen a u f die Südosteuropaforschung 67 mit O tto Magnus von Stackeiberg die Anregungen von Frederick North aufgenom- men, einen Ring mit der Eule A thenas - oder wie Haller berichtete, ״ mit dem Vogel der M inerva“ - als Zeichen der Verbundenheit zu stiften.4 Die Tätigkeit dieser Künstler, ihr Beitrag zur Erforschung der griechischen Kunst- und Kulturge- schichte, ist im Lande der Hellenen allerdings unter oft sehr entstellten Gesichts- punkten gewertet worden, wie ein kom petenter Fachmann in einem Beitrag über Gropius feststellen m ußte.5

Es war eine zeitliche Koinzidenz besonderer A rt, daß Friedrich Thiersch unab- hängig von dieser Vereinsgründung in einem Vortrag vor der A kadem ie der Wissen- schäften in München die Wiedergeburt von Hellas voraussagte. Als die Nachricht von der A th e n e r G ründung und den Vorträgen Thierschs in der griechischen Dia- spora-Gemeinde in Wien ankam , sahen sich deren politisch führende M änner zu M aßnahmen ermutigt, die der im Werden begriffenen Nation neue Wege zur H eran- bildung einer breiteren Intellektuellenschicht und damit zur A utonom ie, ja zur Un- abhängigkeit eröffneten. D er ehemalige Metropolit der Walachei Ignatios, der 1810 in Bukarest schon an der G ründung der ״ Griechisch-dakischen literarischen Gesell- schaft“ beteiligt gewesen war, begann mit Unterstützung von Ioannis G raf Kapodi- strias, einem im Dienst des Z aren stehenden griechischen Diplom aten, u nter den Teilnehmern am W iener Kongreß für die am 1. Juni 1815 gegründete Zweigstelle der Philomusengesellschaft zu werben. Viele nach Wien gekommene Fürsten spen- deten bereitwillig für die Errichtung von Gymnasien in A then und Thessalien, wobei die großzügigsten Geldbeträge von der Zarenfamilie und dem Wittelsbacher Krön- prinzen Ludwig kam en, der sogar reichlicher spendete als sein königlicher Vater.

Aristokraten aus vielen Ländern beteiligten sich an der Finanzierung dieser phil- anthropischen Vorhaben zur Bildungsförderung, darunter auch G raf Stephan (Ist- ván) Széchenyi, der wenige Jahre später durch seine gemäßigt-liberalen Reformbe- Strebungen in Ungarn die Wege zum Übergang von der Adels- zur bürgerlichen Gesellschaft ebnen half. Anders als während d er Französischen Revolution, als

״ Adelshaß und antityrannische Gesinnung“ die G em ü ter breiter Schichten erfaßt hatten,6 entstand nun eine lose Solidargemeinschaft von Wissensdurstigen und hilfs- bereiten Intellektuellen, die ein verstärktes Interesse an den Völkern Südosteuropas entwickelten. Ihnen zur Seite standen praktische Ziele verfolgende Staatsm änner und Diplomaten, die ethnopolitische Zukunftsvisionen mit den Vorstellungen der Künstler, Literaten und Forscher zu verbinden suchten.

Eine beträchtliche Breitenwirkung erzielten zunächst Schriftsteller und Schrift- stellerinnen, die Motive aus der Zeitgeschichte Südosteuropas verarbeiteten. So hatte Caroline Pichler (1 7 6 9 -1 8 4 3 ) in ihren Erzählungen Stoffe behandelt, die von der Belagerung Wiens und der W iedereroberung Ofens bis zu den G rausam keiten Ali Paschas von Janina oder der heroisch-patriotischen Haltung der Einwohner von Parga reichten, die bei der A btretung ihrer Stadt an das Osmanische Reich fast geschlossen nach Korfu auswanderten und neben den Heiligenbildern sogar die Gebeine ihrer Vorfahren mit in das Exil nahmen.

4 Fräßle, 53; Haller von Hallerstein, 145 f.

5 Pfligersdorffer, 28 — 33 6 Schnabel, 126

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Es waren zunächst die Randgebiete Südosteuropas, die ins Blickfeld der Zei- tungsberichterstatter und Literaten gerieten. Die serbischen Bauern und Hirten, die sich von der Osmanenherrschaft zu befreien begannen, erregten aus mannigfaltigen G ründen die Aufmerksamkeit mitteleuropäischer, vor allem aber deutscher Dichter und D enker. Deshalb war es auch kein Zufall, daß Jacob G rim m , der kurze Zeit zuvor seine Sammlung deutscher Sagen abgeschlossen hatte, Interesse für die erste Sammlung serbischer Volkslieder zeigte, die Vuk Karadžič zusammengetragen und Bartholomäus Kopitar übersetzt hatte. In den reichlichen M ußestunden, über die Grimm als Begleiter des hessischen G esandten während des W iener Kongresses verfügte, kopierte er diese Volkslieder. Damals entstand der erste ״ in vieler Hinsicht grundlegende Aufsatz Jacob Grimms über die serbische Dichtung und Sprache“ . Von nun an stand für lange Zeit die serbische Volkspoesie ״ stellvertretend für die gesamtslawische“ Volksdichtung.7

In weitaus stärkerem Maße als jede andere Stadt Mitteleuropas war Wien in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt fruchtbarer wissen- schaftlicher Kontakte und Anregungen geworden; und das den erfolgreichen Bemü- hungen Metternichs zum Trotz, der das Selbstbestimmungsrecht der kleinen Völker zu ignorieren versuchte, um dem monarchischen Stabilitätsprinzip seine volle Gel- tung zu erhalten.

Von den Wiener Intellektuellen wurde dem kulturellen - und damit dem natio- nalen - Aufstieg der Völker des Donau- und Balkanraums große Aufmerksamkeit geschenkt, wobei es keinesfalls die Neugier für das Exotische war, was diese Hin- wendung begünstigte, sondern ein genuines Interesse an Geschichte und Kultur der im Werden begriffenen jungen Nationen an der Südostgrenze des Habsburgerreichs.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen historischen Landschaften erhielt dadurch neuen Auftrieb. Innerhalb weniger Jahrzehnte hatten Griechen, Kroaten, Serben, Slowenen und Rumänen mittels ihrer überwiegend in Wien erscheinenden Zeitungen ihre Volkssprachen in den Rang von literaturfähigen Hochsprachen erhe- ben können. Von diesen Neuerungen beeindruckt, blickten Literaten und Gelehrte der deutschen Staaten auf diese Völker, von denen bis dahin nur die Griechen durch die zahlreichen Dramen und Gedichte der klassischen Epoche einer breiteren Le- sergemeinde unter den Gebildeten bekannt waren.

Nahezu gleichzeitig mit diesem neu belebten Interesse an der griechischen Antike und dem Boden, auf dem sie geblüht hatte, nahm die Zahl der Z eitungen, Zeit- Schriften und Lesegesellschaften zu, so daß trotz der von den Monarchen und ihren Polizeibeamten vertretenen Forderung nach R uhe als der ersten Bürgerpflicht eine rege Kommunikation und ein lebhafter G edankenaustausch die geweckte Neugier zu befriedigen versuchten. In den Hörsälen der Universitäten und den Kneipen der Studenten begegneten einander nicht nur viele Jahrgänge, Professoren, Honoratio- ren und altgediente Veteranen, mit der akademischen und bürgerlichen Jugend, sondern auch die aus den Handelszentren an die deutschen Universitäten drängen- den Söhne der serbischen, griechischen, walachischen und bulgarischen Kauf- und Handelsleute. Ein breiteres Lehrangebot griechenlandbezogener T hem en und eine

י Mojaševič, 22 f.

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Einflüsse der Freiheitsbewegungen a u f die Südosteuropaforschung 69 steigende Nachfrage belegen das starke Interesse an Südosteuropa.8 Die Städte West- und Mitteleuropas erleichterten es der aufstrebenden jungen Bildungsschicht, sich in ihren Mauern heimisch zu fühlen und die Okzidentalisierung ihrer Her- kunftsgebiete mit Ungestüm anzustreben.

Noch bevor München durch die Verlegung der Universität von Landshut in die Landeshauptstadt zu einem beliebten Studienort für Studenten aus Südosteuropa wurde, hatte 1816 Leo von Klenze mit dem Bau der Glyptothek im klassizistischen Baustil begonnen und damit den Anfang für die Prachtbauten im ״ Isar-A th e n “ gemacht. A b er noch war Wien das bedeutendere Tor zum Balkanraum, denn die Mittlerrolle Kopitars, des ״ Wegbereiters der südslawischen Romantik“ , wie ihn Jo- sef Matl nannte, bewirkte, daß einerseits Elemente der josephinischen Aufklärung bei den Nachbarvölkern stärker zur Geltung kamen und daß andererseits Verbin- dungen zu den Gelehrten in Mitteleuropa geknüpft wurden, die eine gegenseitige geistige Bereicherung nach sich zogen. Daß M änner wie Vuk Karadžič diese Mittler- rolle dankbar zu würdigen wußten, war für den Wissenstransfer nicht minder wich- tig.9

Wie aus den ״ Kleineren Schriften“ Kopitars hervorgeht, die Miklosich 1857 ver- öffentlichte, und wie die neuesten Kopitar-Forschungen belegen, waren die Interes- sengebiete dieses Universalgelehrten so weitgesteckt, daß er alle geistigen Regun- gen nicht nur der Süd- und Westslawen, sondern auch der Neugriechen, vor allem ihre Literatur verfolgte und z. B. die ״ Geschichte des Ursprungs der R ö m e r in Dacien“ und die ״ Romanische oder macedo-walachische Sprachlehre“ rezensierte.10 Schnabel hat diese Bewegung, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts ״ Alle G ebiete des Lebens“ zu verwandeln begann, im Zusammenhang mit der Französischen Re- volution und den konstitutionellen Ideen dargestellt. Für die verstärkt einsetzende Einbeziehung Südosteuropas in das Blickfeld der lesenden Intelligenz spielten aber auch die Kräfte eine wichtige Rolle, die der Widerstand gegen den Imperialismus Napoleons geweckt hatte. Sie trugen dazu bei, den Blick wieder verstärkt auf die Werte der humanistischen Bildung zu lenken. Goethe und Schiller griffen in ihren Werken Them en der griechischen Antike auf und machten sie dadurch einer breite- ren Leserschicht bekannt. Inspiriert durch die gründliche Lektüre Homers verfaßte Goethe eine ״ Achilleis“ in Versform, während Schiller in seinen populären Balladen griechische Sagenstoffe verarbeitete. Mit deutlichem Sarkasmus brachte G o eth e in seinem Faust das mangelnde Interesse der bürgerlichen Welt am Geschehen bei den Völkern ״ hinten weit in der T ürkei“ zum Ausdruck.

In Weimar hatte der Dichterfürst mehrere Male den griechischen Studenten

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nis Papadopoulos empfangen, der 1818 in Jena die erste griechische G oethe-U ber- setzung, die ״ Iphigenie auf Tauris“ , veröffentlichte. Von diesem Stipendiaten der Philomusengesellschaft ließ er sich über die Verhältnisse in Griechenland unterrich- ten, da er seit seinen Leipziger Studententagen an den kulturellen und politischen Entwicklungen der Griechen Anteil nahm. Wohl als erster registrierte er, daß deren

״ Hauptsinn des Lebens mehr von Worten als von klaren Begriffen und Zwecken

H Grimm, Griechenland in Forschung und Lehre 9 Matl, 269, 276. 300

!0 Miklosich, 1 8 9 -1 9 3

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regiert w urde“ . Deshalb ist es wohl auch nicht verwunderlich, daß er sich ״ nicht dazu verleiten ließ“ , zu Beginn des Freiheitskampfes ״ seine machtvolle Stimme für die Griechen zu e r h e b e n . . . “ “

In der deutschen Geisteswelt wurde das Wiedererscheinen der Griechen auf den Spielplänen des Theaters registriert, ohne allerdings die Ziele des politischen Thea- ters zu erkennen. Noch war man vollauf damit beschäftigt, die von Vertretern der Aufklärung eröffneten Möglichkeiten zu nutzen, die dem Bürgertum Zutritt zu den bislang dem Adel vorbehaltenen Aufführungen gaben. Diese Form eines gemäßig- ten Demokratisierungsprozesses, der durch die ״ Obsorge eines vernünftigen Ver- gnügungsangebotes in Verantwortung der öffentlichen H an d “ in Wien von dem Josephiner Josef von Sonnenfels 1770 eingeleitet worden war, hatte das T heater allmählich zu einer ״ Schule der Sittlichkeit, der Höflichkeit und der Sprache“ , also zu einem ״ Bildungstheater“ und schließlich zu einem ״ N ationaltheater“ 12 gemacht.

Konzerte, Hausmusik und Dilettantenaufführungen wurden in der gehobenen Mit- telschicht und vor allem im Bildungsbürgertum immer beliebter, so daß sich den W anderbühnen bis an die östlichen Grenzen der Habsburgermonarchie lukrative Betätigungsfelder auftaten. In Lemberg, Czernowitz, H erm annstadt und Kronstadt fanden diese Schauspieltruppen begeisterte Zuschauer, von dort aus beeinflußten sie Jassy und Bukarest, später auch Odessa, wo das national-politische T heater einen besonderen Höhepunkt erleben sollte. Für Jassy werden erste griechische Theateraufführungen am Hof des Fürsten Alexander Moruzis bereits für 1805 ange- nom m en, als Schüler ein Werk von Theodoros Alkaios, Lehrer an dem dortigen griechischen Gymnasium, genannt ״ A kadem ie“ , aufführten. Möglicherweise wurde damals auch eine Neubearbeitung der ״ Perser“ von Aischylos vorgenommen, doch scheint die erste öffentliche Theateraufführung erst 1809 erfolgt zu sein.13

Dieser Demokratisierungsprozeß mit Hilfe des Theaters, der sich im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bis in die griechischen Diaspora-Gemeinden zwi- sehen Odessa und Triest ausdehnte, aber auch auf dem griechischen Festland und an der kleinasiatischen Küste vereinzelte Aufführungen nach sich zog, fand gelegent- lieh in deutschen Veröffentlichungen Erwähnung, und das nicht nur in Wiener Zei- tungen sondern auch in der ״ Staats- und Gelehrten-Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten“ z. B. vom Septem ber 1819 und der ״ Zeitung für die elegante Welt“ , Leipzig 1821. Die Aufführungen von Theaterstücken griechi- scher Klassiker fanden ebenso Beachtung wie die von Voltaire oder von Original- werken junger Dichter, die zur Erweckung des Freiheits- und Nationalbewußtseins beitragen sollten. Denn eine Reihe dieser Stücke behandelten zeitgeschichtliche Ereignisse, die zur Vorbereitung der Erhebung dienen sollten.

Mit dem Ausbruch des griechischen Aufstands erhielt die Anteilnahme am Ge- schehen in Südosteuropa neue Impulse, die eindeutig stärker waren als die vom Josephiner Kopitar geförderten Kontakte zwischen Südslawen und deutschen Ge- lehrten. Erst jetzt wurde der Philhellenismus zu einem gesamteuropäischen

Phäno-11 G rim m . Griechische Studenten, 134; Veloudis, I, Phäno-112 12 Haider-Pregler, 701-705

IJ Puchner, 239 ff.

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Einflüsse der Freiheitsbewegungen a u f die Südosteuropaforschung 71 men, das das Europabild und den Europagedanken entscheidend ergänzte.14 Im deutschen Sprachraum bildete sich neben dem ״ Oberschichten-Philhellenismus“ , der seine Verankerung in der humanistischen Erziehung besaß, eine Art ״ Wider- stands-Philhellenismus“ , der von freiheitlichen Ideen getragen wurde. Diese besä- ßen im Einflußbereich der konservativen Monarchien nur geringe Manifesta- tionsmöglichkeit, nachdem die Karlsbader Beschlüsse die politische und geistige Freiheit in Deutschland eingeschränkt hatten.

Thiersch bewirkte mit seinem Vorschlag zur Errichtung einer ״ Deutschen Legion in G riechenland“ , daß zahlreiche Vereine aus dem Boden schossen, die von Nürn- berg, Heidelberg, Stuttgart und anderen Städten aus Geldspenden und Freiwillige für den griechischen Freiheitskampf auf den Weg brachten. Nahezu 1500 ״ Philhelle- nen des Schwertes“ kamen nach Griechenland, unter ihnen besonders viele Bayern und Preußen. Insgesamt besaßen die Philhellenen aus den deutschen Staaten eine eindeutige Mehrheit gegenüber Franzosen mit 152 und Briten mit nur 87 Mann.

G erhard Grimm hat in seinen ״ Studien zum Philhellenismus“ weit über einhundert Augenzeugenberichte für die Zeitspanne zwischen 1821 und 1843 untersucht und festgestellt, daß ״ für kein europäisches Land, das in der ersten Hälfte des 19. Jahr- hunderts durch seine politischen Schicksale die Aufmerksamkeit der gesamteuro- päischen Öffentlichkeit erregte (Polen, Spanien, Italien, Belgien, Serbien), wir mit einer gleichen Q u e l l e n f ü l l e beschenkt“ w u rd en .15 Damit wurde die kritische Ge- schichtsschreibung, die an der Wiege der historischen Südosteuropaforschung stand, ebenso bereichert wie die Archäologie, die noch in den Anfängen steckende Volks- und Völkerkunde und schließlich auch die Byzantinistik samt der Neogräzistik.

Reiseberichte und Memoiren aus diesen Jahrzehnten wurden zu einer unentbehr- liehen Quelle für die Geschichte Südosteuropas. Ihr Inhalt ergänzt die wesentlich später entstandenen Darstellungen der einheimischen Historiker, die nur zu oft die Nationalgeschichte ihres Volkes unter lokalpatriotischen Aspekten sahen und kein

Reiseberichte und Memoiren aus diesen Jahrzehnten wurden zu einer unentbehr- liehen Quelle für die Geschichte Südosteuropas. Ihr Inhalt ergänzt die wesentlich später entstandenen Darstellungen der einheimischen Historiker, die nur zu oft die Nationalgeschichte ihres Volkes unter lokalpatriotischen Aspekten sahen und kein