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Diskussion der Stationseinflüsse auf die Verweildauer

4.1 „Where have all those differences gone?“

4.3 Diskussion der Stationseinflüsse auf die Verweildauer

Krankenhäuser können als Pflichtversorgungskrankenhäuser die Zahl und Art der zu behandelnden PatientInnen nur in einem geringen Ausmaß beeinflussen: über ge-plante Wiederaufnahmen, und –falls sie über eine eigene Ambulanz verfügen- über Einweisungen aus der eigenen Ambulanz. Den größten Anteil ihres Patientenauf-kommens nehmen sie allerdings als „spontane Populationsmorbidität“ entgegen, die sie zu versorgen haben. Zum Vergleich von verschiedenen Institutionen muss daher derjenige Anteil, den die Patienten an der jeweiligen Zielgröße verursachen, statis-tisch mit geeigneten Mitteln adjustiert werden.

Beim Vergleich der 8 psychiatrischen Kliniken betrug der von den PatientInnen an der Verweildauer verursachte Varianzanteil fast 82%. Die Kliniken selbst banden kei-nerlei systematischen Varianzanteile. Aber immerhin fast 18% der Verweildauervari-anz war der Ebene der Stationen zuzurechnen. Wir haben daraus die Forderung ab-geleitet, bei der Qualitätssicherungsdiskussion „den analytischen Blick“ zu refokus-sieren, und von der Ebene der Krankenhäuser eine Ebene tiefer auf die Beschaffen-heit und Leistungsfähigkeit der einzelnen Stationen verstärkt zu achten.

Zu diesem Zweck haben wir die Verantwortlichen aus den beteiligten acht Kliniken zu einem Workshop eingeladen (am 9. Oktober 2001), um in gemeinsamer Diskussion die Bedeutung der neuartigen Erkenntnisse über die Rolle der jeweiligen Stationen bei der Bestimmung der Verweildauer auszuloten. Aus 7 der 8 Kliniken waren Ver-treter zu diesem Workshop anwesend.

In Ergänzung der im Abschnitt 4.2 dargestellten stationsspezifischen Effekte erhiel-ten alle Teilnehmer zur Vorbereitung eine Darstellung der oben dargestellerhiel-ten „cater-pillar plots“ mit einer pro Klinikum getrennt ausgewiesenen Benennung der konkreten Stationen. Dabei wurden jeweils nur die statistisch auffälligen Stationen dargestellt.

Am Beispiel der (hier anonymisierten) Darstellung zweier Stationen aus dem Klini-kum C sei erläutert, welcher Zusammenhang zwischen den stationsspezifischen Auffälligkeiten gefunden wurde: Station 302 (blaues Rautensymbol) behandelt das Aufnahmealter der PatientInnen bei den Entlassungsentscheidungen als eine signifi-kant geringer wirkend Verweildauer-verlängernde Variable im Vergleich mit den übri-gen Stationen. Sie erreicht den insgesamt 6.niedrigsten Wert für den stationsspezifi-schen Abweichungskoeffizienten uijk beim Aufnahmealter. Auch bei den stationsspe-zifischen Abweichungen bezüglich der Stations-spestationsspe-zifischen Abweichungen für die Diagnosengruppe Schizophrenie erreicht die Station 302 einen extrem niedrigen Wert (3.niedrigster Wert aus 135 Stationen). Genau umgekehrt verhält sich Station 302 bei der Variable „Medikations-freie“ Behandlung: Hier gehört die Station zu den-jenigen, die eine „Medikations-freie Behandlung“ , die sich grundsätzlich Verweil-dauer-verkürzend auswirkt, stationsspezifisch doch bei hohem Anteil von Patienten ohne Psychopharmaka wiederum eher Verweildauer-verlängernd behandeln. Auch das Grundniveau der Verweildauer (Intercept-Abweichung) ist in Station 302 statis-tisch auffällig höher als im Schnitt der Stationen (vgl. die Abbildungen 4.3.3 und 4.3.4).

Abb. 4.3.1 Spezifische Abweichung Station 302 beim Aufnahmealter

Abbildung 4.3.2 Spezifische Abweichung Station 302 bei Diagnose Schizophrenie Ward specific deviation from slope "age at admission" (negative)

-0.03 -0.025 -0.02 -0.015 -0.01 -0.005 0 0.005 0.01

821 406 102 308 101 302 307 227 202 829 501 305 824 403 608 910 114 106 511 818 811 205 119 117

Ward

upper ci slope age lower ci slope age

ward specific random slope age

Ward specific Deviation from Slope "Diagnosis=Schizophrenia"

(negative)

-1.2 -1 -0.8 -0.6 -0.4 -0.2 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2

106 302 827 818 308 821 227 118 406 305 920 812 903 608 202 916 511 811 823 403 824 910 504 107 120 805 607 102 116

ward

Abb. 4.3.3 Spezifische Abweichung Station 302 bei „Medikationsfreie Behandlung“

Abb.4.3.4 Spezifische Abweichung Station 302 bei Intercept

Ward specific deviation from slope

"no pharmaceutical treatment" (positive)

-1 -0.5 0 0.5 1 1.5

507 909 202 916 213 913 515 204 920 911 305 212 827 214 405 225 917 102 104 823 812 217 403 123 101 807 406 106 511 302 607 821 307 230 113 119 910 818 608 513 227

Ward

Random Intercepts (95% c.i.) of Wards with longer LOS

-1 -0.5 0 0.5 1 1.5 2 2.5

210 607 205 213 114 214 104 818 912 811 203 219 117 917 123 107 812 119 827 829 823 307 824 511 403 608 910 308 202 305 101 227 102 821 406 302 106

Ward

ward specific deviation from global mean of LOS

upper limit ci intercept lower limit ci intercept estimate of intercept of ward

Station 302 veranschaulicht in ihrem Verhalten sehr typisch die systematischen Zu-sammenhänge, die insgesamt über alle Stationen hinweg bei den stationsbedingten Varianzanteilen der Verweildauer zu beobachten sind:

Zusammenhang der Stationsbesonderheiten bei n=135 Stationen

U_ANZMV U_SCHIZO u_aufalter u_intercept u_nopharm Stationsspezifische Abweichung: Anzahl der

missing Korrelation nach Pearson 1.000 -0.198 0.117 0.015 -0.001

Signifikanz (2-seitig) , 0.021 0.176 0.860 0.989

U_ANZMV

N 135 135 135 135 135 Korrelation nach Pearson -0.198 1.000 0.598 -0.806 -0.543

Signifikanz (2-seitig) 0.021 , 0.000 0.000 0.000

U_SCHIZO

N 135 135 135 135 135

Korrelation nach Pearson 0.117 0.598 1.000 -0.879 -0.509

Signifikanz (2-seitig) 0.176 0.000 , 0.000 0.000

U_aufalter

N 135 135 135 135 135

Korrelation nach Pearson 0.015 -0.806 -0.879 1.000 0.640

Signifikanz (2-seitig) 0.860 0.000 0.000 , 0.000

U_intercept

N 135 135 135 135 135

Korrelation nach Pearson -0.001 -0.543 -0.509 0.640 1.000 Signifikanz (2-seitig) 0.989 0.000 0.000 0.000 , U_nopharm

N 135 135 135 135 135

Um der Frage nach einer möglichen Systematik bei den Abweichungen der Stationen nachzugehen, wurden auf dem Stationslevel die geschätzten u-Terme pro Station (siehe Gleichungen (3) und (4) im Abschnitt 2.1) miteinander korreliert. Das Ergebnis (vgl. Tabelle oben) weist darauf hin, dass die konkrete Station 302 durchaus keinen Einzelfall darstellt, sondern dass die Konstellation „generell lang–verkürzt bei Schi-zophrenie–lang bei medikationsfreien Patienten–das Alter weniger gewichtend“ ein gängiges Muster der Abweichung darstellt: Stationen, die (wie Station 302) generell länger behandeln (u_intercept), tun dies auch verstärkt (r = 0.64) bei einem höheren Anteil von Medikations-freien PatientInnen für genau diese PatientInnen

(u_nopharm). Dagegen ist erwartbar, dass sie (r = - 0.51) das Aufnahmealter weitaus weniger Verweildauer-verlängernd berücksichtigen als der Stationsdurchschnitt (u_aufalter), und auch die Diagnose Schizophrenie (r= - 0.54) weitaus weniger deut-lich als Verlängerungsfaktor berücksichtigen (u_schizo).

Den Gegenpol zu diesem Muster bildet ein Verhalten, wie es im selben Krankenhaus die Station 304 an den Tag gelegt hat. Diese Station behandelt generell eher kürzer als der Stationsdurchschnitt (Abb. 4.3.5, rotes Dreieck als Symbol, zweitniedrigster Wert insgesamt) und berücksichtigt auch die Medikations-freien Patienten noch stär-ker als Verweildauer-verkürzend als andere Stationen (Abb. 4.3.6). Dagegen wirkt sich in Station 304 die Diagnose „Schizophrenie“ überdurchschnittlich Verweildauer-steigernd aus (Abb.4.3.7, dritthöchster Wert insgesamt), ebenso wie das Lebensalter der PatientInnen (Abb.4.3.8 höchster „Zuschlag“ unter allen Stationen).

Abb. 4.3.5 Spezifische Abweichung Station 304 beim Intercept

Abb. 4.3.6 Spezifische Abweichung Station 304 „Medikations-freie Behandlung“

Random Intercepts (95% c.i.) of Wards with shorter LOS

-3 -2.5 -2 -1.5 -1 -0.5 0 0.5 1

108 304 115 121 223 230 604 606 401 402 817 605 111 514 816 105 110 204 806 209 815 809 810 804 830 310 918 513 109 902 404 306 820 802 907 218 517 805 906

Ward

ward specific deviation from global mean of LOS

Ward specific deviation from slope

"no pharmaceutical treatment" (negative)

-1.6 -1.4 -1.2 -1 -0.8 -0.6 -0.4 -0.2 0 0.2 0.4

201 223 115 121 502 108 501 605 510 111 802 504 606 402 815 304 508 604 105 828 809 109 306 209 220 603

Ward

Abb. 4.3.7 Spezifische Abweichung Station 304 „Diagnose Schizophrenie“

Abb. 4.3.8 Spezifische Abweichung Station 304 „Aufnahmealter“

Ward specific Deviation from Slope "Diagnosis=Schizophrenia"

(positive)

-1.2 -1 -0.8 -0.6 -0.4 -0.2 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2

Ward

Ward specific deviation from slope "age at admission" (positive)

-0.01 -0.005 0 0.005 0.01 0.015 0.02 0.025 0.03

919 820 109 217 514 805 204 111 218 604 110 810 401 817 105 815 223 816 230 115 209 402 108 809 806 830 304

Ward

Der fünfte im finalen statistischen Modell für die Verweildauer vorgefundene stations-spezifische Effekt, der random-slope-Effekt für den Zusammenhang der Dokumenta-tionsdichte mit der Verweildauer, zeigte bei der Auswertung der Kennwerte für die 135 Stationen keinerlei bedeutsamen Zusammenhang (|r| > 0.3) mit den übrigen Sta-tionsabweichungen. Dies deutet darauf hin, dass der Zweck der Kontrolle eines po-tenziell informativen Zensierungsmusters erfüllt ist, und sich in der Dokumentations-dichte dann keine spezifischen Organisationsprinzipien von Stationen mehr verber-gen, die kovariieren würden mit den übrigen 4 Variablen.

In der Diskussion der stationsbezogenen Ergebnisse beim Workshop am 9. Oktober 2001 fiel den Teilnehmern auf, dass sehr viele der auffälligen Stationen vom Muster der Station 304 (rote Dreiecke) Aufnahmestationen sind, die hier (eher atypisch) auch als Entlassungsstationen fungieren. Die auch im Vergleich zu anderen Statio-nen extrem kurzen Verweildauern bei medikationsfreien Behandlungen wie auch der generell sehr niedrige Verweildauer-Sockel (Intercept-Effekt) dieser Stationen könn-ten nach Meinung der Workshop-Teilnehmer interpretiert werden als „nahezu-Fehl-allokationen3“ von PatientInnen in stationäre Behandlung: Oft werden hier PatientIn-nen nur 1 oder 2 Tage zu einer Beobachtung (oder Ausnüchterung) stationär aufge-nommen; eine weitere stationäre Behandlung erweist sich dann aber nicht als not-wendig, und die PatientInnen werden aus der Aufnahmestation wieder entlassen.

Demgegenüber erklärten die Diskussionsteilnehmer die überproportionalen Verweil-dauern bei älteren und schizophren erkrankten PatientInnen bei der Entlassung von Aufnahmestationen mit einem „Entmischungseffekt“ in dem Sinne, dass es sich hier wohl um extrem schwer Kranke handeln könnte, die für eine sonst übliche, Klinik-in-terne Verlegung auf Therapiestationen mit Entlassungsorientierung nicht in Frage gekommen seien wegen ihres Krankheitsbildes.

Zur Deutung des Typs nach dem Muster von Station 302 (blaue Raute als Symbol) gewannen die Vertreter der Kliniken den Eindruck, dass hier verstärkt Psychothera-piestationen identifiziert wurden, die länger als der Gesamtdurchschnitt behandelten, die Medikations-freie Behandlung daher eher Verweildauer verlängernd betrachteten, aber den sonst üblichen „Alterszuschlag“ oder „Schizophrenie-Malus“ weniger deut-lich handhaben würden, wenn denn überhaupt ein älterer oder schizophrener Patient auf einer solchen Station behandelt und von dort entlassen werde. Möglicherweise würden schizophrene PatientInnen dort auch kaum behandelt, sondern schnell „wei-tergereicht“, wenn sonst das Stationskonzept gefährdet wäre, so der Eindruck.

Aus dem internen Wissen um die Organisationen äußerten die Klinikvertreter bei manchen der als auffällig identifizierten Stationen auch die Meinung, es seien durch die Multi-Level-Analysen persönliche Entscheidungsstile des/der einen oder anderen Oberarztes / -ärztin herausgearbeitet worden, die nicht weiter durch Organisations-besonderheiten, sondern eher durch einen besonders „fürsorglichen“ oder „robusten“

Entscheidungsvorgang gekennzeichnet wären.

Dass in Tabelle 4.5.1 der Methodenfaktor „Anzahl der missing values“, der als stati-onsspezifische Besonderheit der jeweils geübten Dokumentationsdichte eingeführt worden war, keine Level-2-Korrelation mit den übrigen Stationseinflüssen erreicht, kann als Zeichen dafür interpretiert werden, dass – wenn einmal dafür adjustiert

3 Vgl. Frick (2002) zur Diskussion des Begriffs „Fehlallokation“ speziell in der Psychiatrie.

wurde, dass manche Stationen bei bestimmten Verweildauerlängen eher mehr oder eher weniger genau die BADO-Variablen ausfüllen, - keine weiteren Zusammen-hänge mit anderen Organisationsspezifika mehr zu finden sind. Der Sinn der Metho-denvariable, für stationsspezifische Dokumentationsgewohnheiten zu adjustieren und so die inhaltliche Interpretation der übrigen Variablen zu verbessern, scheint also eingelöst zu sein.