• Keine Ergebnisse gefunden

Dimensionen der (Jugend-)Gewalt

Im Dokument 24. Oktober 2002 in der (Seite 127-132)

Immer Hallenschuhe mitbringen!!!!

BERATUNGS- UND SERVICEEINRICHTUNG

2. Dimensionen der (Jugend-)Gewalt

Wenn wir heute Vormittag auf der Straße oder auch hier in diesem Saal eine Meinungsumfrage durchführen würden und dabei wissen möchten, ob nach dem Eindruck der Befragten die Gewalt in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren zugenommen hat, so würden wir mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr viele zustimmende Antworten erhalten.

Hauptreferat Professor Dr. Rudolf Egg

Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden

Thema: "Dimensionen und Hintergründe der Jugendgewalt"

Es gilt das gesprochene Wort

Ich selbst teile diesen Eindruck und bin nicht hierher gekommen, um Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Als Wissenschaftler darf mir aber ein bloßer Eindruck, eine unsystematisch ge-wonnene Meinung also, nicht genügen. Ich will es schon ein bisschen genauer wissen und frage daher, ob es gesicherte Erkenntnisse über die Entwicklung der Gewalt gibt. Dabei stoße ich auf ein zweifaches Problem:

Zum einen gibt es ja nicht die Gewalt als ein einheitliches, geschlossenes Phänomen, sondern viele einzelne Gewaltbereiche. Diesen Handlungen ist zwar gemeinsam, dass sie in schädigender Weise gegen Personen, Institutionen, Tiere oder Sachen gerichtet sind - sie unterscheiden sich ansonsten aber teilweise erheblich und reichen von vergleichsweise einfachen Sachbeschädigungen über Körperverletzung, Raub, sexuelle Gewalt bis hin zu Mord und Totschlag. Um nun genau zu sein, wäre es erforderlich, diese Einzelbereiche auch einzeln zu betrachten.

Zum anderen sind aber auch die verschiedenen Gewaltakte nicht unmittelbar zugänglich, nicht direkt messbar wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Vielmehr gilt für die Gewalt wie für die Kriminalität insgesamt, dass wir allenfalls die Ergebnisse der sozialen Erfassung, der sozialen Konstruktion dieser Wirklichkeitsbereiche studieren können. Den für den Kriminologen wichtigsten Zugang liefert hier die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamtes.1 Diese seit 1953 jährlich geführte Statistik basiert auf den Meldungen der Polizeien der Länder und erfasst Straftaten (bekannt gewordene und aufgeklärte Fälle), Tatverdächtige sowie (bei bestimmten Deliktsgruppen) Angaben zu den Verbrechensopfern (Alter, Geschlecht), zur Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung (z.B. verwandt, bekannt), zur Schadenshöhe und zu sonstigen Merkmalen.

Selbstverständlich werden dabei immer nur bekannt gewordene Fälle berücksichtigt. Nicht entdeckte und nicht angezeigte Straftaten gelangen nicht in die PKS. Hinter dem polizeilich aufgedeckten Hellfeld der Kriminalität liegt deshalb stets auch ein mehr oder minder großes Dunkelfeld, über das die amtliche Statistik nichts aussagen kann. Dies gilt übrigens auch für das schwerste aller Gewaltdelikte, den Mord, wenngleich hier nicht das Anzeigeverhalten der Opfer, sondern die (Nicht-)Entdeckung eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, etwa in Abgren-zung von einem Suizid oder Unfall, maßgeblich für das Dunkelfeld (geschätzt 1:1) ist.2

1 Näheres zur PKS siehe im Internet unter: www.bka.de

Doch nun zu Struktur und Umfang der polizeilich registrierten Gewaltdelikte:

Von den über 6 Millionen polizeilich registrierten Straftaten in Deutschland im vergangenen Jahr betrafen 65%, also fast zwei Drittel, Eigentums- und Vermögensdelikte, während lediglich 3% (genau: 188.413) als Gewaltkriminalität klassifiziert wurden. Hier ist allerdings anzumerken, dass damit nicht alle Gewaltdelikte gemeint sind, sondern lediglich schwerere Formen wie Mord, Totschlag, sexuelle Gewalt, gefährliche und schwere Körperverletzung, Raub, räuberische Erpressung oder Geiselnahme. Würde man auch einfache Körperverletzung oder gar Sachbeschädigung (11,3% aller Straftaten) dazu zählen, wäre der relative Anteil deutlich größer.

Stellenwert, den diese Straftaten in der allgemein-öffentlichen und kriminalpolitischen Diskussion ausmachen.

Im zeitlichen Verlauf seit 1950 ist die Gesamthäufigkeitszahl (HZ = die Zahl der Delikte pro 100.000 Einwohner) für alle Straftaten von 3.000 auf rd. 8.000 angestiegen. Der Hauptanteil ist dabei auf die gestiegenen Fallzahlen im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte zurückzuführen, aber auch bei den Gewaltdelikten gibt es eine - wenn auch nicht so dramatische -, aber doch klare Zunahme. Besonders deutlich trifft dies für die gefährliche und schwere Körperverletzung zu (HZ von 50 auf 146 – nur neue Länder: 127), aber auch bei den Raubdelikten ist der Zuwachs beträchtlich (HZ von unter 10 auf 85 im Jahre 1997, zuletzt 69, neue Länder: 65).

Bei den schwersten Gewaltdelikten, den Tötungsdelikten, ist der zeitliche Verlauf uneinheit-lich. Einem deutlichen Anstieg in den 50er, 60er und 70er Jahren folgten wiederholt Rück-gänge, so auch in den letzten Jahren. Allerdings waren die hohen Werte von 1993 bis 1998 wesentlich beeinflusst durch die von der Zentralen Ermittlungsgruppe Regierungs- und

Ver-Betrachten wir die Struktur der Gewaltkriminalität etwas näher, dann wird deutlich, dass es dabei vor allem um gefährliche und schwere Körperver-letzung sowie um Raubdelikte geht. Diese beiden Gruppen umfassen über 94% der (schweren) waltkriminalität. Demgegenüber sind sexuelle Ge-waltdelikte (4,3%) und Tötungsdelikte (1,4%) deut-lich seltener vertreten, ganz im Gegensatz zu dem

Auch bei der sexuellen Gewalt, speziell der Vergewaltigung, ist der Verlauf der

Häufigkeitszahlen uneineinheitlich schwankend, seit Mitte der 80er Jahre eher rückläufig.

Allerdings sind die Werte ab 1998 wegen gesetzlicher Veränderungen der §§ 177, 178 StGB (Einbezug der Vergewaltigung in der Ehe, andere, weitere Definition der Vergewaltigung) nicht mehr mit den Vorjahren vergleichbar.

Zusammenfassend könnte man daher Folgendes feststellen:

1. Im längerfristigen Verlauf weist die Mehrzahl der Gewalttaten in Deutschland eine grundsätzlich zunehmende Tendenz auf, wobei sich aber auch Schwankungen, Stagnationen und zeitweilige Rückgänge finden lassen.

2. Dieser allgemeine Trend ist vor allem bei sogenannten leichten und mittelschweren Gewalttaten feststellbar, weniger bei besonders schweren Delikten (sexuelle Gewalt und Tötungsdelikte).

Betrachten wir Alter und Geschlecht der Tatverdächtigen bei der Gewaltkriminalität, so stellen wir zweierlei fest:

- eine hohe Dominanz der Männer (in allen Altersgruppen) - eine Konzentration auf die Jahrgänge der 14 bis 25-jährigen

Dieser Befund ist seit Jahren sehr stabil, auch international, und reflektiert eine Grunderkenntnis der Kriminologie, nämlich:

- die Tatsache, dass die Mehrzahl der polizeilich registrierten Gewaltdelikte von jungen und jungerwachsenen Männern begangen werden („Gewalt ist männlich“) und

- dass es sich dabei in den meisten Fällen um eine lebenszeitlich begrenzte kriminelle Aktivität handelt (Episodenhaftigkeit der Kriminalität).

Die PKS enthält auch Angaben zu den Opfern der Gewalt, jeweils aufgeschlüsselt nach dem Geschlecht. Für den Zeitraum von 1973 bis 1999 zeigt sich dabei zweierlei:

- eine (wie zu erwarten) deutliche Zunahme der Gewaltopfer (bei den Männern von 150 bis 350 Opfer pro 100.000 Einwohner) sowie

- eine nahezu konstante Geschlechterverteilung (rd. 70% : 30% – Männer vs. Frauen) Anders gesagt: Auch bei den Opfern der Gewalt dominieren die Männer, wenn auch nicht so stark wie bei den Tätern, und – wie sich zeigen lässt – mit gewissen Schwankungen für einzelne Gewaltformen:

Bei der Körperverletzung sind die Opferzahlen der Männer deutlich größer als jene der Frau-en (rd. 80% : 20%). Hintergrund dürfte hier u.a. sein, dass Männer ebFrau-en häufiger in

Schläge-reien verwickelt sind, während Frauen vor allem in Beziehungskonflikten Opfer einer Körperverletzung werden. Dies ist bei Raubdelikten anders; der Anteil der weiblichen Opfer liegt hier durchwegs über 30%. Der Grund dafür ist unter anderem beim Handtaschenraub zu suchen (fast 95% weibliche Opfer), aber auch bei den hohen Anteilen von Frauen als Opfer von Raubüberfällen auf Geldinstitute und Geschäfte (60 bis 65% weibliche Opfer).

Bei den Tötungsdelikten ist der Anteil der weiblichen Opfer mit 35 – 40% sogar noch höher, was weniger auf die zahlenmäßig eher seltenen Morde im Zusammenhang mit

Sexualdelikten zurückzuführen ist (2001: 25 Fälle von insgesamt 2.924 Opfern von Tötungsdelikten), wenngleich es sich hier in 85 bis 90% der Fälle um weibliche Opfer handelt. Bedeutsamer ist die hohe Zahl weiblicher Opfer bei sog. Beziehungsdelikten in der Folge von Trennungs- und Scheidungskonflikten.

Betrachtet man die Veränderungen der Tatverdächtigen- und der Opferzahlen seit 1984, so ergibt sich eine interessante Parallele der Entwicklung für die Jugendlichen und

Heranwachsenden (14 bis 21 Jahre) einerseits und die Erwachsenen (über 21 Jahre) andererseits. Dies bedeutet, dass es sich nicht nur bei den Tätern, sondern auch bei den Opfern der Gewalt überwiegend um junge Menschen, vor allem um Männer handelt (Ausnahme: sexuelle Gewalt). Dieser Aspekt sollte bei der Diskussion des Themas Jugendgewalt nicht vernachlässigt werden.

Soweit die Einschätzung nach der amtlichen Kriminalstatistik. Bezüglich der nicht offiziell registrierten Gewaltdelikte, also des Dunkelfeldes der Gewalt, bleiben wir auf Schätzungen oder oft auch nur auf Vermutungen angewiesen. Dabei liegt es nahe anzunehmen, dass dieses Dunkelfeld bei den einzelnen Gewaltbereichen unterschiedlich groß ist. So dürften schwerste Misshandlungen oder gar Tötungen (obwohl auch hier, wie bereits erwähnt, ein Dunkelfeld von 1:1 angenommen wird) in höherem Maße polizeilich erfasst werden als vergleichsweise leichte Verletzungen, etwa bei Raufereien unter Jugendlichen, oder einfache Raubdelikte (z.B. Abziehen von Fanartikeln auf Fußballplätzen).

Höhere Dunkelfeldziffern sind nach einschlägigen Studien vor allem zu vermuten bei Ge-waltdelikten innerhalb von Familien, aber auch im Bereich von Schule und Beruf, wobei hier ein gewisser Zugang durch anonyme Opferbefragungen zumindest grundsätzlich möglich ist oder möglich wäre. So gibt es seit langem Bestrebungen zur Einführung regelmäßiger Vikti-misierungsbefragungen in Deutschland nach dem Muster der amerikanischen oder britischen Crime Victimization Surveys.

Im Dokument 24. Oktober 2002 in der (Seite 127-132)