• Keine Ergebnisse gefunden

2 Bürgerengagement in der Bundesrepublik Deutschland

2.1 Dimensionen von Bürgerengagement

Befasst man sich mit dem Thema des sozialen Engagements des Einzelnen für das Gemeinwohl, so bietet sich ein mittlerweile unermessliches Feld von Aktivitäten und Organisationsformen, welches nicht zuletzt begrifflich schwer fassbar ist.12 Es existiert eine Vielzahl von Beschreibungen für den Sachverhalt, dass sich Menschen (häufig) im organisierten Rahmen eines Verbandes, einer Gemeinde, eines Vereins oder einer Initiative für eine Idee, eine Sache und/ oder für andere Menschen engagieren (vgl. Beher/ Liebig/

Rauschenbach 1998).

Je nach Zugang zum Thema und gewählter Perspektive werden mit dem Etikett des Engagements Hoffnungen, Vorstellungen und Entwürfe verbunden und ebenso Ansprüche transportiert. Entsprechend stehen jeweils andere Aspekte des Engagements im Vordergrund, was mit dazu beiträgt, dass ein einheitliches oder gemeinsames Verständnis schwer zu entwickeln ist. Gleichwohl wird dem Bereich im Kontext der Entwicklung und (Neu-) Akzentuierung der Zivilgesellschaft eine wachsende zentrale Rolle zugeschrieben (ebd.).

Das Thema hat Konjunktur und das nicht nur in Deutschland. Ebenso konjunkturell sind Begrifflichkeiten für die Beschreibung von Aktivitäten und die Beschreibung Engagierter selbst, die unterschiedlich verwendet und immer wieder verändert und angepasst werden. Die Rede ist vom Ehrenamt (traditionellem, altem, neuem, modernem) von Freiwilligenarbeit, Freiwilligentätigkeit, Bürgerengagement oder Bürgerarbeit, vom freiwilligen bzw.

bürgerschaftlichen Engagement, von gemeinwohlorientierter öffentlicher Arbeit etc. .

12 Es wird auf einen historischen Abriss im Kontext kultureller Traditionen zum Thema verzichtet; da es zahlreiche Publikationen gibt, die dazu umfangreich gearbeitet haben (siehe u .a. Berger 1979; Bissing 1968;

Kondratowitz 1983; Pankoke 1988). Vordringliches Interesse im Sinne der Forschungsfrage besteht darin, aktuelle und neue Entwicklungen im Engagementbereich zu beschreiben.

Charakteristisch für den allgemeinen Diskurs ist, dass das Phänomen bürgerschaftlichen Engagements in der Realität ein äußerst heterogenes Gebilde ist, das „in höchst unterschiedlichen Varianten und Spielarten auftritt“ – es „viele Gesichter“ hat (Olk 1997/

2001). Es werden unter genannten Begriffen sehr verschiedene Entwicklungen, Bereiche, Tätigkeiten, Motive, Funktionen und Mitarbeiter gefasst.

Seit den 70er Jahren wird in der Bundesrepublik verstärkt zum Thema sozialen Engagements in dem Sinne diskutiert, dass das „alte Ehrenamt“ als gesellschaftspolitische Ressource (wieder-)entdeckt wurde. Angesichts der deutlich gewordenen Grenzen des sozialen Projekts (vgl. Habermas 1985) wird auf Ehrenamt respektive Ehrenamtliche zurückgegriffen, um sozialstaatliche Probleme zu lösen. Mit der Krise des Sozialstaates, die ihren aktuellen Ausdruck in zunehmender Leistungseingrenzung findet, wird die Notwendigkeit begründet, dass sich Bürgerinnen und Bürger zunehmend stärker an der Leistungserstellung beteiligen sollen (vgl. Priller 2002). Das legt vordergründig den Gedanken nahe, dass es dabei in erster Linie darum geht, den überforderten Sozialstaat zu entlasten und Einsparungen möglich zu machen. Wiederum ist hervorzuheben, dass es sich bei der „Bürgergesellschaft“ ebenso um ein Demokratiemodell handelt, welches eine Neubestimmung des Verhältnisses von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Bürger meint und anstrebt (ebd.).

Auf politischer Ebene unterstreicht man den Stellenwert bürgerschaftlicher Arbeit als Beitrag und konstitutives Element einer lebendigen und solidarischen Demokratie, ohne welches viele Bereiche der Sozialen Arbeit, der Jugendarbeit, des Sports oder Umweltschutzes überhaupt nicht bestehen könnten (vgl. Bundestagsdebatte zum Ehrenamt 1996). Bürgerengagement und Selbsthilfe werden dahingehend sowohl als notwendige Ergänzung als auch als wichtige eigenständige Komponente im bundesrepublikanischen Sozialwesen gesehen. Ebenso existieren Befürchtungen, dass Bürgerengagement als vermeintlich kostengünstigere Alternative für das in Finanznot geratene Gemeinwesen ein Instrument zum Abbau qualitativer und personeller Standards sein kann (vgl. Corsa 1997; Evers/ Olk 1996).

Bürgerschaftliches Engagement zielt zunächst vorrangig auf individuelle Aktivitäten des Einzelnen. Individuen werden zunehmend mehr Definitionsleistungen zur „Selbstherstellung, Selbstgestaltung und Selbstinszenierung, nicht nur ihrer eigenen Biographie, sondern auch ihrer moralischen, politischen und sozialen Bindungen“ abverlangt (vgl. Evers 1998).

Nimmt man unter diesem Gesichtspunkt den einzelnen bürgerschaftlich Engagierten in den Blick, so zielt Bürgerengagement aus dieser Perspektive darauf, dass der Einzelne nach

sinnvollen Betätigungsmöglichkeiten sucht und damit auf Selbsterfüllung im Engagement vor dem Hintergrund persönlichen Nutzens zielt.

Die Aktivitäten des einzelnen bürgerschaftlich Engagierten stehen nicht zuletzt dafür, dass sich das Erscheinungsbild von Engagement wesentlich gewandelt und verändert hat. Seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre nimmt man Anzeichen wahr und beschreibt Kriterien für ein

„neues Ehrenamt“.13 Es wird von einem Strukturwandel gesprochen, wonach neben dem traditionellen Engagement (Ehrenamt) in den Arbeitsfeldern der Wohlfahrtsverbände und Kirchengemeinden neue Formen sozialen Engagements in der Selbsthilfebewegung, in selbstorganisierten Gruppen, in Bürgerinitiativen und Projekten entstanden sind (vgl. Bock 1988; Olk 1988; Sachse 1988). Das neue Ehrenamt wird mit organisatorischen und motivationalen Verlagerungsprozessen beschrieben, die zugleich zu einem Positionswechsel des Ehrenamts im gesellschaftlichen Kontext geführt haben. Als Folge dieser Entwicklung sieht man eine Vermischung von Selbsthilfeaktivitäten und ehrenamtlichem Engagement sowie eine Angleichung sozialer Ehrenamtlichkeit an die berufliche Sozialarbeit. Als Anzeichen für eine „Quasi - Verberuflichung“ und „Rationalisierung sozialer Ehrenamtlichkeit“ werden die zunehmende Qualifizierung und Verfachlichung sowie eine Tendenz zur Zunahme monetärer Gratifikationen gedeutet (vgl. Olk 1987).

Das Erscheinungsbild neuer Ehrenamtlichkeit wird häufig im Zusammenhang mit einem Wertewandel diskutiert. Dies meint eine Abnahme der Bindungskraft traditioneller religiöser und politischer Milieus verbunden mit einer Veränderung von Werten und Deutungsmustern (ebd.).

„An die Stelle der bedingungslosen Hingabe an die soziale Aufgabe unter Verzicht auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse und Interessen tritt heute der Wunsch nach einem freiwillig gewählten Engagement, das sich zeitlich den eigenen sonstigen Bedürfnissen und Interessen anpassen lässt und die eigenen Kräfte und Möglichkeiten qualitativ nicht übersteigt“ (Olk 1987, 115).

Modernes oder neues Engagement stehe gegenwärtig vielmehr für „persönlichen Nutzen“, den die Engagierten von ihrem Einsatz erwarten (vgl. Rauschenbach/ Müller/ Otto 1988). Das

13 Der Begriff des Ehrenamtes wird in diesem Kontext verwendet, da er damaligem Sprachduktus entspricht, im beschriebenen Kontext als traditionell besetzter Begriff Gültigkeit besitzt und erst in der aktuellen Diskussion zunehmend der Begriff des bürgerschaftlichen Engagements Verwendung findet.

altruistisch geprägte traditionelle Ehrenamt hat sich insofern gewandelt, als für heutiges Engagement eine „Norm der Reziprozität“ gesehen wird. Dies bedeutet neben monetärer Gratifikation ebenso soziale Anerkennung und Kontaktherstellung zu anderen (ebd.).

Das Erscheinungsbild neuen Engagements stellt sich nach folgenden Kriterien14 dar:

1. Als entscheidendes handlungsmotivierendes Merkmal gilt die Norm der Reziprozität von Geben und Nehmen und nicht mehr selbstloses Handeln.

2. Ehrenamtlich Arbeitende sind nicht mehr völlig „unbezahlt“ zu gewinnen oder zu motivieren. Ehrenamtliche Arbeit überlagert sich in vielen Bereichen immer stärker mit Honorartätigkeit, Billiglohnarbeit und Ersatz-Erwerbsarbeit.

3. Die Qualifikationsansprüche an ehrenamtliche Arbeit haben sich graduell erhöht. Es besteht ein Trend zu latenter Fachlichkeit bzw. zu „Semi-Professionalität“.

4. Die Anzahl der Typen ehrenamtlich Arbeitender hat sich ausgeweitet, so dass von einer Ausdifferenzierung und Pluralisierung des Ehrenamtes gesprochen werden kann.

5. Ehrenamtlichkeit ist zu einem Medium für Prozesse der Identitätssuche und Selbstfindung geworden.

6. Es findet eine Verlagerung des Engagements statt, neue Engagementfelder (z.B.

Ökologie) und neue Organisationsformen (z.B. selbstorganisierte Initiativen) gewinnen an Attraktivität.

7. Die durch ehrenamtliche Arbeit eingegangenen verpflichtenden Arrangements verlieren an Attraktivität, d.h. Ehrenamtliche nehmen für sich die Option in Anspruch, sich (jederzeit) wieder zurückziehen zu können.

Für die Forschungsfrage steht im Vordergrund, nach den Auslösern – den Motiven des Einzelnen zu forschen, sich bürgerschaftlich zu engagieren. Interessant wird es sein, ob und wie weit auch ein Motivwandel im Engagement festzustellen ist.

Behauptet wird ein Wandel von pflichtbezogenen hin zu stärker selbstbezogenen Motiven des Einzelnen. Altruistische Begründungen im Sinne einer Dienst- und Pflichterfüllung treten demzufolge in den Hintergrund und werden verdrängt von Erwartungen, wie unter anderem Bereicherung der eigenen Lebenserfahrung, Erweiterung individueller Fähigkeiten und Kompetenzen sowie dem Wunsch der Mitgestaltung des persönlichen Lebensumfeldes (vgl.

Beher/ Liebig/ Rauschenbach 2000; Heinze/ Olk 1999; Olk 1987). Indikatoren eines solchen Wandels sind darin zu suchen, dass die an tradierte sozialkulturelle Milieus und deren Wertorientierungen gebundenen Engagementformen an Bedeutung verlieren, während auf

14 In Anlehnung an Brandenburg 1995; Krüger 1993; Rauschenbach 1991b

Selbstentfaltung bezogene Motive, wie z.B. „Spaß haben“, „eigene Fähigkeiten und Kenntnisse einbringen und weiterentwickeln“, „sich selbst aktiv halten“ und schließlich

„interessante Leute kennen lernen“ an Bedeutung gewinnen (ebd.).

Diese Aspekte einer „neuen Ehrenamtlichkeit“ beschreiben einen umfassenden Wandel von Engagement in der Gesellschaft, der auch auf eine veränderte Haltung des Einzelnen zum freiwilligen sozialen Engagement hinweist. Ein konkretes und anschauliches Bild der anderen und neuen Strukturen und Positionen im Engagementbereich ergibt sich nicht zuletzt aus der Analyse von Tätigkeiten und Aktivitäten, die dieses Feld mittlerweile prägen.

Tätigkeitselemente im bürgerschaftlichen Engagement zeigen ein weites Spektrum von mitgliedschaftlichen, gemeinwohlorientierten und politischen Aktivitäten auf. Diese reichen von der Mitgliedschaft in Vereinen und Verbänden, der Übernahme von (Ehren-)Ämtern bis zu Formen direkter Beteiligung an Aktivitäten innerhalb des Gemeinwesens. Umstritten ist allerdings nach wie vor, welche Tätigkeitselemente unter bürgerschaftlichem Engagement gefasst werden können15. In Anlehnung an Zimmer wird unter bürgerschaftlichem Engagement folgendes subsumiert:

- die einfache Mitgliedschaft und ehrenamtliche Tätigkeit, etwa in Parteien, Verbänden, Gewerkschaften, politischen Gremien und Vereinen

- die freiwillige unbezahlte Mitarbeit in karitativen oder gemeinwohlorientierten Einrichtungen, wie etwa Krankenhäusern, Schulen, Museen , Bibliotheken

- die verschiedenen Formen direktdemokratischer Bürgerbeteiligung, etwa im Rahmen von Volksbegehren oder Volksentscheiden, sowie schließlich

- die Beteiligung an Protestaktionen im Rahmen der Bürgerinitiativbewegung oder auch der neuen sozialen Bewegungen, wie etwa der Ökologie-, Antiatomkraft oder Frauenbewegung

(Zimmer/ Nährlich 2000, 14f.) Nach Roth existiert eine ähnliche, jedoch differenziertere, Übersicht:

- Konventionelle und neue Formen der politischen Beteiligung, die von unmittelbarer politischer Beteiligung über gesetzlich geregelte Beteiligungsangebote bis hin zur informellen und aktivierenden Beteiligung mit einer öffentlich unterstützenden Infrastruktur und Formen der Mobilisierung in Initiativen und Projekten reicht

15 Der folgende Überblick zu Tätigkeitselementen im bürgerschaftlichen Engagement orientiert sich an einer Darstellung von Sebastian Braun im Kontext: Enquete-Kommission“ Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ 2002, die einen nach wie vor aktuellen Status hat.

(Mitarbeit in Parteien, Verbänden und Gewerkschaften, in Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen)

- Freiwillige bzw. ehrenamtliche Wahrnehmung öffentlicher Funktionen, die von Schöffen und Wahlhelfern über Elternbeiräte bis zu Bürgervereinen reichen

- Klassische und neue Formen des sozialen Ehrenamts, das vom „alten Ehrenamt“ in Wohlfahrtsverbänden etc. bis hin zum „neuen Ehrenamt“ in Freiwilligenagenturen, Ehrenamtsbörsen oder Hospiz-Gruppen reicht

- Klassische und neue Formen der gemeinschaftsorientierten, moralökonomisch bzw.

von Solidarvorstellungen geprägten Eigenarbeit, die nicht den Charakter regulärer Erwerbsarbeit annehmen, sondern auch moralökonomische Elemente enthalten (Nachbarschaftshilfe, Genossenschaften, Seniorenservice- Zentren etc.)

- Klassische und neue Formen von gemeinschaftlicher Selbsthilfe und anderen gemeinschaftsbezogenen Aktivitäten, bei denen von einer unklaren Schattenlinie zwischen exklusivem Selbstbezug und bürgerschaftlichem Engagement auszugehen ist (Familienselbsthilfen, Selbsthilfegruppen im Gesundheitsbereich, Selbsthilfe- Kontakt- und Informationsstellen etc.)

(Roth, in: Zimmer/ Nährlich 2000, 31) Im Rothschen Verständnis, dem sich die Studie anschließt, werden sowohl „alte traditionelle“

Formen des Ehrenamtes als auch „neue“ Formen von Bürgerengagement miteinander verbunden und in ihrem Nebeneinander betont und damit „Brücken geschlagen“ (ebd.) zwischen altem und neuem Engagement. Deutlich werden Pluralisierungstendenzen, die sich in einer Ausdifferenzierung von Engagement in vielfältigen Formen wieder spiegeln und sich in einer Gemengelage von unterschiedlichen Aktivitäten und Tätigkeitsformen niederschlagen. 16