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Die Verlegung der Kämpfe von Katalonien in die Provence

Geschichte und Folklore als Inspirationsquellen der altfranzösischen Epik

1) Die Verlegung der Kämpfe von Katalonien in die Provence

Die erste der drei Neuerungen überschreitet zwar unser Thema und wird von den meisten Epenforschern eher mit dem Namen Wilhelm als mit dem Namen Renewart assoziiert; allein übergingen wir sie wortlos, könnte man uns mit Recht vorhalten, es sei nicht zu erkennen, wie die hier vorgetragene Deutung des Renewart-Komplexes mit der sonstigen Forschung zu vereinbaren ist. Wir werden also kurz auf die Archamp-Frage und auf die allgemeinere geographi-sche Problematik der frühen Wilhelmsepik eingehen, auch wenn diese Diskus-sion uns vorübergehend von Renewart wegzuführen scheint.

Rita Lejeune hat in einem bahnbrechenden Aufsatz30 wahrscheinlich ge-macht, daß das Archamp etymologisch einfach einare champ, also ein „Trok-kenfeld, Ödland“, ist. Dann aber darf man das Wort, wie schon Jeanne Wathe-let-Willem31 vermutete, noch nahezu als Appellativum betrachten, und die bisher fast ergebnislos diskutierte Frage, ob das epische Archamp „ursprüng-lich“ in Katalonien, in Septimanien oder unmittelbar östlich der Rhônemün-dung lokalisiert gewesen sei, verliert viel von ihrer Schärfe. Mit großer Wahr-scheinlichkeit lag das Archamp für die meisten Nordfranzosen lange Zeit einfach „im Süden“, und die nähere Lokalisierung ergab sich erst sekundär daraus, daß man sich Wilhelm (wie in Teilen desWilhelmsliedes I) in Barcelona oder aber (wie in der gesamten Renewartepik und fast in der gesamten übrigen Wilhelmsepik) in Orange ansässig dachte.

Wenn nun das Wilhelmslied insgesamt, wie wir oben bestätigt gefunden haben, der Geschichte nicht näher steht als der KomplexChevalerie Vivien/Ali-scansund wenn man ohnehin nichtgleichzeitigalle geographischen Bizarrerien desWilhelmsliedes Ialslectiones difficilioresbehandeln kann, wenn damit aber auch das Stichwort Barzelune (Wilh. 932, 933) in seinem Charakter als lectio difficiliorfraglich wird, so dürfen wir unsere Aufmerksamkeit auf jene andere Lokalisierung konzentrieren, die, ob man sie nun mit Frau Lejeune für

ursprüng-30A propos du toponyme «L’archamp» ou «Larchamp» dans la Geste de Guillaume d’Orange, BRABLB 31 (1967) S. 143–51.

31A propos de la géographie de la Chanson de Guillaume, CCM 3 (1960) S. 107–15.

lich ansieht oder nicht, schon im 12. Jh. die bekannteste wird und am besten zu Wilhelms bald allgegenwärtigem Beinamend’Orangepaßt: die Lokalisierung südlich von Arles, die es gestattet, das Archamp mit dem Gräberfeld der Aliscans und in seinem allgemeinen Landschaftscharakter mit der sich anschließenden Crau gleichzusetzen.

Hier wird nun die allgemeinere geographische Problematik schon der älte-ren Wilhemsepik sichtbar. Der historische Wilhelm wurde 793 zwischen Nar-bonne und Carcassonne geschlagen und spielte 801 bei der Eroberung von Bar-celona eine wichtige Rolle. Demgegenüber hat sich in der Epik Wilhelms Tätigkeitsfeld weit nach Nordosten verlagert; mehr noch, gegen die geschichtli-chen Grundzüge der Zeit um 800 vollziehen sich seine Eroberungszüge z. T. in nordöstlicher Richtung: schon32als Sohn jenes Aimeri bezeichnet, der Narbonne eroberte und offensichtlich nie mehr definitiv verlor, eroberte er zunächst das viel weiter nordöstlich liegende Nimes, dann das wiederum nordöstlichere Orange, um schließlich einen Tagesritt südlich von Orange an der Rhônemün-dung auf dem „Archamp“ sein Lebenswerk unter ungeheuren Opfern verteidi-gen zu müssen. Man sage nicht, alle diese Ortsvorstellunverteidi-gen seien unabhängig voneinander aus partikulären Gründen entstanden; das trifft möglicherweise zum Teil zu, doch damit sie schon im 12. Jh. widerspruchslos nebeneinander akzeptiert wurden, bedurfte es hinter den partikulären Ursachen einer allgemei-nen Ursache, und diese vor allem interessiert in unserem Zusammenhang. Ich glaube sie – im Prinzip wie einst Léon Gautier, heute Frau Lejeune33– in der allgemeinen Geschichte etwa der Jahre von 860 bis 1020 zu finden. Von unge-fähr 860 an sind die direkten Berührungen zwischen dem französischen König-tum und dem Kalifat von Córdoba nur noch minimal. Einerseits bedingt der Machtschwund der französischen Könige allmählich eine Schrumpfung auch des politisch-geographischen Horizontes: schon Karl der Kahle begnügt sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt bewußt mit einer rein nominellen Oberherr-schaft über Katalonien und das Roussillon;34 aber wie peripher liegt Spanien erst im Denken z. B. Flodoards, wenn man diesen mit den Reichsannalisten des

32 Während das Haager Fragment bekanntlich weder im einen noch im anderen Sinne eine Entscheidung der Frage zuläßt, ob der Wilhelmskomplex damals schon mit dem Aimeri-Komplex verbunden war, bezeugen die erhaltenen Wilhelmsepen und dieKarlsreisedas Vater-Sohn-Verhältnis; der Versuch, einschlägige Stellen als Interpolationen zu verdächtigen (wie ihn einst für dieKarlsreiseDensusianu, für andere Stellen gelegentlich Ph. A. Becker unter-nahm), ist philologisch durch nichts zu rechtfertigen und dürfte heute allgemein aufgegeben sein.

33 L. Gautier,Les épopées françaises, Bd. 4, Paris21882, S. 100; R. Lejeune (s. Fn. 1), S. 49–

54.

34 Vgl. z. B. R. Lejeune,De l’histoire à la légende, MA 56 (1950) S. 1–28.

frühen 9. Jhs. vergleicht! Andererseits erstreckt sich der militärische Ehrgeiz auch des spanischen Kalifats nie mehr über die Pyrenäen nach Norden: selbst auf dem Höhepunkte seiner Macht greift Almansûr nur bis Barcelona aus, und auch das erst, nachdem ihm klar geworden ist, daß der Graf von Katalonien kaum auf die Hilfe seines nominellen Oberherrn, des Königs von Frankreich, rechnen kann.35 In der Tat kehrt Katalonien nach einem kurzen, erfolglosen Hilferuf gegenüber Hugo Capet sogleich zu seiner traditionellen Politik der Selb-ständigkeit zurück.

Als militärische Gefahr für das heutige Frankreich präsentiert sich vielmehr der Islam während dieser gesamten Epoche unter einem anderen Aspekt: Frei-beuterscharen, die sich meist der direkten Kontrolle durch die großen islami-schen Staaten entziehen, legen durch Seeräuberei die christliche Mittelmeer-schiffahrt lahm, plündern die Küstenstädte aus und dringen schließlich bei ihren Raubzügen weit ins Hinterland. Schon 842 waren sie kurz in die Rhône-mündung eingedrungen, 869 nehmen sie in der Camargue den Erzbischof Roland von Arles gefangen, der einige Tage später stirbt. Wie auf Kreta und wie am süditalienischen Garigliano setzen sie sich dann für fast ein Jahrhundert (888–972) in La Garde-Freinet an der provenzalischen Küste fest; verglichen zum Beispiel mit Katalonien, bietet ihnen das arelatische Königreich nicht nur unzugänglichere Küstenpunkte, sondern auch den Vorteil einer besonders weit-gehenden Lähmung der öffentlichen Gewalt und damit der Verteidigungsbereit-schaft. Sie verschonen zwar die Küste Septimaniens nicht, operieren aber ganz überwiegend östlich der Rhône.36Für das Ausmaß der Verwüstungen, die sie anrichten, ist ein indirektes, aber beredtes Zeugnis, daß in den Bischoflisten der heutigen südostfranzösischen Diözesen die größten, manchmal jahrhunder-telangen Lücken nicht in der Merowingerzeit, sondern im 9. bis frühen 11. Jh.

klaffen, daß beispielsweise in Marseille die Kathedrale geräumt werden muß und die Kanoniker bis tief ins 11. Jh. bei den Mönchen des besser zu verteidigen-den Klosters St. Victor Zuflucht finverteidigen-den.37An der Rhône erstreckt sich das

Opera-35J. Pérez de Urbel und R. del Arco y Garay (s. Fn. 23), S. 485.

36Vgl. z. B. R. Poupardin,Le royaume de Provence sous les carolingiens (855–933?), Paris 1901, S. 243–73; ders.,Le royaume de Bourgogne (888–1038), Paris 1907, S. 82–112; G. de Manteyer, La Provence du 1erau 12esiècle, Paris 1908, S. 237–50; Bruno Luppi,I Saraceni in Provenza,in Liguria e nelle Alpi Occidentali, Bordighera 1952, passim (manchmal unkritisch); E. Baratier u. a.,Histoire de la Provence, Toulouse 1969, Kap. 5 und 6.

37Vgl. die verschiedenen Arbeiten von E.-H. Duprat zur Kirchengeschichte von Marseille, z. B.

Etude de la charte marseillaise de 1040, inBulletin philologique et historique du Comité des travaux historiques et scientifiques1922–23, S. 27–33;L’église de Marseille et l’abbaye de Saint-Victor à l’époque carolingienne (Réponse provisoire à M. L.-H. Labande),in Mémoires de l’Insti-tut historique de Provence4 (1927) S. 87–93;Un évêque inconnu du Xe siècle à Marseille, in Revue d’histoire de l’Eglise de France27 (1941) S. 165–79.

tionsgebiet der Araber mindestens bis in die Gegend von Lyon; auf ihren Ver-wüstungszügen durch das Alpenvorland und die Alpen selbst dringen sie gelegentlich bis ins alemannische St. Gallen und weit nach Norditalien hinein vor, wo zum Beispiel auf lange Zeit das Kloster Novalese geräumt werden muß.

Während bei den regulären arabischen Eroberungen auf die Kriegsgreuel bald eine Periode der Konsolidierung folgt, in der die christliche Bevölkerung nur rechtliche Nachteile und hohe Steuerlasten zu ertragen hat, durchziehen die Freibeuterscharen die heimgesuchten Gebiete in dem Bewußtsein, sie militä-risch nicht halten zu können und deshalb um so gründlicher verwüsten zu sol-len. Den Höhepunkt erreicht ihre Tätigkeit mit der Gefangennahme des Clunia-zenser Abtes Majolus im Wallis, also auf heutigem Schweizer Staatsgebiet. Die Hilferufe eines der geachtetsten Männer der Christenheit finden in ganz Europa Widerhall und führen dazu, daß kurz darauf ein provenzalisches Heer die Ara-ber aus La Garde-Freinet vertreibt; sie zeigen uns aAra-ber außerdem schlaglichtar-tig, welche Gefahren jeder französische Bischof oder Abt, der in Rom um die Bestätigung seiner Würde nachkam, ja jeder einfache französische Rom- oder Jerusalempilger bei der Alpenüberquerung durchzumachen hatte. Bedenkt man, daß zu dieser Zeit zweifellos die Romfahrten noch weit zahlreicher waren als die Santiagofahrten (der erste uns namentlich bekannte Santiagopilger unternahm seine Fahrt 950),38so wird man die traumatische Wirkung ermessen können, die auf das französische Bewußtsein die Gefahr ausüben mußte, von der Hauptstadt der Christenheit praktisch abgeschnitten zu werden. Man versteht dann, daß, aus der durchschnittlichen französischen Perspektive der damaligen Zeit gesehen, die Araber prinzipiell „übers Meer“ nach Frankreich kamen, daß sie vor allem auf der Rhône operierten, ihr Schwergewicht also irgendwo öst-lich der Rhônemündung haben mußten und daß ihre Vertreibung sich als Kriegszug ingrosso modowestöstlicher Richtung darstellen konnte.

Auch nach ihrer Vertreibung aus La Garde-Freinet wird sich die Blickrich-tung dieser kollektiven französischen Erfahrung keineswegs abrupt verlagern.

Die Rolle der bisher in der Provence eingenisteten Scharen wird nämlich wenige Jahre später z. T. übernommen durch reguläre Flotten, die zwar in den spani-schen Häfen Denia und Almería sowie auf den Balearen stationiert sind (beson-ders seit diese Gebiete unter Mudschahid ein selbständiges Königreich bilden), aber viel weiter nordöstlich gegen die junge pisanische Seemacht operieren.39 Sie greifen 1003 Antibes an, zerstören 1005 und 1016 Pisa, richten zwar kurz

38 L. Vázquez de Parga, J. M. Lacarra und J. Uría Riu,Las peregrinaciones a Santiago de Com-postela, Bd. 1, Madrid 1948, S. 41 f.

39 Vgl. etwa P. Boissonnade,Du nouveau sur la Chanson de Roland, Paris 1923, S. 11 (mit Lite-ratur).

vor 1020 auch einen erfolglosen Angriff gegen Narbonne, können aber anderer-seits noch 1047 Lérins in der Provence ausplündern. Die ersten „Franzosen“, die außerhalb Frankreichs den Kampf gegen die Araber aufnehmen, zugleich die ersten, die nachweislich unter der geistlichen Obhut von Cluny stehen, sind burgundische Ritter, welche wahrscheinlich die Pisaner in ihren Kämpfen um Korsika unterstützen.40Als hingegen einige Jahre später „Franzosen“ zum ers-ten Mal bei der Reconquista der Pyrenäenhalbinsel auftauchen, sind es zu-nächst Normannen, deren Heimat man zu dieser frühen Zeit kaum als ein Zen-trum der Wilhelmsepik ansehen wird.

Vor dem Hintergrund einer so lang andauernden geschichtlichen Erfahrung wird es nun verständlich, weshalb auch in der Epik die Vertreibung der A r a -b e r aus Südfrankreich unter dem Bilde von Zügen in westöstlicher Richtung erscheinen kann, weshalb speziell der historische Verteidiger Septimaniens und Mitbefreier Kataloniens, in der Epik g e b ü r t i g aus Narbonne, e r s t Nimes, d a n n Orange erobern muß. Voll verständlich werden hiermit auch erst manche Einzelszenen der Epik, so wenn sich in der Vorhandlung zumCharroi de Nimes, wie Wilhelm sie in den V. 548–79 berichtet, zwar Nimes und die Umgebung von Saint-Gilles in arabischer Hand befinden, nicht aber Saint-Gilles selbst; so wenn im Wilhelmslied (V. 2584–87) von der Gefahr die Rede ist, daß die Heiden Orange zurückerobern, von dort nach Saint-Gilles übersetzen und schließlich nach Paris gelangen könnten; so vor allem in der Prise d’Orange(V. 184–91), wenn der Franzose Gillebert aus Deutschland durch Burgund zurückkommt, bei Lyon von den Arabern gefangen und dann nach Orange gebracht wird. In gewissem Grade nachfühlbar wird vor diesem Hintergrund sogar, weshalb das Couronnement Louisder Biographie Wilhelms zwei italienische Kapitel einfügen konnte. Vor allem aber erklärt sich so – und damit kehren wir zu Renewart zurück –, warum die blutige Verteidigungsschlacht, die 793 in beträchtlicher Entfernung vom Meer stattfand, schließlich in der Epik am größten Gräberfeld östlich der Rhônemündung lokalisiert erscheint.41

40Radulfus Glaber II 9 (Ed. Prou, S. 44).

41Mit der Lösung der geographischen Frage scheint mir der letzte Einwand zu fallen, den man vernünftigerweise gegen die traditionalistische Gleichsetzung der epischen Wilhelms-oder Archampschlacht und der historischen Schlacht von 793 erheben konnte, wie sie R. Louis, L’épopée française est carolingienne(s. Fn. 24), S. 419, skizziert hat. Denn was die Quellen sonst von letzterer berichten, paßt zu den epischen Darstellungen zu gut, um Zufall zu sein. Außer den weiter oben im Text angeführten Zitaten (über die Schwere der Schlacht und die Beute der Araber) vgl. vor allem:Chronicon Moissiacense:„obviam eis exiit Wilhelmus aliique comites Francorum cum eo [...] Wilhelmus autem pugnavit fortiter in die illa“;Annales Alamannici (Murbacher Fortsetzung): „et occidit unum regem ex ipsis cum multitudine Saracenorum“;

Chron. Moiss.:„videns vero, quod sufferre eos non posset, quia socii eius dimiserunt eum fugientes, divertit ab eis“ (vgl. Abel-Simson [s. Fn. 16], S. 59 Fn. 2, 3 und 6). Aus der

(ehrenhaf-In der vorstehenden Skizze habe ich mich bemüht, die nachkarlische Sara-zenenerfahrung der Franzosen in ihrer ganzen Weite und Dauer zu kennzeich-nen, dabei aber im Unterschied zu L. Gautier und Frau Lejeune speziellere Fra-gen zunächst auszuklammern – wie die, ob der historische Wilhelm von der Provence Züge zu dem Wilhelmsbild der Epik beisteuerte, ob provenzalische Orts- oder Familiensagen ihren Weg in die Epik fanden, ja ob es je eine frühe Epik in provenzalischer Sprache gab. Denn ich glaube, daß die allgemeinere und wichtigere These auch für Forscher annehmbar sein sollte, die die genann-ten spezielleren Fragen verneinen. Mit der Anerkennung des allgemeineren Prinzips ist die Beantwortung der spezielleren Fragen noch keineswegs präjudi-ziert, wie uns sogleich die beiden noch ausstehenden Probleme zeigen werden.