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Die Sonderrolle der Visuellen Netzwerkforschung

4.3 Exkurs zum Verhältnis qualitativer und quantitativer Analysen in den Sozialwissenschaften

4.3.2 Die Sonderrolle der Visuellen Netzwerkforschung

Seit der Erfindung des Soziogramms (Moreno, 1934) werden visuelle Netz-werkdarstellungen in der Psychologie und den Sozialwissenschaften erhoben und analysiert. In den letzten Jahren lässt sich ein Übergang vom Soziogramm zum Netzwerkgraphen feststellen (Tubaro et al., 2016, S. 2): freie Paper-Pencil-Zeichnungen werden immer häufiger durch Plots standardisiert erhobener Netzwerkdaten ersetzt, die mithilfe von Software erstellt werden (Gamper et al., 2012; McCarty, 2003). Während freie Netzwerkzeichnungen noch relativ leicht dem qualitativen Paradigma zuzuordnen waren, lässt sich die visuelle Analyse

4.3 Exkurs zum Verhältnis qualitativer und quantitativer … 117 standardisierter Netzwerkdaten weder eindeutig als qualitative noch als quanti-tative Methode kategorisieren. Zu sehr ist die Deutung dieser Daten abhängig von Entscheidungen für oder gegen eine schier unüberschaubare Anzahl an Algorithmen und Maßzahlen, die in einem oft sehr undurchsichtigen und kaum dokumentierten Prozess gefällt werden. Yousefi Nooraie et al. (2020) beschreiben diesen Vorgang in Bezug auf Netzwerk-Visualisierungen wie folgt:

“There is no single accepted approach to graphical depiction of social networks. The researcher chooses the most satisfactory presentation through a subjective and repeti-tive process of trying a few layout algorithms (which refer to the methods of distributing nodes in the map), adjusting the sizes, colors, and shapes of the nodes according to the most informative/distinctive personal attributes, adjusting the thickness and the length of ties (to represent the strength of relations and the distance between groups), and highlighting social clusters.”(Yousefi Nooraie et al., 2020, 115 f.)

Sobald sich die Forschenden für ein bestimmtes Netzwerklayout entscheiden oder Attribute auswählen, die sie im Netzwerk darstellen möchten, laden, sie die Plots mit Bedeutungen auf, die nicht mehr nur aus den Daten selbst stammen:

“Interpretation of a network graph is not only influenced by the structure of the data and analytical choices but is also developed in light of the background knowledge of the observer about the social dynamics and patterns being depicted.”(Yousefi Nooraie et al., 2020, S. 116 unter Verweis auf: Blythe et al. 1995 und McGrath et al. 2014)12 Sowohl die Erstellung von Visualisierungen als auch deren Interpretation kom-men nicht ohne reflexive Deutungsprozesse aus, die wir eher in der Grounded Theory (z. B. bei Breuer et al., 2019) verorten würden als in der rein quantita-tiv arbeitenden Sozialforschung. Diese Beobachtung lässt sich sehr gut anhand der Arbeit von Bidart et al. (2018) illustrieren. Sie schlagen vor, egozentrierte Netzwerke in vier Schritten zu typisieren:

1. Die Basis der Typologie bildet die visuelle Analyse von Netzwerkplots, in der die Forscher*innen eine erste Typisierung der erhobenen Netzwerke

12Blythe, J., McGrath, C., & Krackhardt, D. (1995). The effect of graph layout on infe-rence from social network data. In F. J. Brandenburg (Ed.), International symposium on graph drawing (pp. 40–51). Heidelberg, Germany: Springer. / McGrath, C., Blythe, J., & Krack-hardt, D. (2014). Visualizing multiple levels and dimensions of social network properties.

In W. Huang (Ed.), Handbook ofhuman centric visualization (pp. 513–525). New York, NY:

Springer.

vornehmen – die Autor*innen kommen in ihrem Datensatz auf 6 visuelle Netzwerktypen (siehe Abbildung4.5a).

2. Im Anschluss daran werden quantitative Indikatoren gesucht, die diese Typen charakterisieren. Hier wird also geschaut, inwiefern sich die Ausprägungen unterschiedlicher Netzwerkmaße innerhalb der visuellen Typen ähneln, bzw.

wie stark sie sich von Typ zu Typ unterscheiden.

3. Dann wird auf Basis der in Schritt 2 als geeignet identifizierten Netzwerkmaße ein Entscheidungsbaum erstellt, mithilfe dessen die Netzwerke schrittweise in quantitative Typen eingeteilt werden (siehe Abbildung4.5b).

4. Schließlich werden die Zusammenhänge der gefundenen Netzwerktypen mit den Attributen der Egos untersucht.

Die Daten verlassen während dieser Prozedur immer wieder die vermeintlich hoch standardisierten und statistisch abgesicherten Bereiche und gehen durch die Forscher*innen hindurch – so z. B. bei der Auswahl eines geeigneten Plotting-Algorithmus sowie der zu plottenden Attribute oder bei der visuellen Typisierung der Netzwerke. Die Ergebnisse dieser Prozedur müssen daher als Produkt einer reflexiven Auseinandersetzung der Forschenden mit ihrem Daten-material betrachtet werden. Sie sind mit den darin zu Relevanz gekommenen Bedeutungszusammenhängen verschmolzen. Eine Trennung zwischen „subjekti-ver“ Deutung und „objekti„subjekti-ver“ Analyse lässt sich anhand des Analyseergebnisses nicht mehr vornehmen. Vermutlich würden Forschende mit unterschiedlichen Hintergründen und Fragestellungen die Netzwerke unter Anwendung derselben Methode auf verschiedene Weise typisieren.

Abbildung 4.5 a) Typisierung; b) Entscheidungsbaum aus Bidart et al. 2018: 6/7

4.3 Exkurs zum Verhältnis qualitativer und quantitativer … 119 Diese Vorgehensweise verstößt eindeutig gegen die oben genannten Gütekri-terien quantitativer Forschung (Objektivität, Intersubjektivität, Wiederholbarkeit, Repräsentativität) während die Datengrundlage die Gütekritertien qualitativer For-schung verletzt13. Dennoch weisen die Ergebnisse eine gewisse Plausibilität auf.

Anhand der Korrelationen zwischen Netzwerktyp und Ego-Attributen lassen sich am Ende sogar systematische Muster identifizieren, die statistischen Tests stand-halten. Visualisierungen quantitativ erhobener Netzwerkdaten stehen daher an der Schnittstelle zwischen qualitativer und quantitativer Datenerhebung und –analyse (Molina et al., 2014, S. 306; Tubaro et al., 2016, 4 f.). Sie können auf ver-schiedene Weise bei der Datenanalyse eingesetzt werden (Molina et al., 2014, 328 ff.):

• als theoriegenerierendes Instrument zur Suche nach Strukturen und Clustern sowie nach Einflussgrößen auf die Strukturierung von Netzwerken,

• zur Visualisierung und Plausibilisierung quantitativer und qualitativer Analy-sen oder

• zur Validierung von Ergebnissen.

Darüber hinaus lassen sich quantitative Netzwerkdaten und –visualisierungen bereits bei der Datenerhebung im Rahmen sogenannter Fully Integrated Mixed Methods Designs einsetzen (Hollstein, 2014, 15 f.; Hollstein et al., 2020, Bei-spiele finden sich bei Avenarius & Johnson, 2014; Noack & Schmidt, 2013;

Tubaro et al., 2016). Davon wurde auch in der vorliegenden Studie Gebrauch gemacht, indem die Interviewten bei der quantitativen Netzwerkabfrage gebeten wurden, die genannten Personen und Relationen zu erläutern. Diese Erzählungen wurden in den qualitativen Datensatz mit aufgenommen (transkribiert). An die-ser Stelle verschmolzen die qualitativen und quantitativen Erhebungsmethoden zu einem integrierten Design.

Ziel dieses Exkurses war die methodologische Einordnung der in dieser Arbeit verwendeten Datengrundlage und –analyse. Dabei kommen quantifizierende und narrative Daten zur Struktur und Bedeutung sozialer Beziehungen zum Einsatz.

Beide Datenquellen für sich ergeben nur ein unvollständiges Bild der sozialen Einbettung der Befragten. Erst in der Kombination der beiden Analysemethoden

13sofern es so etwas überhaupt gibt: Die einen plädieren für eine allgemeine Bestim-mung von Gütekriterien wie Gegenstandsangemessenheit, empirische Sättigung, theoreti-sche Durchdringung textuelle Performanz und Originalität (Strübing et al. 2018), die ande-ren bezeichnen die Definition von Gütekriterien qualitativer Forschung als Festlegung eines Mainstreams, der unkonventionelle Ansätze exkludiert (Eisewicht und Grenz 2018, Rei-chertz 2019).

offenbart sich der Mehrwert dieser Vorgehensweise: quantitative Strukturana-lysen bilden ab, aus welchen Akteur*innen die egozentrierten Netzwerke im Sample zusammengesetzt sind und wie die Beziehungen zwischen diesen Per-sonen verteilt sind; die qualitativen Daten bereichern den strukturellen Überblick um Erkenntnisse darüber, wie die Netzwerke von den Befragten wahrgenommen werden, welchen Dynamiken sie unterliegen und welchen Einfluss sie auf das Handeln der Befragten ausüben.

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