• Keine Ergebnisse gefunden

Die schwedische Diskussion: Einfluss versus Handlungsfreiheit

4. Schwedens Kooperation mit der NATO

4.2 Die schwedische Diskussion: Einfluss versus Handlungsfreiheit

Die Diskussion über die NATO verläuft entlang zweier Trennlinien und nimmt ungleich mehr Raum ein als die Diskussion über die EU. Zum einen geht es in der Debatte um die Alternative NATO versus EU, zum anderen geht es um gesteigerten Einfluss durch eine NATO-Mitgliedschaft versus die durch die Allianzfreiheit ermöglichte Handlungsfreiheit.

Beide Diskussionsstränge sollen im Folgenden nachgezeichnet werden.

Die beiden größten Oppositionsparteien befürchten durch das Festhalten an der Alli-anzfreiheit die langfristige Marginalisierung und Isolation Schwedens. Die Volkspartei ist die treibende Kraft in der Debatte um eine Neuorientierung schwedischer Sicherheitspoli-tik und die NATO-Mitgliedschaft. Die Moderaten, mit 55 Mandaten die zweitstärkste Partei im schwedischen Reichstag, sind nach anfänglicher Zurückhaltung in den letzten Jahren ebenfalls dazu übergegangen, offen für eine schwedische NATO-Mitgliedschaft zu plädieren. In den Worten von Sten Tolgfors:

„Die Argumente gegen eine schwedische NATO-Mitgliedschaft sind weggefallen. Eine schwedische NATO-Mitgliedschaft ist nicht mehr eine Frage von Sicherheit für Schweden, sondern eine Frage der Solidarität mit dem übrigen Europa und Verantwortlichkeit für den europäischen Frieden.“128

Denn die NATO ist und bleibt in den Augen der beiden bürgerlichen Parteien das „Rück-grat der europäischen Sicherheitsordnung.“ Die neue NATO mit neuen Aufgaben ebne den Weg für eine neue schwedische Sicherheitspolitik.129

127 Laila Freivalds am 25. Mai 2005 beim Euro-Atlantic Partnership Council (EAPC); Security Forum.

128 Sten Tolgfors (Moderaten) am 27. September 2004 im Parlament.

129 Bo Lundgren (Moderaten) 2003 im Parlament.

Die Vollmitgliedschaft steigere den Einfluss auf alle Entscheidungen, die den Einsatz von Soldaten und Ressourcen unter NATO-Befehl betreffen. Erst wenn Schweden sich aus seiner Isolation heraus begebe und an allen Tischen sitze und die volle Verantwortung auch in schwierigen Situationen übernehme, könne man mehr als eine Fußnote im Ge-schehen sein.130 Von besonderer Bedeutung ist auch der Beitritt der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Durch die NATO-Osterweiterung riskiere Schweden, am Ende isoliert bzw. marginalisiert zu werden.131 Vor dem Hintergrund des ungeklärten zu-künftigen Status von Finnland, das sich in einer ganz ähnlichen Lage wie Schweden befin-det, gewinnt das Argument der drohenden Marginalisierung und Isolation zusätzlich an Gewicht. Als weiteres Argument für einen NATO-Beitritt wird die auf lange Sicht zu er-wartende Kostenersparnis im – trotz Verteidigungsreform immer noch aufgeblähten – schwedischen Verteidigungssektor angeführt.132

Insgesamt wollen beide bürgerlichen Parteien die Diskussion um den zukünftigen si-cherheitspolitischen Weg Schwedens als ein ‚entweder- oder‘ verstanden wissen. Zur Dis-position stünden nach dem jetzt zu vollziehenden zweiten Schritt – dem Abschied von der Allianzfreiheit133 – entweder der von ihnen favorisierte und angestrebte NATO-Beitritt oder eine europäische Verteidigungsgemeinschaft.

Der transatlantische Link sei dabei vorzuziehen, weil ein amerikanisches Interesse und Engagement angesichts der Sicherheitsprobleme Europas aus gleich mehreren Gründen wünschenswert sei: Im Gegensatz zu den EU-Verteidigungsbefürwortern Frankreich, Ita-lien und Deutschland hätten die USA und auch Großbritannien sowohl die Kapazität als auch das Interesse für die Region um die Ostsee. Schweden und die übrigen Ostseeanrai-nerstaaten müssten durch eine Mitgliedschaft in der NATO die Anstrengungen verstär-ken, dass die USA auf dem europäischen Kontinent verbleiben, auch wenn Europa nicht mehr von gleicher Bedeutung für die USA sei wie zu Zeiten des Kalten Krieges.134

In den Augen der regierenden Sozialdemokraten basiert Schwedens Beziehung zur NATO einerseits auf der Zusammenarbeit im EAPR und PfP und andererseits auf der Zu-sammenarbeit zwischen EU und NATO – auf die ‚entweder-oder’-Diskussion der Opposi-tion will sie sich nicht einlassen.135 Seit dem im März 2003 abgeschlossenen Rahmenab-kommen „Berlin Plus“, das der EU die Möglichkeiten gibt, auf Mittel und Fähigkeiten der NATO zurückzugreifen, definiert die schwedische Regierung die Beziehungen zur NATO in immer höherem Maße durch die Mitgliedschaft in der EU.136

130 Gunilla Carlsson (Moderaten) in Tyresö, 2004. Ähnlich argumentiert auch Carl Bildt (Volkspartei) in einem Artikel in Dagens Nyheter, 10. September 2002.

131 Carl B. Hamilton (Volkspartei) am 7. Mai 2003 in einer Interpellation im Parlament.

132 Carl B. Hamilton (Volkspartei) am 5. Januar 2004 in einer Interpellation im Parlament.

133 Der erste Schritt war der Abschied von der Neutralität.

134 Hamilton, a.a.O. (Anm. 132).

135 Verteidigungsbericht, a.a.O. (Anm. 100), S. 16.

136 Ebd. S. 17.

Den von der Opposition geäußerten Vorwurf des Doppelspiels und der Verlogenheit weist die Regierung von sich. Gemäß der Auffassung, Neutralität und Allianzfreiheit seien ein Mittel, kein Wert an sich, argumentiert die Regierung pragmatisch. Es gebe zum jetzi-gen Zeitpunkt einfach keinen Grund und keinen Bedarf für einen Beitritt. Die Sicherheits-lage sei nach wie vor stabil und Schweden habe keinen Bedarf, von der NATO verteidigt zu werden. Deshalb sei es für Schweden wichtiger, seine Handlungsfreiheit zu behalten.

Eine NATO-Mitgliedschaft könne sich negativ auswirken und Schweden ungewollt in eine Krise oder gar einen Krieg verwickeln: „Non-alignment gives us the freedom to act as we wish in a crisis and we do not have to be bound by our defence expenditures as we would be forced to if we joined NATO.”137 Ein weiteres Problem für Schweden stellen auch die Atomwaffen der NATO dar. Die NATO-Mitgliedschaft und die Zugehörigkeit zu deren Nuklearschirm wären, so das Argument, dem traditionell hohen Engagement für Abrüs-tung und gegen MassenvernichAbrüs-tungswaffen abträglich.138

Damit ist die Regierung auf einer Linie mit den Regierten. In der alljährlichen Umfrage des ‚National Board of Psychological Defence’ (PSYCHDEF) gaben im Jahre 2004 auf die Frage, ob Schweden vollständig der NATO beitreten oder an der Allianzfreiheit festhalten solle, nur 17% an, dass sie eine schwedische NATO-Mitgliedschaft wünschten. Die Bevöl-kerungsmeinung befindet sich damit auf einem neuen Tiefstand.139 Mitverantwortlich für dieses Meinungsbild ist sicherlich auch der Irak-Krieg. Vielen Schweden hat die Entwick-lung im Irak und die Politik der US-Regierung gezeigt, dass nur die Vereinten Nationen einer solchen Intervention Legitimität verleihen können.140

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Beziehung zur transatlantischen Alli-anz nach wie vor sehr stark durch Schwedens militärische AlliAlli-anzfreiheit determiniert wird, was bedeutet, dass Schweden weder bei der WEU noch der NATO vollständiges Mitglied sein kann. Ein weiterer Bestimmungsfaktor schwedischer Politik ist der Wunsch, die Kooperation auszubauen und so einer Isolation und Marginalisierung zu entgehen.

Die von außen vorgegeben Rahmenbedingungen schränken den Spielraum für Schweden sehr stark ein. Schweden kann entweder Mitglied werden oder außen vor bleiben und damit riskieren, langfristig marginalisiert zu werden. Aus diesem Grund wird die NATO zur echten Probe für die Allianzfreiheit.

137 Anna Lindh, zitiert in: NATO: The Prague Summit and Beyond, Research Paper 03/05, 2003, abgerufen unter www.parliament.uk/commons/lib/research/rp2003/rp03-005.pdf

138 Vgl. die Rede der damaligen Außenministerin Anna Lindh in der außenpolitischen Debatte im Februar 2002.

139 Zum Vergleich: 2001 befürworteten immerhin 26% eine NATO-Mitgliedschaft, und 62% wollten an der Allianzfreiheit festhalten. Vgl. Umfrage des PSYCHDEF, 2004, Tabelle 37, S. 80ff.

140 Örn, a.a.O. (Anm. 62), S. 3.