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B. Lexikographische Beispiele in historischen Bedeutungswörterbüchern

II. Lexikographische Beispiele aus der Sicht der Forschungsliteratur

II.4. Der Gebrauch der lexikographischen Beispiele im Darstellungsverfahren

II.4.1. Lexikographische Beispiele als Element der Informationsvermittlung 63

II.4.2.1. Die Herkunft der lexikographischen Beispiele:

Ein wesentliches formales Unterscheidungskriterium lexikographischer Beispiele beruht auf deren Herkunft und läßt zwischen zitierten, authentischen Belegen und für den Wör-terbuchartikel konstruierten Verwendungsbeispielen differenzieren. Die Aufsätze von Zöfgen und Nikula erweisen sich für die Fragestellung besonders ergiebig und werden im folgenden ausführlicher dargelegt, ergänzt um die Ausführungen von Martin, Reichmann und U. Haß. Sie nehmen nicht nur begriffliche Differenzierungen vor, sondern zeigen je unterschiedliche Leistungsmöglichkeiten der Verwendungsbeispiele und Belege. Für Zöfgen und Nikula spielen authentische Textauszüge vor allem als Bestandteile der Ma-terialsammlung eine wesentliche Rolle. Dagegen böten die Verwendungsbeispiele in-nerhalb des Darstellungsverfahrens deutliche Vorteile, da sie bestimmte Informationen gezielter und verständlicher als Belege vermitteln könnten.

Zöfgen legt für die Geschichte der französischen Wörterbücher dar, daß es schon im 16.

und 17. Jahrhundert verbreitet war, in den Artikeln Phraseologismen aufzuführen. So habe sich die Praxis ausgebildet, Wörterbuchartikel für die ausführliche Belegung der Bedeutungserklärung entweder durch belegte „Zitate“ oder durch konstruierte „Satz-beispiele“ zu ergänzen. Schließlich habe sich das Anführen von Belegen durchgesetzt:

„Spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts war die Frage ‘selbstgebildete Bei-spiele’ (exemples) versus ‘Autorenbelege’ (citations) ganz im Sinne der rationalisti-schen Sprachauffassung zugunsten von Zitaten aus der (meist schönen) Literatur ent-schieden“.260

260 Zöfgen 1986, S. 220.

Zöfgen fordert für die lexikographische Praxis, zumindest für Lernerwörterbücher, ge-rade den Verwendungsbeispielen im Unterschied zu den Belegen höhere Bedeutung zu-zumessen und ihren Funktionsmöglichkeiten mehr Beachtung zu schenken.

Der Vorteil der Belege im Unterschied zu den Verwendungsbeispielen besteht für Zöfgen darin, daß sie über einen großen Anteil an impliziten Informationen verfügten und daher über das Informationsangebot der expliziten Angaben hinausgehen könnten. Dagegen sieht er als Nachteil, daß Belege im Unterschied zu Verwendungsbeispielen für den Ler-ner eiLer-ner Zweitsprache schwerer verständlich und sogar verwirrend sein könnten. Für den Muttersprachler, der das Wörterbuch nicht aus der Lernerperspektive, sondern für weiter-führende Verstehensprozesse nutze, werde das Wörterbuch jedoch aufgrund der Belege zu einem „Wörter-Lesebuch, in dem kultur- und geistesgeschichtlich Relevantes zusam-menfließt“.261

Vorteile der Verwendungsbeispiele sieht Zöfgen in der im Vergleich zu den Belegen höheren Informationsdichte, da der Lexikograph sie speziell auf die Informationen zu-schneiden könne, die er dem Benutzer bieten wolle. Außerdem könne der Schwierig-keitsgrad, den das Beispiel für das Verständnis der Benutzers biete, und die Auswahl von üblichem statt ungewöhnlichem, auffälligem Sprachgebrauch, besser gesteuert werden.

Zöfgen teilt die Kritik der Forschungsliteratur, daß konstruierte Beispiele im Unterschied zu Belegen nicht in kommunikativer Absicht entstanden seien, doch er schränkt in dieser Hinsicht generell die Möglichkeiten lexikographischer Beispiele, ob konstruierter oder authentischer, ein, indem er betont, daß auch Belege nicht vollständig das Umfeld der kommunikativen Bedingungen aufzeigen könnten.

Einen weiteren Nachteil der Verwendungsbeispiele sieht Zöfgen darin, daß sie, um Platz zu sparen, oft kurz und knapp angelegt seien. Um trotzdem zu erreichen, daß das Beispiel das Wesentliche und Typische der Verwendung zeige, müsse vom Lexikographen eine

„‘beispielhafte’ Verwendung“ gewählt werden, „in der das Stichwort in quasi-ideali-sierter Umgebung figuriert“.262 Um auch für die Bedeutung das Typische aufzuzeigen, bildeten die Lexikographen nicht selten Beispiele,

„die sich inhaltlich dem Gemeinplatz nähern und denen es dann gelegentlich an der gewünschten ‘Authentizität’ und Lebendigkeit fehlt“.263

Im Extremfall ließe sich über Verwendungsbeispiele im Gegensatz zu Belegen das Urteil fällen, sie seien „(a) semantisch, (b) syntaktisch und (c) textlinguistisch/pragmatisch grundsätzlich unrealistisch“.264 Trotz dieser Kritik an Verwendungsbeispielen spricht

261 Zöfgen 1986, S. 231.

262 Zöfgen 1986, S. 230.

263 Ebd.

264 Ebd. Zöfgen verweist hier auf Mugdan 1985, S. 222.

sich Zöfgen dagegen aus, die lexikographischen Befunde ausschließlich oder vorwiegend mit Belegen darzustellen.

Seine Bewertung von Verwendungsbeispielen und Belegen richtet sich danach, wie effektiv diese die Informationsvermittlung unterstützen. Als übergeordnetes Qualitäts-kriterium sieht er einen verständlich angelegten ‘Demonstrationsteil’, der dem Benutzer das Verstehen der Bedeutung ermöglicht. Ein Angebot von Belegen aus literarischen Quellen um des Prinzips willen ist demgegenüber lediglich nachgeordnet. Verfolgt der Lexikograph diese Prioritätensetzung bei der Auswahl von Verwendungsbeispielen und Belegen, so läßt sich Zöfgen verstehen, wird er lexikographische Beispiele auswählen, die möglichst deutlich und gezielt die Informationsvermittlung unterstützen und bei denen

„das kontextuelle Umfeld nicht durch auffällige Unüblichkeit von dem zu ‘illustrie-renden’ Phänomen ablenkt“.265

Dieser grundsätzlich kritische Blick Zöfgens auf die Leistungsfähigkeit der lexikographi-schen Beispiele innerhalb des Artikels läßt sich auch auf die historische Beispiel- und Beleglexikographie übertragen. Zöfgen zeigt auf, daß lexikographische Beispiele nicht immer und nicht alle gleichermaßen für alle Funktionen innerhalb des Darstellungsver-fahrens genutzt werden können. Zum einen verfügen sie nicht zwangsläufig über ein großes Informationspotential. Zum anderen ist es nicht selbstverständlich, daß sie ver-standen werden und für den Benutzer in die richtige Richtung weisen. Sondern im Ge-genteil: sie können verwirren und die Informationsvermittlung stören. Diese Beobach-tungen gelten nicht nur für Lerner- und Produktionswörterbücher, sondern auch für das erklärende, dabei vorrangig mit lexikographischen Beispielen arbeitende Bedeutungs-wörterbuch, sei es gegenwartssprachlich oder historisch ausgerichtet. Auch für diesen Wörterbuchtyp sollte nicht unbedacht an die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Belege geglaubt werden. Vielmehr ist zu berücksichtigen, daß einerseits ein Risiko darin besteht, mit Belegen die Vermittlung zu behindern. Andererseits bietet sich die Chance, mit Verwendungsbeispielen bestimmte Informationen komprimiert und gezielter als mit Belegen zu vermitteln.

Daraus möchte ich nicht die Forderung ableiten, lexikographische Beispiele für histori-sche Sprachstufen frei zu bilden. Doch die Vorteile von Beispielen, die aus authentihistori-schen historischen Textstellen modifiziert und stark gekürzt wiedergegeben werden, um knapp und ohne weitere Ablenkung durch den Kotext bestimmte Informationen zu vermitteln, lassen sich nicht einfach übergehen. Mit derartig gezielt veränderten Textstellen haben

265 Zöfgen 1986, S. 232.

Müller und Lexer in den mittelhochdeutschen Wörterbüchern gearbeitet,266 und auf ähn-liche Weise nutzen Anderson, Goebel und Reichmann „Syntagmen“ im Frühneuhoch-deutschen Wörterbuch (vgl. unten).

Eine Möglichkeit für die Wörterbuchpraxis bietet die von Zöfgen aufgezeigte Richtung.

Zöfgen schlägt vor, den Gebrauch von Verwendungsbeispielen und Belegen davon ab-hängig zu machen, was vermittelt werden soll. In Lernerwörterbüchern hätten Verwen-dungsbeispiele ihren Wert und könnten das „Übliche, Alltägliche und Merkmallose“267 aufzeigen. Nur der ungewöhnliche und stilistisch auffällige Gebrauch müsse anhand von Belegen dargelegt werden:

„Belegen muß der Lexikograph einerseits das Ungewöhnliche und das sprachlich Ei-genwillige. Zitieren sollte er daneben den metaphorischen Gebrauch, den Aphorismus oder ganz einfach das stilistisch Markante, Auffällige und ‘Inhaltsschwere’“.268 So könnte man Verwendungsbeispiele und Belege gezielt auswählen und nutzen, indem man ihre tatsächlichen Leistungsmöglichkeiten im konkreten Fall und die Funktionen, die ihnen daraufhin jeweils zugeschrieben werden können, berücksichtigt. In der lexiko-graphischen Praxis sollte man gerade der Möglichkeit, Belege und Verwendungsbei-spiele komplementär für die Informationsvermittlung zu verwenden, nachgehen.

Eine ähnliche Position wie Zöfgen vertritt Nikula, der ebenfalls fordert, die Formen und Funktionen lexikographischer Beispiele gegeneinander abzugrenzen. Nikula betont aus-drücklich:

„Es muß aber zwischen Beispiel und Beleg, oder genauer zwischen verschiedenen Beispielfunktionen und zwischen verschiedenen Typen von Belegen unterschieden werden“.269

Er trennt zwischen „authentischen“ und „konstruierten“ Beispielen. Dabei betont er, daß der Unterschied in der Authentizität nur graduell sei. Denn den tatsächlichen Zusammen-hang, in den eine sprachliche Äußerung ursprünglich eingebettet war, müsse sich der Wörterbuchbenutzer, wenn er den Beleg losgelöst von seiner textlichen Umgebung im Artikel liest, ebenso erschließen wie den möglichen Zusammenhang einer fiktiven, bei-spielhaften Äußerung. Die ursprüngliche Authentizität sei zerstört, da der Rahmen ver-ändert ist.

Von diesem Standpunkt aus betrachtet mag der Unterschied der Authentizität lediglich graduell sein, doch ist einzuwenden, daß für die Belege aus literarischen Quellen

266 Vgl. Lenz 1989.

267 Zöfgen 1986, S. 231.

268 Ebd.

269 Nikula 1986, S. 190.

hin eine ursprüngliche Authentizität gegeben ist. Eine Äußerung, die ein authentischer Beleg in einem Wörterbuch wiedergibt, hat in einem kommunikativen Zusammenhang, in ihrem ursprünglichen Kontext, funktioniert und ist daher in der Regel korrekt sowie der Situation angemessen gestaltet. Von dem konstruierten Beispiel kann dieses gerade nicht gesagt werden.270 Daher kann das Kriterium der Authentizität gerade in historischen Wörterbüchern entscheidend sein.

Abgesehen von der Frage der Authentizität ist für Nikula ausschlaggebend, welchem Zweck ein Verwendungsbeispiel und ein Beleg im Wörterbuch dienen könne. Seine De-finition des lexikographischen Beispiels legt fest, daß es „eine Instanz einer allgemeinen Regel vorführen“271 soll. „Authentische Beispiele“, also Belege, könnten aber gerade diese Forderung nicht erfüllen. Nikula geht sogar so weit, daß er meint,

„je ‘authentischer’ ein Beispiel ist, desto schlechter erfüllt es seine Funktion als Bei-spiel im angeführten Sinne“.272

Während nämlich die Struktur des „konstruierten Beispiels“ von seiner Funktion als Bei-spiel bestimmt werde, sei die des Belegs

„vor allem, z. B. was Wortwahl, Wortstellung, Pronominalisierungen usw. betrifft, von einem nicht vorhandenen Kontext abhängig“.273

Und hieraus folgert er:

„Da die Angemessenheit einer sprachlichen Struktur ausgehend von ihrer Funktion beurteilt werden muß, sind ‘authentische’ Beispiele also grundsätzlich keine geeigne-ten Beispiele im Sinne von ‘Instanzen allgemeiner Regeln’“.274

Aus dem Beispiel müßten vielmehr sicher Merkmale der Wortbedeutung und seiner Verwendung erkennbar werden. Und das sei besser mit Hilfe des gezielt für den jeweili-gen Zweck „konstruierten Beispiels“ möglich, während die „authentischen Beispiele“

mehr und disparate Informationen böten. Aus den Belegen müsse sich der Benutzer erst prototypische Beispiele erschließen, was Nikula für unnötig hält, da das die Aufgabe des Lexikographen und nicht des Benutzers vorstelle.

Nikula zieht also für die Darstellung im Wörterbuch „konstruierte Beispiele“ vor, erkennt aber den Belegen ihren Wert zu, wenn sie zusätzlich zu den Verwendungsbeispielen

270 Prinzipiell besteht auch bei der Wiedergabe von Belegen die Gefahr der Verfälschung, wenn der Lexikograph die Äußerung aus dem originalen Text so kürzt und modifiziert, daß sie nicht mehr als korrekte Verwendung eines Wortes in einem Kommunikationsrahmen gelten kann.

Doch diese Gefahr ist beim Bilden des konstruierten Beispiels mindestens ebenso groß, wenn nicht größer.

271 Nikula 1986, S. 188. Er zitiert aus Heringer 1984, S. 59.

272 Nikula 1986, S. 189.

273 Ebd.

274 Nikula 1986, S. 189.

nutzt werden. Er erklärt jedoch nicht, wofür sie im einzelnen ihren Nutzen erfüllten, son-dern formuliert allgemein, es könnten

„natürlich Belege aus Texten zusätzlich zu den eigentlichen Beispielen für den Benut-zer sowohl interessant als auch nützlich sein“.275

Martin differenziert konkreter verschiedene Funktionen der lexikographischen Beispiele.

Er stellt begrifflich das konstruierte und das zitierte Beispiel, ‘l’exemple construit’ und

‘l’exemple cité’ einander gegenüber und spricht ihnen ausdrücklich einen unterschiedli-chen Status zu:

„La différence entre exemple cité et exemple construit est [...] dans le statut sémio-tique de l’un et de l’autre.“276

Das Verwendungsbeispiel diene ausschließlich dazu, das Stichwort und dessen Bedeu-tung vorzuführen und beziehe sich nicht auf eine konkrete Kommunikationssituation.

Daher bilde es keine wirkliche Äußerung, verfüge über keinen außersprachlichen Hinter-grund, auf den es verweisen könnte:

„L’ exemple construit, dépouillant l’énoncé de tout renvoi à une situation réelle, con-duit à un artefact qui n’est que le lieu du sens“.277

Dagegen verkörperten Belege eine wirkliche Äußerung, denn auch wenn sie im Wörter-buchartikel aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen seien, hätten sie dort funktioniert.

Daher sind sie durch diesen Kontext geprägt:

„les exemples cités sont historiquement et idéologiquement marqués: impossible de les disjoindre de la culture qui les a fait naître.“278

Aufgrund des jeweils unterschiedlichen Status schreibt Martin den Verwendungsbei-spielen und Belegen je unterschiedliche Akzentuierungen ihrer Funktionen zu. Während Verwendungsbeispiele gerade aufgrund ihrer Unabhängigkeit vom jeweiligen Kontext und Kommunikationshintergrund linguistischen Anforderungen besser genügten, könnten Belege Nachweisfunktionen für philologische Belange erfüllen.279 Ähnlich wie in den bereits in Kapitel B.II.3. aufgeführten Aufsätzen zählt Martin bestimmte Funktionen lexikographischer Beispiele auf, ordnet sie allerdings jeweils spezifisch entweder den Verwendungsbeispielen oder den Belegen zu. Zu den linguistischen Aufgaben, denen die Verwendungsbeispiele am besten dienen könnten, rechnet Martin das Aufzeigen syntag-matischer und paradigsyntag-matischer Möglichkeiten des Stichwortes sowie rhetorischer und

275 Nikula 1986, S. 190. Dagegen erkennt Nikula den Belegen in der Materialsammlung im Unter-schied zu ihrem Vorhandensein im Darstellungsverfahren einen wesentlichen Wert zu (vgl. Ka-pitel B.II.2.).

276 Martin 1989, S. 600.

277 Hervorhebung im Original. Martin 1989, S. 600.

278 Martin 1989, S. 601.

279 Ebd.

paradigmatischer Bedingungen. Für philologische Aufgaben böten die Belege den Vor-teil, daß Fehler oder subjektive Färbungen, die der Lexikograph in konstruierte Beispiele einbringen könne, ausgeklammert würden. Sie seien an einen tatsächlich nachweisbaren Gebrauch gebunden und könnten diesen so bezeugen:

„la fonction essentielle de la citation est d’’autoriser’ telle ou telle signification en l’attestant par un texte“.280

Ebenfalls speziell den Belegen ordnet Martin die Aufgaben zu, zum einen Äußerungen über Sprache wiederzugeben, zum anderen außerspachliche Phänomene, etwa enzyklo-pädische Informationen oder ideologische Akzentuierungen, erkennen zu lassen.281 Diese differenzierte Einschätzung der spezifischen Leistungsmöglichkeiten und Funk-tionen ist die Voraussetzung dafür, Verwendungsbeispiele und Belege sinnvoll für die Informationsvermittlung zu nutzen. Denn in anderen Untersuchungen wird ihnen häufig unterstellt, sie könnten vielfältige Funktionen erfüllen, ohne daß bedacht wird, unter welchen Bedingungen diese Funktionen zu realisieren wären. Die Überschätzung des Leistungspotentials gerade der Belege auf der einen Seite und die wenig differenzierte Betrachtung der Bedingungen für ihren Gebrauch auf der anderen Seite bringt die lexikographische Praxis nicht weiter.

Auch Martin glaubt letztlich an das vermeintlich große Leistungspotential und schließt seinen Aufsatz und den umfangreichen Katalog der erwarteten Funktionsmöglichkeiten lexikographischer Beispielen mit den Worten:

„On voit en tout cas la multiplicité des fonctions assignées à l’exemple lexicogra-phique. La tentation est grande de conclure avec les Académiciens (Préface 1878) que

„les exemples sont la vraie richesse et la partie la plus utile du dictionnaire“.“282 Reichmann und U. Haß beziehen sich in ihren Erörterungen auf Wörterbücher, die kulturhistorische Fragen beantworten sollen und die, speziell bei Reichmann, einer histo-rischen Objektsprache gelten. Hierfür schätzen sie den Gebrauch von Belegen als un-abdingbar ein.

Reichmann mißt den Belegen in Korpuswörterbüchern ein besonderes Gewicht zu. Hier verfüge der Lexikograph im Unterschied zu dem Lexikographen, der eine „Informanten-sprache“283 beschreibe, mehr über die Kompetenz, zu verstehen als zu produzieren.

Selbst diese sei nur an Auszügen des gesamten Spektrums der Korpussprache entwickelt worden. Insofern verbiete es sich für den Lexikographen, konstruierte Beispiele zu bilden, da seine Kompetenz als begrenzt anzusehen sei. Der Lexikograph sei hier auf

280 Martin 1989, S. 603.

281 Vgl. Martin 1989, S. 604-606.

282 Martin 1989, S. 606. Martin zitiert aus dem Dictionnaire de l’Académie française (Anm. d.

Verf.).

Belege angewiesen, die ursprünglich von aktiven Teilhabern einer Sprachgemeinschaft als sprachliche Äußerung produziert worden sind.284 Ähnlich geht auch U. Haß von der bereits dargelegten methodischen Unterscheidung der Funktionen der Materialbasis aus, die davon abhängt, ob dem Lexikographen die eigene Sprecherkompetenz primär zur Hypothesenbildung dienen darf oder nicht. In dem Maß, wie der Lexikograph auf authentische Belege zur Analyse und Befunderhebung angewiesen sei, brauche er die Belege auch zur Dokumentation seiner Befunde im Wörterbuchartikel.285

Doch auch wenn sich Reichmann gegen den Gebrauch von konstruierten Beispielen im historischen Korpuswörterbuch ausspricht, geht er einen Kompromiß ein: er akzeptiert modifizierte Textstellen als Form des lexikographischen Beispiels und nutzt diese

„Syntagmen“286 im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch komplementär zu Belegen. Die

„Syntagmen“ nehmen eine Zwitterstellung ein, denn sie stellen keine authentischen Zi-tate dar, sondern werden aus authentischen Textstellen modifiziert wiedergegeben, sind also in Bezug zu originalen objektsprachlichen Textstellen entstanden. Die Kürze der

„Syntagmen“ ermögliche es laut Reichmann, mehrere Beispiele im Wörterbuchartikel wiederzugeben und so die bereits genannten Funktionen der lexikographischen Beispiele zum Teil über die Menge der „Syntagmen“ und die so entstehende Vielfalt zu erfüllen.

Auf diese Weise nutzt Reichmann Vorteile, die sonst konstruierte Beispiele bieten, und setzt gezielt mal „Syntagmen“, mal Belege ein.

Zu den Vorteilen der Belege gehöre es, daß sie verstärkt den ideologischen Stellenwert eines Wortes zur Zeit des Gebrauchs zeigten. Auf diese Weise könnten Belege anregend für kulturhistorisch interessierte Benutzer sein, da sie

„sich in besonderer Weise dazu eignen, historisches Wissen nicht als homogenes Wissen homogener Gesellschaften, sondern als geschichtstypisch über Einzelautoren und Autorengruppen verteiltes Wissen zu dokumentieren“.287

In einem anderen Zusammenhang hebt Reichmann bezogen auf den Typ des semasiologi-schen und des distinktiv onomasiologisemasiologi-schen Wörterbuchs den besonderen Stellenwert gerade von Belegen hervor. Wenn die Bedeutung von Wörtern erläutert werden soll, davon geht Reichmann aus, müsse der gesamte Handlungsrahmen des Wortgebrauchs erkennbar werden, und zwar aus entsprechend umfangreich geschnittenen Belegen, die

283 Reichmann 1988, S. 414.

284 Vgl. Reichmann 1988, S. 414-416.

285 Andere Untersuchungen unterscheiden zum Teil durchaus zwischen Verwendungsbeispielen und Belegen, die Differenzierung spiegelt sich in einigen Fällen auch in den Definitionen (vgl.

Kapitel B.II.1.). Doch die Verfasser ordnen den Formen nicht explizit verschiedene Funktionen zu (vgl. Hermanns, Denisov, G. Harras).

286 Zu Definition und Gebrauch von „Syntagmen“ vgl. Kapitel B.II.1.

287 Reichmann 1986, S. 263.

gleichzeitig differenziert genug sein müssen, um die inhaltlich feinen Bedeutungsunter-schiede erfassen zu können.288