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Die genealogisch-historische Sprachforschung

Im Dokument Die Sprachwissenschaft (Seite 181-187)

Einleitung.

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Es handelt sichbei der geschichtlichen Sprachforschungzuvörderst nicht um hier

„Prinzipien der Sprachgeschichte“, wie sie Paul in seinem so betitelten Buche 1891

und früher Whitney (Life and Growth of Language) aufgestellt haben. Die Ent-deckung solcher allgemeiner Grundsätze gehört weder der einzelsprachlichen noch der historisch-genealogischen Forschung. Jede Sprache und jeder Sprach-stamm ist autonom, nur beschränkt durch die Grenzen des Menschenmöglichen:

die Weite dieser Schranken, was schlechthinnothwendig,oder schlechthin un- nothwendig

möglich ist, das zu erörtern gebührt der allgemeinen Sprachwissenschaft. Mit 1891

Recht aber haben die Indogermanisten je länger je mehr diesen Prinzipienfra-gen ihre ganze Aufmerksamkeit zugewandt. Inwieweit aber diese Grundsätze, so wie sie von ihnen für ihren Bereich aufgestellt worden sind, auch in ande-ren Sprachfamilien sich halten, kann nur die Erfahrung lehande-ren.Der Zweig der

Sprachforschung, der uns hier beschäftigt, hat esals solchermit den trockensten zunächst

Einzelthatsachen zu thun: Sind die SprachenAundBmiteinander verwandt, und 1891

in welchem Grade? Giebt es dieses Wort oder jene Form in der und der Sprache oder in der und der Zeit der Sprachgeschichte? wie lautet es da? Welche Gesetz-mäßigkeit herrscht in den lautlichen Abweichungen? Besteht im einzelnen Falle Urgemeinschaft oder Entlehnung? Was ist alles Gemeingut, was neuhinzuerwor- hinzu

erworben

ben? u. s. w. Alles das klingt und ist auch wirklich sehr trocken. Was die mensch- 1891

liche Rede im Innersten bewegt, was sonst die Wissenschaft von den Sprachen der Völker zu einer der lebensvollsten macht, das tritt hier zunächst zurück; nur einige ihrer Ausläufer ranken in das Seelen- und Sittenleben der Völker hinüber.

Der einzelsprachliche Forscher kann gar nicht schnell genug die fremde Sprache in’s eigene Ich aufnehmen; der Sprachhistoriker steht draussen vor seinem Ge-genstande: hier der Anatom, da der Cadaver. Ich übertreibe wohl nicht, wenn ich

III.Die genealogisch-historische Sprachforschung.

behaupte, Bopp und Schleicher hätten ihre ver||137||gleichenden Grammatiken ganz ebensogut schreiben können, wenn sie|146|auch nicht einer einzigen der darin bedachten Sprachen mächtig gewesen wären. Was treibt sie und ihre Fach-genossen zu philologischer Thätigkeit?EntwederLiebhaberei für das verwandte

entweder

1891 frischere Nebenstudium, oder das Bedürfniss der eigenen Wissenschaft, der sie bessere Quellen zuführen wollen.

Die Geschichte der Linguistik, diesmal der vergleichenden Indogermanistik, ist hier wie immer lehrreich. Erst zügellos kühnes Zusammenstellen ähnlich klin-gender Vocabeln; dann Ringen nach sicherer Methode. Methode hiess aber in diesem Falle genügsame Selbstbeschränkung auf das Greifbarste. Die Gefahr lag nahe, dass daraus beschränkte Selbstgenügsamkeit nach der Art eines platten Materialismuswurde: nur das Greifbare, Stoffliche schien Werth zu haben, nur die Scheidekunst an Lauten geübt schien wahre, beweisende Wissenschaft. Dass sie dies ist, hat sie glänzend bewährt, auch da, wo ihre Ergebnisse umstritten sind:

sie tastet eben die Grenzen des Beweisbaren aus. Nun aber drängt es sie über die selbstgezogenen Schranken hinaus, – Pott’s souveräner, allseitiger Geist hatte sich ohnehin diesen Schranken nie unterworfen. Kurz die Sprachgeschichte ist nur zum Theile aus lautmechanischen Vorgängen zu erklären; das lernte man um so tiefer empfinden, je schärfer man die entdeckten Lautgesetze zuzuspit-zen strebte. Gesetze wollen ausnahmslos gelten. Werden sie von Ausnahmefällen durchbrochen, so sind sie entweder zu weit gefasst, oder sie werden von ande-ren Mächten überwunden. Glaubte man also die Erscheinungen des gesetzmä-ssigen Lautwandels erschöpfend auf allgemeine Formeln zurückgeführt zu ha-ben, so musste man für den unerklärbaren Rest eine fremde, nicht lautmechani-sche Macht verantwortlich machen, und diese konnte nur seelilautmechani-scher Art sein. Es schien, als wäre das Prinzip der Analogie auf einem weiten Umwege ein zweites Mal entdeckt, das grosse Gesetz der lebendigen Sprache. Nicht die Entdeckung, sonderen die Anwendung dieses Gesetzes auf dem Gebiete der geschichtlichen Forschung ist das Verdienst der neueren Indogermanistik. Urtheile ich recht, so hat in dieser Schule die sprachgeschichtliche Wissenschaft eine wahre Verjün-gung, eine Rückkehr zum frischen Leben gefeiert. Jetzt schwelgt ein Theil ihrer Anhänger im Entdecken „falscher Analogien“, manchmal wohl zur Schadenfreu-de ihrer Gegner, und doch selbst in ihren Übereilungen anregend.

Ein zweiter Fortschritt in gleicher Richtung ist zu verzeichnen. Die syntak-tische Vergleichung hatte sich lange nur auf einzelne Zweige |147|des Sprach-stammes erstreckt, zudem, mehr für die Zwecke des Schulunterrichtes, auf La-teinisch und Griechisch untereinander und mit der Sprache des Lernenden. Erst in neuerer Zeit ist man darauf verfallen, einzelne Theile der Satzlehre

weiter-Einleitung.

hin vergleichend zu verfolgen; die Grammatiken aber von vorwiegend linguisti-scher Tendenz, die jetzt sammlungsweise erscheinen, hören nach wie vor da auf, wo die Syntax anfangen sollte. Allenfalls wird da der Formenlehre etwas syn-tak||138||tische Zuthat wie Schmuggelgut beigepackt; sonst aber ist es, als sollte durch solche Programme bewiesen werden, dass Verständniss und Handhabung einer Sprache nicht zu den Dingen gehören, die eine Grammatik zu lehren hat.

Zum Glücke liegt der Fehler nur in dem missbräuchlich angemassten Titel: statt Grammatik sollte es heissen: Laut- und Formenlehre. Auch die geschichtliche Grammatik muss alle Theile ihres Gegenstandes erfassen, und ihre Vertreter sind gewiss die Letzten, die dies verneinen möchten.

Aber der besondere Gesichtspunkt ergiebt besondere Aufgaben. Welches sind die Aufgaben der historisch-genealogischen Sprachforschung?

Alle Sprachen erleiden Wandelungen in Stoff und Form, viele erleiden zu-dem Spaltungen, wohl auch Mischungen. Unter Spaltungen der Sprachen aber verstehen wir dies, dass die Veränderungen auf verschiedenen geographischen Gebieten verschieden geschehen. Solche Spaltungen geringfügigster Art haben wir schon in den leisesten mundartlichen Abschattungen, in rein localen Wort-gebräuchen und Redensarten, ja in den individuellen Eigenheiten der Lautbil-dung und des Sprachgebrauchs zu erkennen. Untermundarten desselben Dialek-tes, Dialekte derselben Sprache, Sprachen derselben Familie, Familien desselben Sprachstammes sind weiter nichts als Spaltungs- und vielleicht Mischungsergeb-nisse.

So hat die genealogisch-historische Forschung, mag sie ihr Gebiet so eng oder so weit ziehen wie sie will, doch eigentlich immer die Geschichte einer einzigen Sprache zum Gegenstande, vielleicht sogar nur die Geschichte einer einzelnen Mundart. Der Indogermanist fragt: Was ist aus der Sprache unserer indogerma-nischen Urahnen geworden? Wie hat sie sich verzweigt und in den Verzweigun-gen gestaltet? wie mag sie selbst beschaffen gewesen sein? Ähnlich der Germa-nist, der Slavist, der RomaGerma-nist, der Keltist u. s. w., ähnlich auch der, der etwa die nordfriesischen oder schwäbischen Mundarten unter einander vergleichen woll-te. Die Vergleichung halte sich ganz auf der Oberfläche, besage zunächst|148|

nicht mehr, als dass dieser Erscheinung der einen Sprache jene in der anderen entspreche, z. B. dem deutschendein englischesth, dem deutschen Worte „Kna-be“ = Kind männlichen Geschlechts, das englischeknave= Schurke, dem

lateini-schenAccusativuscum infinitivo der deutsche Objectssatz mit „dass“, – immer accusativus

liegt mindestens stillschweigend der Gedanke zu Grunde, dass die gemeinsame 1891

Ursprache sich hüben so, drüben so weiter entwickelt, oder auch, dass sie sich in der einen ihrer Verzweigungen unverändert bewahrt habe.

III.Die genealogisch-historische Sprachforschung.

Man sieht, im Grunde hat es die historisch-genealogische Forschung ebenso-gut mit Einzelsprachen zu thun, wie die einzelsprachliche selbst. Worin besteht also der wesentliche Unterschied Beider?

Er besteht nicht im räumlichen Umfange des Untersuchungsobjectes. Einen Sprachstamm als solchen und in seinen Verzweigungen kann man freilich||139||

nicht einzelsprachlich betrachten; denn die einzelsprachliche Forschung ist ihrer Natur nach an die sprachgemeindlichen Grenzen gebunden. Dafür bietet aber wiederum eine Mundart in ihren Abschattungen weit mehr Anlass zur historisch-genealogischen Untersuchung, als zur einzelsprachlichen.

Auch der zeitliche Umfang ist natürlich nicht entscheidend. Cultursprachen ha-ben ihre epochemachenden classischen Zeitalter, deren Meisterwerke viele Jahr-hunderte lang die Geister und die Sprache beherrschen mögen, und immer leben die Epigonen mit den Classikern in Sprachgemeinschaft. Umgekehrt können die Sprachgemeinschaften recht kurz und jäh abgebrochen werden, und es steht der Nachwelt frei, ganze Perioden von der Gemeinschaft auszuschliessen. Luther’s grobschrötige Frische steht unserm Sprachgefühl näher, als die unausstehliche Ziererei und Ausländerei, darin man sich nach dem dreissigjährigen Kriege gefiel.

Boccaccio gehört in die Gemeinschaft der lebendenLinguatoscana; der zwanzig

lingua

1891 Jahre jüngere Franco Sacchetti dagegen wird wie ein Fremdling verdolmetscht.

Jenem, deralsein halbes Jahrtausend hindurch als Muster edler Sprache gegolten, gebührt auch in der einzelsprachlichen Wissenschaft ein hervorragender Platz;

der jüngere Novellist dagegen, dessen Werke viel später im Druck erschienen und wohl nie in ähnlichem Umfange nationales Gemeingut geworden sind, kann nur in der Sprachgeschichte Berücksichtigung beanspruchen.

Der Unterschied zwischen beiderlei Forschungen ist in der That ein artlicher.

Die Einzelsprache ist ein Vermögen, das aus seinen Äusserungen|149|begriffen, in diesen nachgewiesen werden will. Diese Aufgabe setzt sich die einzelsprachli-che Forschung, und sie darf innerhalb ihres Kreises jenes Vermögen als ein sich im Wesentlichen gleichbleibendesbehandeln. Denndas ist es in der That. In

Lu-behandeln;

denn1891 ther’s Rede wurden der Hauptsache nach dieselben Stoffe von denselben Kräf-ten beherrscht, nach denselben Gesetzen bearbeitet, wie in der Sprache irgend eines unserer Zeitgenossen. Und das Gleiche gilt von den Mundarten verschie-dener Gaue: im Wesentlichen gleicht das Sprachvermögen desErzgebirgersdem

Erzgebirges

1901 des Schwarzwäldlers oder Oberbaiern, mag sich auch unter den äusseren Hüllen die Wesensgleichheit verbergen.

Dieses Vermögen also soll der Einzelsprachforscher erkennen, beschreiben, und aus ihm heraus soll er die Äusserungen derEinzelspracheerklären.

Thatsäch- Einzel-sprachen

1891 lich ist nun aber jenes Vermögen ein gewordenes und immer weiter werdendes,

Einleitung.

sich veränderndes und verschiebendes, und auch das will erklärt werden: durch welche Veränderungen ist die Sprache zu ihrem jeweiligen Zustande gelangt?

womöglich auch, – wenn die Frage nicht in alle Zukunftunbeantwortetbleibt: unbeant-wortbar

warum ist die Sprache gerade so geworden und nicht anders? Auf alles dies kann 1891

die Einzelsprachforschung von ihrem Standpunkte aus und mit ihren Mitteln kei-ne Antwort geben; hier stehen wir auf dem Gebiete der Sprachgeschichte.

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In der Wissenschaft gelten als Eintheilungsgrund nicht die Werkzeuge, mit de-nen gearbeitet, auch nicht die Quellen aus dede-nen geschöpft, sondern die Erkennt-nissziele, denen zugestrebt wird. In unserem Falle, bei der einzelsprachlichen und der sprachgeschichtlichen Forschung, sind aber die ersteren kaum weniger ver-schieden, als die Letzteren. Beide Forschungszweige verhalten sich zu einander gegensätzlich und sich ergänzend; von ihrem Standpunkte aus und mit ihren Mit-teln erstrebt und vermag die Eine gerade das, was der Anderen unzugänglich ist.

Die einzelsprachliche Forschung erklärt die Sprachäusserungen aus dem jewei-ligen Sprachvermögen und thut sich genug, wenn sie dieses Vermögen, wie es derzeit in der Seele des Volkes ist oder war, in seinem inneren Zusammenhan-ge systematisch begreift. Sie wird dabei hin und wieder Zusammenhan-gern Anleihen bei der Sprachgeschichte machen; sie kann aber auch ohnedem leben; denn was dem je-weiligen Sprachgefühle gegenüber zufällig ist, darf es auch ihr bleiben. Wie und warum jenes Vermögen und dieses Gefühl so geworden, begreift sie nicht. Dage-gen will die Sprachgeschichte a l s s o l c h e eben weiter nichts als dies erklären.

Das heisst: die Lebensäusserungen der Sprache, die Rede, begreift sie gar nicht.

Will sie sie begreifen, so muss sie eben auf den einzelsprachlichen Standpunkt übertreten. Somit ist sie in viel weiterem Masse auf Borg angewiesen, als die ein-zelsprachliche Forschung; jene Gebietsüberschreitungen, – denn das sind sie nun einmal, – sind ihr so unentbehrlich und gewohnt geworden, dass sie im besten Glauben auch drüben, jenseits ihrer Grenze ihre Flagge hissen möchte und Din-ge, mit denen sie nichts anzufangen weiss, vielfach wegzuräumen versucht. Denn das masst sie sich an, wenn sie z. B. den Satz aufstellt: eine Sprache, von der wir weder frühere Phasen noch seitenverwandte oder dialektische Verzweigungen kennen, sei überhaupt kein Object für die Sprachwissenschaft. Als ob die Sprach-wissenschaft nichts weiter zu erforschen hätte, als wenn und wo diese oder jene Veränderungen im Laut- und Formenwesen, in den Wörtern und Bedeutungen eingetreten sind; als wären die grossen Wirkungen dessen, was sich Jahrhunder-te hindurch im Wesentlichen gleich geblieben ist, weniger inJahrhunder-teressant, als jene kleinen Wandelungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte vollzogen haben; als müsste der, der die Gesetze einer vereinzelten Sprache in einer systematischen

III.Die genealogisch-historische Sprachforschung.

Grammatik darzustellen weiss, nicht mindestens ebensoviel Verständniss vom Wesen der menschlichen Sprache haben, als Jener, der das Lautinventar der in-dogermanischen Ursprache um ein paar neue Nummern bereichert. Keiner von beiden hat das Recht, auf den Anderen herabzublicken, denn Beider Leistungen können sich an aufgewendetem Fleisse und Scharfsinne die Waage halten. Gilt es aber nicht dieser oder jener Sprache, sondern dem menschlichen Sprachver-mögen überhaupt, so denke ich, ein neuer Sprachtypus hat doch etwas mehr Erkenntnisswerth, als ein paar neue alte Laute.

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Die Sprache oder Mundart, deren Geschichte untersucht werden soll, wollen wir relativ eine U r s p r a c h e oder einen U r d i a l e k t nennen, – relativ, das heisst,wohl wissend, dass diese sogenannten Urformen ihrerseits doch nur

Pha-heisst:

1891 sen einer vielleicht langdauernden früheren Entwickelung sind. In diesem Sin-ne reden wir von Ur-Indogermanisch, Urgermanisch, Urskandinavisch, Urschwä-bisch u. s. w., immer in Hinsicht auf spätere Phasen und Spaltungen.

Sind nun diese Spaltungen alt und weitklaffend genug, so hört die sprachliche oder mundartliche Einheit auf, Entfremdung tritt ein, Dialekte werden zu Sonder-sprachen, Einzelsprachen werden zu Oberhäuptern ganzer Sprachstämme. Dann mag es wohl geschehen, wie manchmal in der Pflanzenwelt, bei Stockausschlä-gen und Wurzelausläufern. Der alte Stamm ist längst verfault, und man muss unter dem Boden nachgraben, um die gemeinsame Wurzel blosszulegen. Und wenn es nur immer so stünde, dass jede Sprache bloss eine Wurzel hätte! Oft allerdings ist die Ähnlichkeit einer Sprache mit anderen so augenfällig, dass es kaum eines besonderen Verwandtschaftsnachweises bedarf. Oft aber|150|auch sind die Ähnlichkeiten so verwischt, die Verwandtschaften so entfernt, dass jener Nachweis viel Mühe und Scharfsinn erfordert.

Es ist leicht erklärlich, dass uns diejenige Sprache der Ursprache am Nächsten zu stehen scheint, die uns über die übrigen den reichsten Aufschluss giebt. Oft wird dies die sein, die wir am Frühesten oder am Genauesten kennen gelernt haben, und von deren Standpunkte aus wir nun, ganz menschlicher Weise, die anderen betrachten. So können sich in die Forschung Zufälligkeiten und Einsei-tigkeiten einschleichen, die erst in der Folge berichtigt werden. Vom Sanskrit ausgehend hatte man die indogermanische Sprachverwandtschaft entdeckt, nun mass man die übrigen Glieder der Familie am Sanskrit, bis man einsehen lern-te, dass die europäischen Sprachen in manchen Dingen den Urtypus reiner be-wahrt haben. R. H. Codrington (The Melanesian Languages, Oxford 1885) ist der Meinung, wir würden über das Verhältniss der melanesischen Sprachen zu den malaischen ganz andere Ansichten haben, wenn wir jene früher als diese

§. 1. Aufgaben der Sprachengenealogie.

kennen gelernt und die malaischen Sprachen an den melanesischen gemessen hätten, wie er es thut. Die Bemerkung ist an sich sehr fein und zutreffend; nur das möchte ich bezweifeln, dass der ausgezeichnete Forscher von seinem neuen Standpunkte aus zu befriedigenderen Ergebnissen gelangt wäre. (Vergl. meine Besprechung im Journal of the R. A. S. of Gr. Br. & Ireland, XVIII., pt. 4). Solange man der indochinesischen Sprachvergleichung das Neuchinesische zu Grunde legte, kam man nicht recht von der Stelle. Das Tibetische hilft weiter; und wel-che Aufschlüsse vom Siamesiswel-chen und von den agglutinirenden Gliedern der Familie zu erwarten sind, lässt sich noch gar nicht übersehen.

Wir werden, um Missverständnisse zu vermeiden, gut thun, zwischen äusse-rer und inneäusse-rer Sprachgeschichte zu unterscheiden. Die äussere Geschichte||142||

einer Sprache ist die Geschichte ihrer räumlichen und zeitlichen Verbreitung, ih-rer Verzweigungen und etwaigen Mischungen (Genealogie). Die innere Sprach-geschichte erzählt und sucht zu erklären, wie sich die Sprache in Rücksicht auf Stoff und Form allmählich verändert hat.

Es leuchtet ein, dass man, solange man nur sprachgeschichtliche Zwecke ver-folgt, nur genetisch verwandte Sprachen miteinander vergleichen darf. Und um-gekehrt ist es einleuchtend, dass der Beweis der Verwandtschaft, wo er nöthig ist, nur im Wege der Vergleichung geführt werden kann. So scheint es, als drehten wir uns im Kreise. In der That ist aber die vergleichende Arbeit, die nur die Famili-enzugehörigkeit erweisen will, summarisch im Gegensatze zu jenen minutiösen Untersuchungen, die die innere Sprachgeschichte erheischt. Zudem ist jene Ar-beit die vorbereitende, und schon darum muss sie zuerst betrachtet werden.

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