II. Die Genese des Geschichtslyrikers aus der Zeitgenossenschaft
4. Die frühe Geschichtslyrik. Tendenzen und immanente Poetik
Zeitgenössische Zeitzeugen Die Figur, die in »di zerstörtn. ein gesang« die Relativierung der am Wir vorgeführten Sprech‐
weise über den Ersten Weltkrieg leistet, das individualisierte Ich des vierten Abschnitts also:
Es ist Klings Großvater nachempfunden, auch wenn das dem Text selbst nicht abzulesen, es allenfalls erahnbar ist.93 Erst der Leser von Klings letztem Band wird dieses Wissen parat haben: »[W]ar es nicht mein Großvater«, heißt es dort im Abschnitt »Bakchische Epiphanien IV« des Essays »Projekt ›Vorzeitbelebung‹«:
war es nicht mein Großvater, auch er Jahrgang 1886, der als knapp Neunzigjähriger, nachts im Halbschlaf, auf mnemosynischen Schlachtfelder die Russen singen hörte, bei ihren Wacht‐
feuern in Rumänien 1916 […].94
Für die Interpretation des Gedichts mag das irrelevant sein; für die Konturen der frühen Ge‐
schichtslyrik Klings ist es bezeichnend, weil es verdeutlicht, wie eng Klings frühe Geschichts‐
lyrik an die Figur des Zeitzeugen geknüpft ist: und damit an das, was die Forschung zum kulturellen Gedächtnis als ›kommunikatives Gedächtnis‹ bezeichnet. Als dessen Träger gelten nach Assmann und Assmann die »Zeitzeugen einer Erinnerungsgemeinschaft«, als dessen
93 inem Kommentar zum Gedicht diese Identifizierung vorgenommen,
S. 195.
So hat jedenfalls Peter Waterhouse in se vgl. Waterhouse: Die Geheimnislosigkeit,
94 Kling: Projekt »Vorzeitbelebung«, S. 77f.
Inhalt die »Geschichtserfahrungen im Rahmen indiv[idueller] Biographien«95. Derartige Ge‐
schichtserfahrungen sind die historische Substanz aller im Zurückliegenden behandelten Gedichte. Dabei ist die Voraussetzung der geschichtskulturellen Handlungen, die die Gedichte vollziehen, nicht zuletzt das in »zivildienst. lazarettkopf« gleich zu Beginn thematisierte ›Vor‐
beisterben‹ der Zeitzeugen. Gegen dieses ›Vorbeisterben‹, das pointiert inszeniert wird in der Konfrontation von hedonistischer, auf die Gegenwart und den drogenberauschten, eksta‐
tischen Moment konzentrierter Subkultur und der Heterotopie des Altenheims, wie sie das Gedicht »Ratinger Hof, zb 2« vornimmt –; gegen dieses ›Vorbeisterben‹ stellen die Gedichte die Handlung des Bewahrens jener an die Existenz der Zeitzeugen gebundenen Spuren der Geschichte, die verzeichnet, die, so in »zivildienst. lazarettkopf«, katalogisiert werden und dabei in das schriftliche Archiv der Kultur eingehen.
Zu den biographischen Legenden des Autors Thomas Kling, die gewiss immer auch Insze‐
nierungscharakter haben, gehört nun, dass die Zeitzeugen aus dem biographischen Umfeld des Autors kommen. Dies betrifft nicht nur das familiäre Umfeld in Form seines Großvaters, seiner Großmutter und, in »schlachtenmaler: halber kirschkuchn«, auch seiner Mutter. 1982 und 83 absolvierte Kling seinen Zivildienst in einem Pflegeheim.96 Seine »aus den achtziger Jahren stammenden Gespräche mit den damals 85jährigen Männern und Frauen, die den Ersten Weltkrieg erlebt hatten«97, erklärt er 2000 in einem Interview, waren eine Material‐
grundlage für das Langgedicht »Der Erste Weltkrieg« von 1999, waren es wohl schon für die soeben untersuchten Gedichte. Dieser biographische Hintergrund der Gedichtentstehung spielt dabei für die schließlich publizierten Produkte nur eine geringe Rolle. Was jedoch sehr wohl eine Rolle spielt, ist die Tatsache, dass die Gedichte ihren Zugang zur Geschichte immer wieder über die Figur des Zeitzeugen suchen und finden. Dabei erscheint der Zeitzeuge gerade noch als Zeitgenosse. In diesem Sinne fügen sich auch Klings frühe Geschichtsgedichte in das übergreifende Paradigma der frühen Kling’schen Lyrik, nämlich die Zeitgenossen‐
schaft, nur dass eben aus dieser Zeitgenossenschaft heraus der Blick zunehmend das fokus‐
siert, was innerhalb der gegenwärtigen Lebenswelten noch an lebendiger Geschichte präsent ist.
95 Assmann / Assmann: Das Gestern im Heute, S. 120.
96 In Thomas Kling: Sprachinstallation 1. In: I, S. 9‐13, hier: S. 12 berichtet Kling: »Wien, Januar `83. Ich hatte drei Wochen meines Zivildiensturlaubs in Apulien verbracht.«
97 Lippenlesen, Ohrenbelichtung. Hans Jürgen Balmes im Gespräch mit Thomas Kling (Januar 2000). In: Bs, S.
229‐244, hier: S. 229.
Paradigmen der Themenwahl:
d iegs
Geschichte als Schlachtfel und die relative Dominanz des Ersten Weltkr In dieser Ausrichtung zumindest teilweise begründet ist auch der thematische Fokus der frühen Gedichte, die sich nahezu ausschließlich solcher geschichtlichen Ereignisse annehmen, die innerhalb des möglichen Erfahrungshorizonts der gerade noch lebenden Zeitzeugen zu verorten sind. Nun bezeichnet dieser Raum möglicher Erfahrbarkeit zwar die Grenzen des Thematisierbaren, innerhalb dieser Grenzen finden jedoch noch einmal Selektionen statt, die auf die Spezifik der Kling’schen Geschichtswahrnehmung schließen lassen. So wird zum Beispiel die gesamte Nachkriegszeit im Grunde nicht thematisch, auch gibt es kein Gedicht, das auf so etwas wie die ›gute Seite‹ der Geschichte blickt, auf glückliche Momente, Momente des Fortschritts etwa. Stattdessen dominiert erstens der Blick auf die Geschichte als Schlachtfeld, und das heißt vor allem: auf die beiden großen Kriege der ersten Jahrhundert‐
hälfte. Zweitens fällt auf, dass – im Vergleich mit den Konventionen der Geschichtskultur – dem Ersten Weltkrieg eine relative Dominanz gegenüber dem Zweiten Weltkrieg zukommt.
Auf das erste Selektionsparadigma sei kurz, auf das zweite etwas länger eingegangen.
Klings Geschichtsgedichte der späten achtziger und frühen neunziger Jahre, und nicht nur diese, zeigen Geschichte als ein umfassendes Gewaltgeschehen, das den Menschen, wie in »di zerstörtn. ein gesang«, zurückwirft auf seine Kreatürlichkeit und ihn selbst da, wo er physisch unversehrt bleibt, psychisch zeichnet. Die Konstanz dieser Perspektive auf das Historische wirft nun (dieser Punkt ist oben nicht ausdiskutiert worden)98 die Frage auf, ob sich hier nicht doch ein der Geschichte zugeschriebener metahistorischer Sinn ausmachen lässt. Zwar mangelt es dem einzelnen historischen Ereignis in den frühen Gedichten an Sinnhaftigkeit, jedenfalls dann, wenn man darunter – mit Rüsen – eine Deutung des Ereignisses einschließ‐
lich daraus resultierender Handlungsorientierung versteht; zugleich könnten jedoch zahl‐
reiche solcher sinnlosen Ereignisse, in der Zusammenschau, ein Geschichtskonzept der insge‐
samt sinnlosen Geschichte anschaulich werden lassen. Aber auch dies scheint angesichts der frühen Lyrik Klings zu hoch gegriffen, beziehungsweise: es scheint so, legt man die Gedichte zugrunde, dass es ein übergreifendes Geschichtskonzept nicht gibt, jedenfalls finden sich, unabhängig von den historischen Einzelheiten, keine Aussagen, keine Hinweise, die eine grundsätzliche Reflexion über Sinn oder eben Unsinn der ›Geschichte überhaupt‹ nahelegen;
erst mit nacht. sicht. gerät. wird sich das ändern, wie im III. Kapitel nachzulesen ist.
Nun mag die spezifische Themenselektion der frühen Geschichtslyrik nicht im diskutierten Sinne durch geschichtsphilosophische Hintergrundannahmen erklärbar sein; die in ihr sich manifestierende Eigenart der Kling’schen Geschichtssicht ist dennoch signifikant, und zwar zunächst schlicht als Eigenart: als Idiosynkrasie eines Einzelnen, der Geschichte in erster
98 Siehe dieses Kapitel, S. 107.
Linie als Bewegung vor allem des Untergangs, der Versehrung, des Sterbens und Tötens be‐
greift. In diesem Begreifen mag man nun die idiosynkratische Perspektive Klings zugleich ge‐
prägt sehen durch eine weiterreichende, allgemeinere Eigenart der Kling umgebenden, bun‐
desdeutschen Geschichtskultur, deren spezifische Perspektive auf die Geschichte des 20.
Jahrhunderts nicht zuletzt eine Geschichte der Zerstörung zeigt. Aber auch diese zögernde Identifikation zeigt, in einem zweiten Schritt, wiederum vor allem Differenzen auf. Denn wäh‐
rend sich die ›negative Erinnerung‹99 der bundesdeutschen Geschichtskultur wesentlich auf den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg bezieht, steht bei Kling der Erste Weltkrieg im Vor‐
dergrund, ohne dass die genannten Aspekte allerdings ganz ausgeblendet werden.100
Die Verbindung der Kling’schen Autorschaft mit dem Ersten Weltkrieg reicht über dessen Thematisierung in Gedichten hinaus, ist tiefgehender. Zur biographischen Legende des Au‐
tors Thomas Kling gehört der Großvater, gehört der ›Lehrmeister Geschichte‹, der, so erzählt Kling, »die Schlachterei des Ersten Weltkriegs überstanden«101 hatte und der den Autor darü‐
ber hinaus mit der Menschheitsdämmerung, jener »Anthologie von Toten des 1. Welt‐
kriegs«102 vertraut machte. Glaubt man dieser Legende, dann nahm der Erste Weltkrieg und damit das Schicksal der »Generation Verdun« in der Biographie Klings von Beginn an eine prägende Rolle ein, war das historische Bezugsereignis seiner ersten Kontakte mit Literatur und Geschichte. Diese besondere Verbindung dient Kling nun auch dazu, das Profil des eigenen Geschichtsinteresses zu schärfen. So bemerkt er in seinem Essay »Zu den deutsch‐
sprachigen Avantgarden« das »generell zu beobachtende Desinteresse an der ›expressionis‐
tischen‹ Dichtung« und begründet dies zum einen mit dem »pappig‐zuckerwattige[n] Nachge‐
schmack«, den Teile der expressionistischen Lyrik hinterlassen, zum anderen mit »der mas‐
siven Tatsache, daß gerade in Deutschland die Epoche des Ersten Weltkriegs fast gänzlich aus dem Blickfeld der jetzt Lebenden verschwunden ist«103. Angesichts der Tatsache, dass dies ein Lyriker sagt, der sich bereits ›massiv‹ mit dem Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt hat, ist das auch eine Strategie der Exklusivierung, aber dazu gleich mehr. Denn zugleich steht Kling mit dieser geschichtskulturellen Diagnose keineswegs allein.
Mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung hat Felix Philipp Lutz das Geschichtsbe‐
wusstsein der Deutschen um 1991 untersucht und damit die sicher allgemein verbreitete Überzeugung gestützt, dass der »Nationalsozialismus das dominierende Thema bei der Be‐
99 schichtspolitik.
280.
Vgl. dazu Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Ge München 2006, v.a. das letzte Kapitel »Schluss: Der lange Schatten der Vergangenheit«, S. 272‐
100 Zum Holocaust vgl. das unten kurz kommentierte Gedichte »leidenfrost. quellenlage« aus geschmacksver
stärker.
101 Kling: Zu den deutschsprachigen Avantgarden, S. 11.
102 Sprachinstallation Lyon. In: Ordner M11, 2. Blatt.
103 Kling: Zu den deutschsprachigen Avantgarden, S. 14.
schäftigung mit der Vergangenheit ist«104; und noch im Jahr 2003 spricht Karlheinz Bohrer von der »Nichtexistenz eines Verhältnisses zur geschichtlichen Ferne, das heißt zur deut‐
schen Geschichte jenseits des Bezugsereignisses Nationalsozialismus«, wobei es sich bei dieser geschichtskulturellen Konfiguration, seiner Meinung nach, um »eine Art mentales Apriori, eine zweite Haut bundesrepublikanischen Bewußtseins«105 handelt.
In der Geschichtswissenschaft hatte der Erste Weltkrieg freilich bereits spätestens mit der Fischer‐Kontroverse erhöhte Aufmerksamkeit gewonnen. 1979 wurde die zentrale Bedeu‐
tung des Ersten Weltkriegs dann von Georg F. Kennan auf die feuilletontauglichen Formel vom Ersten Weltkrieg als »the great seminal catastrophe of this century«106, als ›Urkata‐
strophe‹ eines später so genannten »kurzen 20. Jahrhunderts« (Eric Hobsbawm) gebracht,107 zugleich »suchte die Forschung seit den 70er und verstärkt in den 80er Jahren […] [der]
Widerspiegelung [des Krieges] im Kriegsalltag nachzugehen«108. Zwei Mosaiksteine in dieser Aufbereitung sind dabei auch eine Monographie von Hermann Korte zum Krieg in der Lyrik des Expressionismus109 von 1981 sowie eine 1982 von Thomas Anz und Joseph Vogel verant‐
wortete Anthologie Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 191418110. Ob Kling diese De‐
batten und Publikationen zur Kenntnis genommen hat, konnte ich nicht feststellen, dass es jedenfalls in seiner Bibliothek einen Sammlungsschwerpunkt zum Ersten Weltkrieg gibt, wurde im I. Kapitel dokumentiert. Ungeachtet dieser Fragen nach dem konkreten Wissen des Autors ist allerdings festzuhalten, dass Kling mit seiner Thematisierung des Ersten Welt‐
kriegs zwar gegen die auch von ihm selbst diagnostizierten Routinen der öffentlichen Ge‐
schichtskultur arbeitet, zugleich aber wissenschaftlichen Aufmerksamkeitsverschiebungen entspricht.
Auf den wissenschaftlichen Diskurs geht Kling in seinen Kommentaren zum Ersten Weltkrieg jedoch nicht ein. Was er vielmehr betont, das ist die fehlende öffentliche Aufmerksamkeit und damit in eins, implizit, die Eigenartigkeit und Besonderheit der eigenen Geschichtswahrneh‐
mung. Insofern lässt sich die wiederholte Thematisierung des Ersten Weltkriegs auch, wie
104 Felix Philipp Lutz: Art. Geschichtsbewußtsein. In: Handbuch zur deutschen Einheit. 1949‐1989‐1999. Hg. von Werner Weidenfeld und Karl‐Rudolf Korte. Frankfurt / New York 1999, S. 392‐402, hier: S. 394. Vgl. auch ders.: Das Geschichtsbewußtsein der Deutschen. Grundlagen der politischen Kultur in Ost und West. Köln 2000.
105 Karl‐Heinz Bohrer: Erinnerungslosigkeit. In: ders.: Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung, München / Wien 2003, S. 10‐29, hier: S. 10.
106 Dieses geflügelte Wort nach George F. Kennan: Bismarcks europäisches System der Auflösung. Frankfurt a.M.
/ Berlin 1981, S. 12.
107 Vgl. den Forschungsbericht von Aribert Reimann: Der Erste Weltkrieg – Urkatastrophe oder Katalysator? In:
Aus Politik und Zeitgeschichte. 29/30 (2004), S. 30‐38.
108 Bruno Thoß: Der Erste Weltkrieg als Ereignis und Erlebnis. Paradigmenwechsel in der westdeutschen Welt‐
kriegsforschung seit der Fischer‐Kontroverse. In: Der Erste Weltkrieg. Wirkung – Wahrnehmung – Analyse.
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Im Auftrag des Militärgesch chtlichen Forschungsamtes hg. von Wolfgang Michalka. Weyarn 1997, S. 1012‐
1043, hier: S. 1030.
109 Hermann Korte: Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus. Studien zur Evolution eines literarischen Themas. Bonn 1981.
110 Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914‐18. Hg. von Thomas Anz und Joseph Vogl. München 1982.
angedeutet, als Strategie der Positionierung verstehen: Die exklusive Themenwahl hebt Kling ab vom konventionellen Geschichtsfokus, lässt ihn als jemanden erscheinen, der dem »menta‐
len Apriori« der bundesrepublikanischen Geschichtskultur nicht unterliegt. Die thematische Ausrichtung der frühen Geschichtsgedichte resultiert so auch aus einer Praxis der Gegen‐
erinnerung, die das festhält, was ansonsten »fast gänzlich aus dem Blickfeld« geraten ist. In
»Ratinger Hof, zb 2« ebenso wie in »zivildienst. lazarettkopf« wird diese Besonderheit der Ge‐
schichtswahrnehmung auch textintern inszeniert: Während die Vermittlungsinstanz in Ersterem das Nachtlokal‐Geschehen und damit die Perspektive der dort Tanzenden transzen‐
dieren kann und also fähig ist, nicht nur die zeitgenössische Subkultur, sondern auch den
»verdunblick« in der Heterotopie »altnkrnkheim« wahrzunehmen, wird in Letzterem gleich eingangs die fehlende Aufmerksamkeit für diejenigen, die »an uns vorbeisterben[]«, beklagt – am Gedicht jedoch sterben die Zeitzeugen nicht vorbei.
Verfahren der Vermittlung Mindestens ebenso wichtig wie die Frage, welche historischen Themen vermittelt werden, ist für die frühe Geschichtslyrik Klings – spätestens mit dem geschmacksverstärker‐Gedicht
»schlachtenmaler: halber kirschkuchn« – jedoch die Frage, auf welche Weise diese Themen vermittelt werden. »schlachtenmaler: halber kirschkuchn« nimmt dabei insofern eine heraus‐
gehobene Stellung ein, als es zentrale Aspekte der von Kling auch späterhin (wenn auch in anderen poetologischen Kontexten) verwendeten Formatierung des Historischen im Akt der lyrischen Vermittlung vorführt und, in Abgrenzung vom narrativen Format der Anekdote, metapoetisch reflektiert. Integrieren lassen sich die in diesem Zusammenhang zu vermerken‐
den Aspekte unter einem wirkungsästhetisch verstandenen Konzept der Entautomatisierung.
Was sich anhand von »schlachtenmaler: halber kirschkuchn« als Verfahren der »geschichte raus‐ / gesplittert« rekonstruieren lässt, steht in Abgrenzung zur narrativen Geschichtsver‐
mittlung qua Anekdote, an der sowohl die temporale Distanzierung durch das epische Prä‐
teritum als auch die emotionale Distanzierung durch eine das Geschehen überformende Teleologie der Pointe kritisiert wird. Dem anekdotischen Format der Vermittlung histo‐
rischen Geschehens wird nun der ›Geschichtssplitter‹ gegenübergestellt. Dieses Verfahren zeichnet sich zum einen durch die Präsentation narrativ nicht eingebundener, fragment‐
artiger Einzelszenen historischen Inhalts aus, zum anderen durch eine, erstens, auf Provo‐
kation und, zweitens, unmittelbare Konfrontation zielende Begegnung zwischen historischem Material und Rezipienten. Dabei führt die fragmentarische Präsentation dazu, dass die Einzel‐
szenen ohne narrative Einbindung und Deutung vermittelt werden. Auf dieser syntagma‐
tischen Eigenart der Präsentation von Geschehen aufbauend, macht dann die spezifische Ge‐
staltung der einzelnen ›Geschichtssplitter‹ deren potentiell entautomatisierende Wirkung möglich.
Dazu trägt, wie eben vermerkt, erstens die provokative Inszenierung des Dargestellten bei: So bedient sich Kling einer drastischen Sprache, stellt Grausamkeit explizit dar. Zwei bisher nicht beachtete Geschichtsgedichte zeigen dies in aller Schärfe; an dieser Stelle sei nur eines von ihnen kurz kommentiert.111
Seitenblick auf »leidenfrost. quellenlage«
In »leidenfrost. quellenlage«112, auch dies ein Gedicht innerhalb der geschichtslyrischen Grup‐
pe in geschmacksverstärker, erfährt das wirkungsästhetische Konzept einer provozierenden Geschichtsdarstellung seine radikalste, auch ernsthafteste Ausformung. »leidenfrost«: das ruft dabei zunächst kulturelles Wissen auf. Der so genannte Leidenfrost‐Effekt bezeichnet das physikalische Phänomen, das dazu führt, dass Wassertropfen auf einer heißen Fläche, sobald sie den Siedepunkt erreicht haben, zu ›tanzen‹ beginnen. Aber Leidenfrost ist im Gedicht vor allem »dr. leidenfrost«, ist Joseph Mengele, KZ‐Arzt in Auschwitz. Entstanden – so eine Notiz auf einer maschinenschriftlichen Fassung – vom »5.6. bis [zum] 9.6. 1985«113 steht das Gedicht im Kontext einer publizistischen Welle zum Verbleiben Joseph Mengeles, die in der ersten Hälfte des Jahres 1985 von der Zeit114 über den Spiegel115 und eine TV‐Reportage116 bis
zu einer Serie in der Bunten117 reicht.
Klings Gedicht thematisiert den Täter jedoch nahezu gar nicht. Nur einmal kurz wird der Name, verknüpft mit einem intermedialen Marker (»DAS UNGELÖSCHTE / MENGELE VIDEO«), genannt; vor allem aber bietet das Gedicht kurze, wiederum im Partizipialstil verfasste
›Bildsplitter‹ dar, die Szenen der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie aufrufen:
»traumatisch / über die rampe gehumpelt, nacht für / nacht«, »die zersprengten öfen«, »in sichtweite / schenkelhoch aufgeworfene zahn / prothesen«, »vorwärtsratternde / waggons«.
Zum leitmotivisch eingeflochtenen Bild für die Massenvernichtung wird dabei der Leiden‐
111 Das andere Gedicht ist »mann aus reit (rheinland)« (in: b, S. 157 [= GG, S. 317]). Vgl. dazu Marcel Beyer:
Thomas Kling: Haltung, v.a. S. 70f. und S. 76ff.). Der Mann aus Reit ist hier Joseph Goebbels, den das Gedicht bei einer Rede vorstellt; ein antisemitischer Ausspruch Goebbels wird eingesprengt, dann Goebbels Gestik beschrieben und ein Kommentar in Kapitälchen ins Gedicht geschnitten: »SEINE AUSSCHWITZ‐GRAZIE: EIN PROPAGANDA‐ / INSTRUMENT«. Das Gedicht schließt mit: »draht, gas und // 2 / gebisse.« Ein solches Gedicht setzt auf den Einspruch und damit auf eine Anschlusskommunikation, die direkt in Fragen der Schicklichkeit, mehr barkeit führt – Fragen die das Gedicht selbst, auch wenn seine Haltung letztlich t, keineswegs entscheidet, sondern lediglich aufwirft.
noch der moralischen Trag wohl politisch korrekt bleib
112 In: g, S. 52f. [= GG, S. 112f.].
113 Ms. »LEIDENFROST. QUELLENLAGE«. In: Ordner M15, 1. Blatt.
114 Vgl. etwa Artikel vom 15.2.1985 in: Die Zeit 8 (1985), und vom 14.6.1985 in: Die Zeit 25 (1985).
115 Vgl. vor allem die Titel‐Story von Erich Wiedemann: »Sechs Millionen, da kann ich nur lachen«. In: Der Spiegel 17 (1985).
116 Gesucht wird ... Josef Mengele. TV‐Sendung von Felix Kuballa, Mitarbeit: Hermann G. Abmayr, René Werner Gallße. WDR 1985. EA: 27.6.1985, ARD.
117 Vgl. Die Bunte vom 20.6. , 27.6., 4.7., 11.7. und 18.7.1985.
frost‐Effekt, werden die verbrennenden Menschen: »ihre rotglühenden gesänge«, »gedünnter schrei, genicke; / die faltigen kinder, ihre gerösteten / rasendschnell alternden schreie«, »DIE TANZENDEN BIS ZUM / SIEDEPUNKT WASSER«. Wie in keinem anderen der frühen Gedichte wird dabei die Überwältigung und die Ohmacht angesichts der grausamen ›Bildsplitter‹ ins Gedicht geholt: »bei sichtung der / aktenlagen erzwungene unterbrechung«. Zugleich aber werden inszenierte Kommentare von Überlebenden ins Gedicht montiert, die die Abwehrgeste, welche die Poetik des ›splitters‹ in diesem Fall umso radikaler herausfordert, reflexiv ins Gedicht hineinnehmen und damit zugleich zu verhindern suchen: »›sehen sie sich das bitte an‹«, »›wenden sie / sich nicht ab‹«, »›wir haben das müssen / ansehn‹«.
An jenem Gegenstand, der ohnehin affektiv hoch besetzt ist, an der nationalsozialistischen Völkervernichtung wird hier explizit, was als intendierte Rezipientenreaktion zur wirkungs‐
ästhetischen Komponente der Poetik des ›splitters‹ gehört. Dass diese Rezeptionssituation in
»leidenfrost. quellenlage« um die präsentierten ›Bildsplitter‹ herum aufgebaut wird, kann da‐
bei als Strategie der leserlenkenden Vorbehaltsvermeidung gedeutet werden: Im Ausspruch der Überlebenden »›wir haben das müssen / ansehn‹« legitimiert sich ein Darstellungsver‐
fahren, das dem Rezipienten noch die Vorstellung des »geröstete[n] schreien[s]« abverlangt.
Verfahren der Vermittlung, Fortsetzung Gerade angesichts der im Entstehungskontext laufenden Debatte über das Verbleiben und damit die Geschichte des Täters Mengele setzt »leidenfrost. quellenlage« auf die Verstörung, und das nicht nur, indem es den Blick wieder auf das Schicksal der Opfer richtet – und damit vom Aufmerksamkeitszentrum des Diskurs abweicht –, sondern vor allem, indem es den Leser zur erneuten Wahrnehmung der in aller Drastik und Grausamkeit dargestellten natio‐
nalsozialistischen Gewaltverbrechen auffordert. Voraussetzung für diese erneute Wahrneh‐
mung, in deren Vollzug möglich wird, was hier als Entautomatisierung der Geschichtswahr‐
nehmung bezeichnet wurde, ist, dass das historische Fragment, die Einzelszene, aus den konventionalisierten Sinnbildungsmustern herausgelöst wird, plötzlich nicht mehr eingeord‐
net werden kann und gerade deshalb umso stärker wirkt: Reaktion, auch Widerspruch herausfordert, jedenfalls Anlass gibt, sich nicht auf einen vorgefertigten Sinn zu verlassen, sondern selbst eine durchaus affektbedingte Haltung zu äußern.
Dieser, so jedenfalls meine Hypothese, intendierten Wirkung arbeitet nun auch das zu, was oben als, zweitens, unmittelbare Konfrontation mit dem historischen Geschehen bezeichnet wurde. Die Unmittelbarkeit ergibt sich dabei in erster Linie durch zwei Vermittlungstech‐
Dieser, so jedenfalls meine Hypothese, intendierten Wirkung arbeitet nun auch das zu, was oben als, zweitens, unmittelbare Konfrontation mit dem historischen Geschehen bezeichnet wurde. Die Unmittelbarkeit ergibt sich dabei in erster Linie durch zwei Vermittlungstech‐