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Die frühe Geschichtslyrik. Tendenzen und immanente Poetik

II.  Die Genese des Geschichtslyrikers aus der Zeitgenossenschaft

4.  Die frühe Geschichtslyrik. Tendenzen und immanente Poetik

Zeitgenössische Zeitzeugen Die Figur, die in »di zerstörtn. ein gesang« die Relativierung der am Wir vorgeführten Sprech‐

weise über den Ersten Weltkrieg leistet, das individualisierte Ich des vierten Abschnitts also: 

Es ist Klings Großvater nachempfunden, auch wenn das dem Text selbst nicht abzulesen, es  allenfalls  erahnbar  ist.93  Erst  der  Leser  von  Klings  letztem  Band  wird  dieses  Wissen  parat  haben: »[W]ar es nicht mein Großvater«, heißt es dort im Abschnitt »Bakchische Epiphanien  IV« des Essays »Projekt ›Vorzeitbelebung‹«:  

  

war es nicht mein Großvater, auch er Jahrgang 1886, der als knapp Neunzigjähriger, nachts im  Halbschlaf,  auf  mnemosynischen  Schlachtfelder  die  Russen  singen  hörte,  bei  ihren  Wacht‐

feuern in Rumänien 1916 […].94 

Für die Interpretation des Gedichts mag das irrelevant sein; für die Konturen der frühen Ge‐

schichtslyrik Klings ist es bezeichnend, weil es verdeutlicht, wie eng Klings frühe Geschichts‐

lyrik  an  die  Figur  des  Zeitzeugen  geknüpft  ist:  und  damit  an  das,  was  die  Forschung  zum  kulturellen Gedächtnis als ›kommunikatives Gedächtnis‹ bezeichnet. Als dessen Träger gelten  nach  Assmann  und  Assmann  die  »Zeitzeugen  einer  Erinnerungsgemeinschaft«,  als  dessen 

93 inem Kommentar zum Gedicht diese Identifizierung vorgenommen, 

S. 195. 

   So hat jedenfalls Peter Waterhouse in se vgl. Waterhouse: Die Geheimnislosigkeit, 

94   Kling: Projekt »Vorzeitbelebung«, S. 77f.  

Inhalt  die  »Geschichtserfahrungen  im  Rahmen  indiv[idueller]  Biographien«95.  Derartige  Ge‐

schichtserfahrungen  sind  die  historische  Substanz  aller  im  Zurückliegenden  behandelten  Gedichte. Dabei ist die Voraussetzung der geschichtskulturellen Handlungen, die die Gedichte  vollziehen, nicht zuletzt das in »zivildienst. lazarettkopf« gleich zu Beginn thematisierte ›Vor‐

beisterben‹ der Zeitzeugen. Gegen dieses ›Vorbeisterben‹, das pointiert inszeniert wird in der  Konfrontation  von  hedonistischer,  auf  die  Gegenwart  und  den  drogenberauschten,  eksta‐

tischen  Moment  konzentrierter  Subkultur  und  der  Heterotopie  des  Altenheims,  wie  sie  das  Gedicht »Ratinger Hof, zb 2« vornimmt –; gegen  dieses ›Vorbeisterben‹ stellen die Gedichte  die  Handlung  des  Bewahrens  jener  an  die  Existenz  der  Zeitzeugen  gebundenen  Spuren  der  Geschichte,  die  verzeichnet,  die,  so  in  »zivildienst.  lazarettkopf«,  katalogisiert  werden  und  dabei in das schriftliche Archiv der Kultur eingehen.  

Zu  den  biographischen  Legenden  des  Autors  Thomas  Kling,  die  gewiss  immer  auch  Insze‐

nierungscharakter  haben,  gehört  nun,  dass  die  Zeitzeugen  aus  dem  biographischen  Umfeld  des Autors kommen. Dies betrifft nicht nur das familiäre Umfeld in Form seines Großvaters,  seiner Großmutter und, in »schlachtenmaler: halber kirschkuchn«, auch seiner Mutter. 1982  und 83 absolvierte Kling seinen Zivildienst in einem Pflegeheim.96 Seine »aus den achtziger  Jahren  stammenden  Gespräche  mit  den  damals  85jährigen  Männern  und  Frauen,  die  den  Ersten Weltkrieg erlebt hatten«97, erklärt er 2000 in einem Interview, waren eine Material‐

grundlage für das Langgedicht »Der Erste Weltkrieg« von 1999, waren es wohl schon für die  soeben  untersuchten  Gedichte.  Dieser  biographische  Hintergrund  der  Gedichtentstehung  spielt dabei für die schließlich publizierten Produkte nur eine geringe Rolle. Was jedoch sehr  wohl eine Rolle spielt, ist die Tatsache, dass die Gedichte ihren Zugang zur Geschichte immer  wieder  über  die  Figur  des  Zeitzeugen  suchen  und  finden.  Dabei  erscheint  der  Zeitzeuge  gerade noch als Zeitgenosse. In diesem Sinne fügen sich auch Klings frühe Geschichtsgedichte  in  das  übergreifende  Paradigma  der  frühen  Kling’schen  Lyrik,  nämlich  die  Zeitgenossen‐

schaft, nur dass eben aus dieser Zeitgenossenschaft heraus der Blick zunehmend das fokus‐

siert, was innerhalb der gegenwärtigen Lebenswelten noch an lebendiger Geschichte präsent  ist.  

95   Assmann / Assmann: Das Gestern im Heute, S. 120.  

96   In Thomas Kling: Sprachinstallation 1. In: I, S. 9‐13, hier: S. 12 berichtet Kling: »Wien, Januar `83. Ich hatte  drei Wochen meines Zivildiensturlaubs in Apulien verbracht.« 

97   Lippenlesen, Ohrenbelichtung. Hans Jürgen Balmes im Gespräch mit Thomas Kling (Januar 2000). In: Bs, S. 

229‐244, hier: S. 229. 

Paradigmen der Themenwahl:      

d iegs

Geschichte als Schlachtfel  und die relative Dominanz des Ersten Weltkr   In  dieser  Ausrichtung  zumindest  teilweise  begründet  ist  auch  der  thematische  Fokus  der  frühen Gedichte, die sich nahezu ausschließlich solcher geschichtlichen Ereignisse annehmen,  die  innerhalb  des  möglichen  Erfahrungshorizonts  der  gerade  noch  lebenden  Zeitzeugen  zu  verorten  sind.  Nun  bezeichnet  dieser  Raum  möglicher  Erfahrbarkeit  zwar  die  Grenzen  des  Thematisierbaren, innerhalb dieser Grenzen finden jedoch noch einmal Selektionen statt, die  auf  die  Spezifik  der  Kling’schen  Geschichtswahrnehmung  schließen  lassen.  So  wird  zum  Beispiel die  gesamte Nachkriegszeit im Grunde  nicht thematisch, auch gibt es kein Gedicht,  das auf so etwas wie die ›gute Seite‹ der Geschichte blickt, auf glückliche Momente, Momente  des  Fortschritts  etwa.  Stattdessen  dominiert  erstens  der  Blick  auf  die  Geschichte  als  Schlachtfeld, und das heißt vor allem: auf die beiden großen Kriege der ersten Jahrhundert‐

hälfte.  Zweitens  fällt  auf,  dass  –  im  Vergleich  mit  den  Konventionen  der  Geschichtskultur  –  dem Ersten Weltkrieg eine relative Dominanz gegenüber dem Zweiten Weltkrieg zukommt. 

Auf das erste Selektionsparadigma sei kurz, auf das zweite etwas länger eingegangen.  

Klings  Geschichtsgedichte  der  späten  achtziger  und  frühen  neunziger  Jahre,  und  nicht  nur  diese, zeigen Geschichte als ein umfassendes Gewaltgeschehen, das den Menschen, wie in »di  zerstörtn. ein gesang«, zurückwirft auf seine Kreatürlichkeit und ihn selbst da, wo er physisch  unversehrt  bleibt,  psychisch  zeichnet.  Die  Konstanz  dieser  Perspektive  auf  das  Historische  wirft  nun  (dieser  Punkt  ist  oben  nicht  ausdiskutiert  worden)98  die  Frage  auf,  ob  sich  hier  nicht doch ein der Geschichte zugeschriebener metahistorischer Sinn ausmachen lässt. Zwar  mangelt  es  dem  einzelnen  historischen  Ereignis  in  den  frühen  Gedichten  an  Sinnhaftigkeit,  jedenfalls dann, wenn man darunter – mit Rüsen – eine Deutung des Ereignisses einschließ‐

lich  daraus  resultierender  Handlungsorientierung  versteht;  zugleich  könnten  jedoch  zahl‐

reiche solcher sinnlosen Ereignisse, in der Zusammenschau, ein Geschichtskonzept der insge‐

samt sinnlosen Geschichte anschaulich werden lassen. Aber auch dies scheint angesichts der  frühen Lyrik Klings zu hoch gegriffen, beziehungsweise: es scheint so, legt man die Gedichte  zugrunde,  dass  es  ein  übergreifendes  Geschichtskonzept  nicht  gibt,  jedenfalls  finden  sich,  unabhängig  von  den  historischen  Einzelheiten,  keine  Aussagen,  keine  Hinweise,  die  eine  grundsätzliche Reflexion über Sinn oder eben Unsinn der ›Geschichte überhaupt‹ nahelegen; 

erst mit nacht. sicht. gerät. wird sich das ändern, wie im III. Kapitel nachzulesen ist.  

Nun  mag  die  spezifische  Themenselektion  der  frühen  Geschichtslyrik  nicht  im  diskutierten  Sinne  durch  geschichtsphilosophische  Hintergrundannahmen  erklärbar  sein;  die  in  ihr  sich  manifestierende  Eigenart  der  Kling’schen  Geschichtssicht  ist  dennoch  signifikant,  und  zwar  zunächst  schlicht  als  Eigenart:  als  Idiosynkrasie  eines  Einzelnen,  der  Geschichte  in  erster 

98   Siehe dieses Kapitel, S. 107.  

Linie als Bewegung vor allem des Untergangs, der Versehrung, des Sterbens und Tötens be‐

greift. In diesem Begreifen mag man nun die idiosynkratische Perspektive Klings zugleich ge‐

prägt sehen durch eine weiterreichende, allgemeinere Eigenart der Kling umgebenden, bun‐

desdeutschen  Geschichtskultur,  deren  spezifische  Perspektive  auf  die  Geschichte  des  20. 

Jahrhunderts  nicht  zuletzt  eine  Geschichte  der  Zerstörung  zeigt.  Aber  auch  diese  zögernde  Identifikation zeigt, in einem zweiten Schritt, wiederum vor allem Differenzen auf. Denn wäh‐

rend sich die ›negative Erinnerung‹99 der bundesdeutschen Geschichtskultur wesentlich auf  den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg bezieht, steht bei Kling der Erste Weltkrieg im Vor‐

dergrund, ohne dass die genannten Aspekte allerdings ganz ausgeblendet werden.100 

Die  Verbindung  der  Kling’schen  Autorschaft  mit  dem  Ersten  Weltkrieg  reicht  über  dessen  Thematisierung  in  Gedichten  hinaus,  ist  tiefgehender.  Zur  biographischen  Legende  des  Au‐

tors Thomas Kling gehört der Großvater, gehört der ›Lehrmeister Geschichte‹, der, so erzählt  Kling, »die Schlachterei des Ersten Weltkriegs überstanden«101 hatte und der den Autor darü‐

ber  hinaus  mit  der Menschheitsdämmerung,  jener  »Anthologie  von  Toten  des  1.  Welt‐

kriegs«102 vertraut machte. Glaubt man dieser Legende, dann nahm der Erste Weltkrieg und  damit  das  Schicksal  der  »Generation  Verdun«  in  der  Biographie  Klings  von  Beginn  an  eine  prägende Rolle ein, war das historische Bezugsereignis seiner ersten Kontakte mit Literatur  und  Geschichte.  Diese  besondere  Verbindung  dient  Kling  nun  auch  dazu,  das  Profil  des  eigenen  Geschichtsinteresses  zu  schärfen.  So  bemerkt  er  in  seinem  Essay  »Zu  den  deutsch‐

sprachigen Avantgarden« das »generell zu beobachtende Desinteresse an der ›expressionis‐

tischen‹ Dichtung« und begründet dies zum einen mit dem »pappig‐zuckerwattige[n] Nachge‐

schmack«, den Teile der expressionistischen Lyrik hinterlassen, zum anderen mit »der mas‐

siven Tatsache, daß gerade in Deutschland die Epoche des Ersten Weltkriegs fast gänzlich aus  dem  Blickfeld  der  jetzt  Lebenden  verschwunden  ist«103.  Angesichts  der  Tatsache,  dass  dies  ein Lyriker sagt, der sich bereits ›massiv‹ mit dem Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt hat,  ist  das  auch  eine  Strategie  der  Exklusivierung,  aber  dazu  gleich  mehr.  Denn  zugleich  steht  Kling mit dieser geschichtskulturellen Diagnose keineswegs allein. 

Mit  den  Mitteln  der  empirischen  Sozialforschung  hat  Felix  Philipp  Lutz  das  Geschichtsbe‐

wusstsein  der  Deutschen  um  1991  untersucht  und  damit  die  sicher  allgemein  verbreitete  Überzeugung  gestützt,  dass  der  »Nationalsozialismus  das  dominierende  Thema  bei  der  Be‐

99  schichtspolitik. 

280. 

  Vgl. dazu Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Ge München 2006, v.a. das letzte Kapitel »Schluss: Der lange Schatten der Vergangenheit«, S. 272‐

100   Zum  Holocaust  vgl.  das  unten  kurz  kommentierte Gedichte  »leidenfrost.  quellenlage«  aus geschmacksver­

stärker.  

101   Kling: Zu den deutschsprachigen Avantgarden, S. 11. 

102   Sprachinstallation Lyon. In: Ordner M11, 2. Blatt.  

103   Kling: Zu den deutschsprachigen Avantgarden, S. 14.  

schäftigung  mit  der  Vergangenheit  ist«104;  und  noch  im  Jahr  2003  spricht  Karlheinz  Bohrer  von  der  »Nichtexistenz  eines  Verhältnisses  zur  geschichtlichen  Ferne,  das  heißt  zur  deut‐

schen  Geschichte  jenseits  des  Bezugsereignisses  Nationalsozialismus«,  wobei  es  sich  bei  dieser  geschichtskulturellen  Konfiguration,  seiner  Meinung  nach,  um  »eine  Art  mentales  Apriori, eine zweite Haut bundesrepublikanischen Bewußtseins«105 handelt.   

In  der  Geschichtswissenschaft  hatte  der  Erste  Weltkrieg  freilich  bereits  spätestens  mit  der  Fischer‐Kontroverse  erhöhte  Aufmerksamkeit  gewonnen.  1979  wurde  die  zentrale  Bedeu‐

tung  des  Ersten  Weltkriegs  dann  von  Georg  F.  Kennan  auf  die  feuilletontauglichen  Formel  vom  Ersten  Weltkrieg  als  »the  great  seminal  catastrophe  of  this  century«106,  als  ›Urkata‐

strophe‹ eines später so genannten »kurzen 20. Jahrhunderts« (Eric Hobsbawm) gebracht,107  zugleich  »suchte  die  Forschung  seit  den  70er  und  verstärkt  in  den  80er  Jahren  […]  [der] 

Widerspiegelung [des Krieges] im Kriegsalltag nachzugehen«108. Zwei Mosaiksteine in dieser  Aufbereitung sind dabei auch eine Monographie von Hermann Korte zum Krieg in der Lyrik  des Expressionismus109 von 1981 sowie eine 1982 von Thomas Anz und Joseph Vogel verant‐

wortete Anthologie Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914­18110. Ob Kling diese De‐

batten  und  Publikationen  zur  Kenntnis  genommen  hat,  konnte  ich  nicht  feststellen,  dass  es  jedenfalls  in  seiner  Bibliothek  einen  Sammlungsschwerpunkt  zum  Ersten  Weltkrieg  gibt,  wurde im I. Kapitel dokumentiert. Ungeachtet dieser Fragen nach dem konkreten Wissen des  Autors  ist  allerdings  festzuhalten,  dass  Kling  mit  seiner  Thematisierung  des  Ersten  Welt‐

kriegs  zwar  gegen  die  auch  von  ihm  selbst  diagnostizierten  Routinen  der  öffentlichen  Ge‐

schichtskultur  arbeitet,  zugleich  aber  wissenschaftlichen  Aufmerksamkeitsverschiebungen  entspricht. 

Auf den wissenschaftlichen Diskurs geht Kling in seinen Kommentaren zum Ersten Weltkrieg  jedoch nicht ein. Was er vielmehr betont, das ist die fehlende öffentliche Aufmerksamkeit und  damit in eins, implizit, die Eigenartigkeit und Besonderheit der eigenen Geschichtswahrneh‐

mung.  Insofern  lässt  sich  die  wiederholte  Thematisierung  des  Ersten  Weltkriegs  auch,  wie 

104  Felix Philipp Lutz: Art. Geschichtsbewußtsein. In: Handbuch zur deutschen Einheit. 1949‐1989‐1999. Hg. von  Werner  Weidenfeld  und  Karl‐Rudolf  Korte.  Frankfurt  /  New  York  1999,  S.  392‐402,  hier:  S.  394.  Vgl.  auch    ders.:  Das  Geschichtsbewußtsein  der  Deutschen.  Grundlagen  der  politischen  Kultur  in  Ost  und  West.  Köln 2000.  

105   Karl‐Heinz  Bohrer:  Erinnerungslosigkeit.  In:  ders.:  Ekstasen  der  Zeit.  Augenblick,  Gegenwart,  Erinnerung,  München / Wien 2003, S. 10‐29, hier: S. 10. 

106   Dieses geflügelte Wort nach George F. Kennan: Bismarcks europäisches System der Auflösung. Frankfurt a.M. 

/ Berlin 1981, S. 12. 

107   Vgl. den Forschungsbericht von Aribert Reimann: Der Erste Weltkrieg – Urkatastrophe oder Katalysator? In: 

Aus Politik und Zeitgeschichte. 29/30 (2004), S. 30‐38. 

108   Bruno Thoß: Der Erste Weltkrieg als Ereignis und Erlebnis. Paradigmenwechsel in der westdeutschen Welt‐

kriegsforschung seit der Fischer‐Kontroverse. In: Der Erste Weltkrieg. Wirkung – Wahrnehmung – Analyse. 

i  

Im Auftrag des Militärgesch chtlichen Forschungsamtes hg. von Wolfgang Michalka. Weyarn 1997, S. 1012‐

1043, hier: S. 1030.  

109   Hermann  Korte:  Der  Krieg  in  der  Lyrik  des  Expressionismus.  Studien  zur  Evolution  eines  literarischen  Themas. Bonn 1981.  

110   Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914‐18. Hg. von Thomas Anz und Joseph Vogl. München 1982.  

angedeutet, als Strategie der Positionierung verstehen: Die exklusive Themenwahl hebt Kling  ab vom konventionellen Geschichtsfokus, lässt ihn als jemanden erscheinen, der dem »menta‐

len Apriori« der bundesrepublikanischen Geschichtskultur nicht unterliegt. Die thematische  Ausrichtung  der  frühen  Geschichtsgedichte  resultiert  so  auch  aus  einer  Praxis  der  Gegen‐

erinnerung, die das festhält, was ansonsten »fast gänzlich aus dem Blickfeld« geraten ist. In 

»Ratinger Hof, zb 2« ebenso wie in »zivildienst. lazarettkopf« wird diese Besonderheit der Ge‐

schichtswahrnehmung  auch  textintern  inszeniert:  Während  die  Vermittlungsinstanz  in  Ersterem das Nachtlokal‐Geschehen und damit die Perspektive der dort Tanzenden transzen‐

dieren  kann  und  also  fähig  ist,  nicht  nur  die  zeitgenössische  Subkultur,  sondern  auch  den 

»verdunblick« in der Heterotopie »altnkrnkheim« wahrzunehmen, wird in Letzterem gleich  eingangs die fehlende Aufmerksamkeit für diejenigen, die »an uns vorbeisterben[]«, beklagt –  am Gedicht jedoch sterben die Zeitzeugen nicht vorbei.  

Verfahren der Vermittlung  Mindestens ebenso wichtig wie die Frage, welche historischen Themen vermittelt werden, ist  für  die  frühe  Geschichtslyrik  Klings  –  spätestens  mit  dem geschmacksverstärker‐Gedicht 

»schlachtenmaler: halber kirschkuchn« – jedoch die Frage, auf welche Weise diese Themen  vermittelt werden. »schlachtenmaler: halber kirschkuchn« nimmt dabei insofern eine heraus‐

gehobene  Stellung  ein,  als  es  zentrale  Aspekte  der  von  Kling  auch  späterhin  (wenn  auch  in  anderen poetologischen Kontexten) verwendeten Formatierung des Historischen im Akt der  lyrischen  Vermittlung  vorführt  und,  in  Abgrenzung  vom  narrativen  Format  der  Anekdote,  metapoetisch reflektiert. Integrieren lassen sich die in diesem Zusammenhang zu vermerken‐

den Aspekte unter einem wirkungsästhetisch verstandenen Konzept der Entautomatisierung.  

Was  sich  anhand  von  »schlachtenmaler:  halber  kirschkuchn«  als  Verfahren  der  »geschichte  raus‐ / gesplittert« rekonstruieren lässt, steht in Abgrenzung zur narrativen Geschichtsver‐

mittlung  qua  Anekdote,  an  der  sowohl  die  temporale  Distanzierung  durch  das  epische  Prä‐

teritum  als  auch  die  emotionale  Distanzierung  durch  eine  das  Geschehen  überformende  Teleologie  der  Pointe  kritisiert  wird.  Dem  anekdotischen  Format  der  Vermittlung  histo‐

rischen  Geschehens  wird  nun  der  ›Geschichtssplitter‹  gegenübergestellt.  Dieses  Verfahren  zeichnet  sich  zum  einen  durch  die  Präsentation  narrativ  nicht  eingebundener,  fragment‐

artiger  Einzelszenen  historischen  Inhalts  aus,  zum  anderen  durch  eine,  erstens,  auf  Provo‐

kation und, zweitens, unmittelbare Konfrontation zielende Begegnung zwischen historischem  Material und Rezipienten. Dabei führt die fragmentarische Präsentation dazu, dass die Einzel‐

szenen  ohne  narrative  Einbindung  und  Deutung  vermittelt  werden.  Auf  dieser  syntagma‐

tischen Eigenart der Präsentation von Geschehen aufbauend, macht dann die spezifische Ge‐

staltung  der  einzelnen  ›Geschichtssplitter‹  deren  potentiell  entautomatisierende  Wirkung  möglich.  

Dazu trägt, wie eben vermerkt, erstens die provokative Inszenierung des Dargestellten bei: So  bedient  sich  Kling  einer  drastischen  Sprache,  stellt  Grausamkeit  explizit  dar.  Zwei  bisher  nicht beachtete Geschichtsgedichte zeigen dies in aller Schärfe; an dieser Stelle sei nur eines  von ihnen kurz kommentiert.111  

Seitenblick auf »leidenfrost. quellenlage«

In »leidenfrost. quellenlage«112, auch dies ein Gedicht innerhalb der geschichtslyrischen Grup‐

pe in geschmacksverstärker, erfährt das wirkungsästhetische Konzept einer provozierenden  Geschichtsdarstellung  seine  radikalste,  auch  ernsthafteste  Ausformung.  »leidenfrost«:  das  ruft dabei zunächst kulturelles Wissen auf. Der so genannte Leidenfrost‐Effekt bezeichnet das  physikalische Phänomen, das dazu führt, dass Wassertropfen auf einer heißen Fläche, sobald  sie den Siedepunkt erreicht haben, zu ›tanzen‹ beginnen. Aber Leidenfrost ist im Gedicht vor  allem »dr. leidenfrost«, ist Joseph Mengele, KZ‐Arzt in Auschwitz. Entstanden – so eine Notiz  auf  einer  maschinenschriftlichen  Fassung  –  vom  »5.6.  bis  [zum]  9.6.  1985«113  steht  das  Gedicht im Kontext einer publizistischen Welle zum Verbleiben Joseph Mengeles, die in der  ersten Hälfte des Jahres 1985 von der Zeit114 über den Spiegel115 und eine TV‐Reportage116 bis   

zu einer Serie in der Bunten117 reicht. 

Klings  Gedicht  thematisiert  den  Täter  jedoch  nahezu  gar  nicht.  Nur  einmal  kurz  wird  der  Name,  verknüpft  mit  einem  intermedialen  Marker  (»DAS  UNGELÖSCHTE /  MENGELE  VIDEO«),  genannt;  vor  allem  aber  bietet  das  Gedicht  kurze,  wiederum  im  Partizipialstil  verfasste 

›Bildsplitter‹  dar,  die  Szenen  der  nationalsozialistischen  Vernichtungsmaschinerie  aufrufen: 

»traumatisch / über die rampe  gehumpelt, nacht für /  nacht«, »die  zersprengten  öfen«, »in  sichtweite / schenkelhoch aufgeworfene zahn / prothesen«, »vorwärtsratternde / waggons«. 

Zum  leitmotivisch  eingeflochtenen  Bild  für  die  Massenvernichtung  wird  dabei  der  Leiden‐

111   Das  andere  Gedicht  ist  »mann  aus  reit  (rheinland)«  (in:  b,  S.  157  [=  GG,  S.  317]).  Vgl.  dazu  Marcel  Beyer: 

Thomas Kling: Haltung, v.a. S. 70f. und S. 76ff.). Der Mann aus Reit ist hier Joseph Goebbels, den das Gedicht  bei  einer  Rede  vorstellt;  ein  antisemitischer  Ausspruch  Goebbels  wird  eingesprengt,  dann  Goebbels  Gestik  beschrieben  und  ein  Kommentar  in  Kapitälchen  ins  Gedicht  geschnitten:  »SEINE  AUSSCHWITZGRAZIE:  EIN  PROPAGANDA / INSTRUMENT«. Das Gedicht schließt mit: »draht, gas und // 2 / gebisse.« Ein solches Gedicht setzt  auf den Einspruch und damit auf eine Anschlusskommunikation, die direkt in Fragen der Schicklichkeit, mehr  barkeit  führt  –  Fragen  die  das  Gedicht  selbst,  auch  wenn  seine Haltung  letztlich  t, keineswegs entscheidet, sondern lediglich aufwirft. 

noch  der  moralischen  Trag wohl politisch korrekt bleib

112   In: g, S. 52f. [= GG, S. 112f.]. 

113   Ms. »LEIDENFROST. QUELLENLAGE«. In: Ordner M15, 1. Blatt. 

114   Vgl. etwa Artikel vom 15.2.1985 in: Die Zeit 8 (1985), und vom 14.6.1985 in: Die Zeit 25 (1985).  

115   Vgl. vor allem die Titel‐Story von Erich Wiedemann: »Sechs Millionen, da kann ich nur lachen«. In: Der Spiegel  17 (1985).   

116   Gesucht wird ... Josef Mengele. TV‐Sendung von Felix Kuballa, Mitarbeit: Hermann G. Abmayr, René Werner  Gallße. WDR 1985. EA: 27.6.1985, ARD.   

117   Vgl. Die Bunte vom 20.6. , 27.6., 4.7., 11.7. und 18.7.1985.  

frost‐Effekt, werden die verbrennenden Menschen: »ihre rotglühenden gesänge«, »gedünnter  schrei, genicke; / die faltigen kinder, ihre gerösteten / rasendschnell alternden schreie«, »DIE  TANZENDEN  BIS  ZUM /  SIEDEPUNKT  WASSER«.  Wie  in  keinem  anderen  der  frühen  Gedichte  wird  dabei die Überwältigung und die Ohmacht angesichts der grausamen ›Bildsplitter‹ ins Gedicht  geholt:  »bei  sichtung  der  /  aktenlagen  erzwungene  unterbrechung«.  Zugleich  aber  werden  inszenierte  Kommentare  von  Überlebenden  ins  Gedicht  montiert,  die  die  Abwehrgeste,  welche  die  Poetik  des  ›splitters‹  in  diesem  Fall  umso  radikaler  herausfordert,  reflexiv  ins  Gedicht  hineinnehmen  und  damit  zugleich  zu  verhindern  suchen:  »›sehen  sie  sich  das  bitte  an‹«, »›wenden sie / sich nicht ab‹«, »›wir haben das müssen / ansehn‹«.  

An  jenem  Gegenstand,  der  ohnehin  affektiv  hoch  besetzt  ist,  an  der  nationalsozialistischen  Völkervernichtung wird hier explizit, was als intendierte Rezipientenreaktion zur wirkungs‐

ästhetischen Komponente der Poetik des ›splitters‹ gehört. Dass diese Rezeptionssituation in 

»leidenfrost. quellenlage« um die präsentierten ›Bildsplitter‹ herum aufgebaut wird, kann da‐

bei als Strategie der leserlenkenden Vorbehaltsvermeidung gedeutet werden: Im Ausspruch  der  Überlebenden  »›wir  haben  das  müssen  /  ansehn‹«  legitimiert  sich  ein  Darstellungsver‐

fahren, das dem Rezipienten noch die Vorstellung des »geröstete[n] schreien[s]« abverlangt.  

Verfahren der Vermittlung, Fortsetzung  Gerade  angesichts  der  im  Entstehungskontext  laufenden  Debatte  über  das  Verbleiben  und  damit die Geschichte des Täters Mengele setzt »leidenfrost. quellenlage« auf die Verstörung,  und das nicht nur, indem es den Blick wieder auf das Schicksal der Opfer richtet – und damit  vom  Aufmerksamkeitszentrum  des  Diskurs  abweicht  –,  sondern  vor  allem,  indem  es  den  Leser zur erneuten Wahrnehmung der in aller Drastik und Grausamkeit dargestellten natio‐

nalsozialistischen  Gewaltverbrechen  auffordert.  Voraussetzung  für  diese  erneute  Wahrneh‐

mung, in deren Vollzug möglich wird, was hier als Entautomatisierung der Geschichtswahr‐

nehmung  bezeichnet  wurde,  ist,  dass  das  historische  Fragment,  die  Einzelszene,  aus  den  konventionalisierten Sinnbildungsmustern herausgelöst wird, plötzlich nicht mehr eingeord‐

net  werden  kann  und  gerade  deshalb  umso  stärker  wirkt:  Reaktion,  auch  Widerspruch  herausfordert,  jedenfalls  Anlass  gibt,  sich  nicht  auf  einen  vorgefertigten  Sinn  zu  verlassen,  sondern selbst eine durchaus affektbedingte Haltung zu äußern.  

Dieser, so jedenfalls meine Hypothese, intendierten Wirkung arbeitet nun auch das zu, was  oben als, zweitens, unmittelbare Konfrontation mit dem historischen Geschehen bezeichnet  wurde.  Die  Unmittelbarkeit  ergibt  sich  dabei  in  erster  Linie  durch  zwei  Vermittlungstech‐

Dieser, so jedenfalls meine Hypothese, intendierten Wirkung arbeitet nun auch das zu, was  oben als, zweitens, unmittelbare Konfrontation mit dem historischen Geschehen bezeichnet  wurde.  Die  Unmittelbarkeit  ergibt  sich  dabei  in  erster  Linie  durch  zwei  Vermittlungstech‐