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Die Fälle Sade und Sacher-Masoch

Im Dokument Funny games (Seite 46-200)

[Sade] formuliert eine Art Erklärung der erotischen Menschenrechte, mit folgender Maxime [...]: ‚Was tue ich denn für ein Übel, [...] wenn ich einem schönen Geschöpf begegne und sage: Leih mir den Teil deines Körpers, der mir für einen Augenblick Befriedigung schaffen kann, und erfreue dich, wenn du Lust hast, an dem Teil meines Körpers, der dir Genuß bringen kann?’

Maurice Blanchot

Falls Sie eine 2 signalisieren möchten, das Double, das Dublikat, das zweite Ich, doppelt heimzahlen, etc., dann müssen Sie in meiner Zelle ein schönes Geschöpf [...] in der Pose der Farnesischen Venus Kallipyga in Stellung gehen lassen – just dort, ihn [ihren Po (Anmerkung S. P.)] prächtig ausschwenkend. [...] Beim Eintreten würde ich dem Souffleur oder dem Soufflierten sagen. Was soll denn diese Schamlosigkeit? (nur der Form halber, versteht sich). Und der Souffleur würde antworten:

Monsieur, das ist ein Duplikat.

Donatien Alphonse François de Sade

Sades Maschinen(t)räume – Exposition113

Paris, Bastille, 22. Oktober bis 27. November 1785. Donatien Alphonse François de Sade (1740–1814) sitzt einsam in seiner Gefängniszelle und beginnt an 36 aufeinanderfolgenden Tagen sein berüchtigtes Hauptwerk Die 120 Tage von Sodom zu verfassen, immer von sieben bis zehn Uhr abends. Er schreibt auf Grund von Papiermangel mikroskopisch klein, auch rückseitig und erhält zum Schluss einen aus losen Zetteln zusammengeklebten, zwölf Meter langen Streifen, den er aufgerollt in einem Holzetui verwahrt oder in einer Wandritze seiner Zelle versteckt. Diese Etui dient gleichzeitig als Dildo, mit dem er sich regelmäßig befriedigt (‚sodomiert’). Über die Anzahl und Dauer der Einführungen wird sorgfältig Buch geführt, ebenfalls über die Personen, an die er dabei denkt – unter anderen an seine geliebte Ehefrau. Diese

113 Teile der Exposition sind schon veröffentlicht: vgl. Pühler 2007 (b).

sich über sechs Jahre erstreckenden Onanie-Protokolle fasst er in seinem Almanach illusoire zusammen.114

„Sades Denken ist ein Gefängnisdiskurs. Er hat das Gefängnis als traumatische Kastration erlebt, als Beraubung freier Praxis des Begehrens. In der Einkerkerung bemächtigt sich das Denken des Einzigen, was ihm bleibt, des Körpers, und macht diesen zu seiner Funktion.“115

Sades literarische Ästhetik, seine Sex-,116 Zahlen- und Ordnungsmanie, hat sich nicht erst in der Isolation der Gefängnisse herausgebildet, hier hat sie jedoch ihre philosophisch-literarische Schärfe, ein existentielles Gewicht bekommen, das „seinen Anfängen als blasierter Pariser Lebemann noch fehlte[]“.117 Denn alles, was Laster, Ausschweifung und Böses bedeutet oder bedeuten könnte, „das böse Wissen“,118 hat seine Vorstellungskraft schon immer heftig erhitzt;119 Monster wie Gilles de Rais, die – wie er selbst sagt – „nur alle 1000 Jahre von der Natur erschaffen werden“, faszinieren ihn daher ungemein „und sind, wie ich einräume, recht schwierig zu verstehen“.120 Bereits 1772 ist Sade wegen Sodomie und Giftmischerei auf dem Scheiterhaufen in Aix-en-Provence in effigie – als Strohpuppe – verbrannt worden, die rechtzeitige Flucht ins Ausland rettet ihn zunächst vor der drakonischen Strafe.

114 Vgl. Zweifel und Pfister 2001, 16.

115 Böhme 1988; zitiert nach:

http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/archiv/volltexte/texte/natsub/sade.html.

116 Der Begriff Sex war, soweit ich weiß, im 18. Jahrhundert noch nicht gebräuchlich.

117 Vgl.Zweifel und Pfister 2001, 16, 20 und 23.

118 Böhme 1988, zitiert nach der Webpage a. a. O.

119 Mario Praz hat mehrere Zitate über das Böse, wie Sade es definiert, zusammengestellt; in Juliette heißt es u. a.: „Ich sehe das Böse ewig und überall in der Welt. Das Böse ist ein moralisches Wesen, das nicht erschaffen worden ist, ewig und unvergänglich; es bestand vor Beginn der Welt, es schuf das Ungeheuer, das eine so bizarre Welt hervorbringen konnte. Der Schöpfer des Alls ist das boshafteste, grausamste, fürchterlichste aller Wesen. Er wird also auch nach den Geschöpfen existieren, welche diese Welt bevölkern. Und in ihn werden sie alle zurückkehren, um andere, noch bösartigere Wesen hervorzubringen.“ Praz 1994, 104 f., Zitat von Sade.

120 Vgl. Sade 1995, 254 f., Fußnote 2, zitiert nach Zweifel und Pfister 2001, 16. Vgl. zu Gilles de Rais:

Reliquet 1990.

Seine mächtige Schwiegermutter, die Präsidentin von Montreuil, empfindet eine derartige Abscheu gegenüber seinem libertinen Tun und Denken, dass sie einen Polizeitrupp in sein provenzalisches Stammschloss Lacoste schickt, um Schriften aus seinem Studierzimmer konfiszieren und verbrennen zu lassen. Den Marquis packt die Angst, er lässt sich aber nicht einschüchtern. Er arbeitet akribisch weiter daran, einen experimentellen Kunstraum, ein Labor der Gewalt und des Exzesses zu entwerfen.

Albert Eulenburg redet von „Schreckenskammern“, „Raritätenkabinetten“ und „weit angelegten Museen“, in denen sich

„so ziemlich alle überhaupt denkbaren Spielarten sexueller Perversionen und Perversitäten in buntester Vereinigung und Durchmengung [...], [...] Abnormitäten und pathologischen Spezialitäten des Sexuallebens in Musterexemplaren und in zahllosen Variationen – allem Anschein nach sogar planmäßig, oder wenigstens mit einer gewissen absichts- und eindrucksvollen Steigerung – auf- und ausgestellt finden.“121

Dabei scheint es Sade nicht zu stören oder zu langweilen, dass er in seinen bis auf 6000 Seiten aufgeblähten Romanen im Grunde doch nur die immergleiche Orgie beschreibt. Trotzdem ist dies neu und unerhört, eine Leistung, der er sich voll bewusst ist und die bis heute ziemlich einzigartig dasteht. Denn wer – außer ihm – könnte schon allen Ernstes von sich behaupten, die Lücken und Leerstellen eines Weltwissens, einer Enzyklopädie, wie sie zu Sades Lebzeiten Denis Diderot und Jean le Rond d’Alembert herausgeben – mit der eigenen wollüstigen Phantasie anzureichern und dann noch den Anspruch auf Ganzheit zu erheben?122

121 Vgl. Eulenburg 2003 (1902/1911), 179 f.

122 „Ja, ich bin wirklich ein Libertin, ich gestehe es: ich habe alles ersonnen, was in dieser Gattung zu ersinnen ist, aber ich habe gewiss nicht alles getan, was ich ersonnen habe, und ich werde es sicher niemals tun. Ich bin ein Libertin, aber kein Verbrecher oder Mörder.“ (Sade 1972, 153; Brief vom 20.

Februar 1781.) Sades ‚Vollständigkeitstheorem’ geht auf die Zeichen der Klassik zurück: „In der repräsentationslogischen Epoche geht die Benennung der Dinge der Welt vonstatten, indem die reale Welt durch ein von der Bedeutung und vom Bewusstsein administriertes Zeichensystem gefiltert wird.

Alles, was durch diesen Filter fällt, wird fortan nicht mehr zur Welt gehören; was nicht benennbar und vorstellbar ist, ist fortan nicht mehr existent. [...] Ein solches Funktionsprinzip der Welterzeugung supponiert natürlich eine perfekte Verkennung der apriorischen, unbewussten Mechanismen.“ (Bitsch 2009, 139 f.) Auch wenn Sades Perversionen zahlreiche enzyklopädische Lücken ausfüllen, so operiert

Doch die Schwierigkeit liegt für Sade weniger darin, einen erotisch bzw.

grammatikalisch gesättigten (Sprach-)Körper zu schaffen,123 als Mittel und Wege zu finden, das explosive Gedankengut aus der Zelle, an den verhassten Zensoren vorbeizuschmuggeln. So operiert er stets mit einer Doppelbödigkeit, verwendet Geheimcodes und -tinte, versteckt Mitteilungen in Lebensmitteln, z. B. in einer Wurst, oder erfindet so raffinierte Dinge wie die Schrift gewordene „Zornesfalte“:

„Ein leider verschollener Brief an seine Frau, den man so falten kann, dass hinter der glatten Oberfläche das Palimpsest seiner heißen Leidenschaft sichtbar wird und sich die Worte zu einem neuen Sinn zusammensetzen.“124 – Laut Stefan Zweifel und Michael Pfister sind es gerade diese faszinierenden Briefe, die in der Aufarbeitung des Sadeschen Werkes bislang vernachlässigt wurden und die in den Archiven der Pariser Bibliothèque de l’Arsenal lagern. „[M]an muss die Originalmanuskripte als abstrakte Gemälde sehen, auf denen sich in immer neuen Verteilungen verschiedene Zonen gegeneinander verschieben: die schwarzen Flächen der Zensur, der weiße Zwischenraum rund um die Adresse, das regelmäßige Zeilenraster der Korrespondenten, das sich durch Sades Kommentare und seine seltsamen Zahlenkolonnen zu einem kompakten Schriftblock verdichtet“.125

Das architektonische Modell für den Sadeschen Raum bildet ein imaginäres Schloss, wie man es aus dem Märchen oder der gothic novel kennt. In den 120 Tage[n] ist dies das vom Dorf abgeschnittene und hoch über dem Tal liegende Schloss Silling im tiefen Schwarzwald. Nachdem sich die Libertins mit ihren Lustobjekten und DienerInnen während der Wintermonate hier eingeschlossen haben, lassen sie den einzigen Zugang, die Schlossbrücke, hinter sich zerstören. Diese Gemeinschaft ist dann nicht nur von der Außenwelt hermetisch abgeschnitten, sondern erzeugt gleichsam eine gesellschaftliche Autarkie mit einer festgelegten Ordnung, die sich in

sein Ganzheitsanspruch immer noch als Verkennung und lässt somit Löcher, die diesem Anspruch im Weg stehen. Sade hat einfach nur die Filterfunktion zur Generierung neuer Signifikanten optimiert bzw. erweitert. Hat er damit wirklich alles gesagt? Aus der heutigen psychoanalytischen bzw.

epistemologischen Perspektive ist dies eine Unmöglichkeit – eben der Bruch zwischen Welt und Erkenntnisobjekt – und darf somit angezweifelt werden.

123 Vgl. Zweifel und Pfister 2001, 28.

124 Ebd. 21.

125 Ebd. 17.

Stundenplänen, Essens- und Kleidungsvorschriften, einer eigenen Sprache, Moral etc.

ausdrückt.126 Zentraler Ort der Ausschweifung ist das Theater, in dem man sich täglich von fünf bis zehn Uhr abends einfindet. Vier Huren schildern dort während der vier Monate insgesamt 600 Perversionen, die sie selbst erlebt haben. Diese Erzählungen inspirieren zu sexuellen Handlungen, die die Libertins dann umgehend vor Ort (auf der Ottomane oder in angrenzendem Séparée) an ihren Lustobjekten ausführen. Es gibt noch den schönen Salon, dessen Fußboden eine große fleckige Matratze ist. Man läuft barfuss auf dieser Spielwiese, die schon in gewisser Weise das heutige Lounge-Interieur oder den chill-out-Bereich eines Clubs andeutet.127 Diese nahtlose Verbindung aus Bett, Boden und Bühne ist schon deswegen so bemerkenswert, weil sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den europäischen Theaterhäusern die Trennung zwischen Bühnen- und Publikumsraum vollzogen hat.128 Zudem ist dieser Salon, in dem jeder gleichzeitig Zuschauerin und Schauspielerin ist, mit Spiegeln und – wichtiger noch – allerlei Sextoys (Dildos, Ruten, Gleitmitteln) ausgestattet, die immer in Reichweite stehen und die der Lüstling wie in einer chirurgischen Operation anwendet.129

126 Vgl. Barthes 1986, 21 ff.

127 Ich denke hier – mit Fantasie – auch an Verner Pantons flauschig-psychedelische Visiona-68-Welten – Wohnen im Uterus sozusagen.

128 Vgl. Kalisch 2006, 131. „Diese Konstellation ist entscheidend: Die Ferndistanz, die früher durchbrochen werden konnte, wird durch den Bühnenrahmen befestigt, der Zuschauer wird stillgestellt, in dieser Matrix wandelt sich der handelnde zu einem empfangendem Theatergänger. Doch auch die Illusion, die jetzt mit anderen Mitteln erzielt wird, verändert ihren Charakter, es entsteht ein neues historisches Illusionsdispositiv: Der Bühnenvorgang, der jetzt ins Zentrum einer ungeteilten Aufmerksamkeit rückt, wird gleichsam ‚herangeholt’, als ob die Figuren in ihrem Beziehungsgewebe mikroskopiert würden. Der Ausschnitt wird kleiner, die Details werden vergrößert. [...] Die Illusion wird nach einem neuem Code, dem Natürlichkeitscode produziert. Insofern rahmt der Bühnenrahmen nicht einfach ein Bild, sondern eine Versuchsanordnung, die Figuren werden mikroskopiert, während an und mit ihnen experimentiert wird. [...] Das Theater veranstaltet die Vivisektion des neural man.“

Kalisch 2006, 132. (Elenore Kalisch bezieht sich hier nicht auf Sades imaginäres Spezialtheater, sondern schreibt allgemein über das Bühnendispositiv und dessen ‚mikroskopierende’ Wahrnehmung im 18. Jahrhundert.)

129 Vgl. Barthes 1986, 161.

Sades Maschinen

Zu Sades Quälinstrumenten gehört neben einer Auspeitschmaschine, einer Vergewaltigungsmaschine, einer Lachmaschine (die der Schadenfreude dient und durch Schmerzeinwirkung sardonisches Lachen erzeugt),130 einer Folterfernsteuerung

„I“,131 auch eine spezielle Vorrichtung namens Röhrenhaube. Dieses Wunschmedium, das man wie eine Mütze über den Kopf des Opfers stülpt, ermöglicht es, die damit verursachten Schreie zu verstärken und sogar in einen anderen Raum zu übertragen – ein Vorläufer des Radios sozusagen, auf jeden Fall ein Geräuschfetisch.132 Auch die Orgie funktioniert wie eine Maschine, ein offener, architektonisch ausgewogener Apparat, in dem sich die einzelnen Personen quasi von selbst zusammenschließen.

Dabei verrenken sich die Körperteile zu symbiotischer Dichte, werden alle Körperöffnungen gleichzeitig bearbeitet und ausgefüllt, um höchste Effizienz zu garantieren. Diese Penetrationsmechanik duldet keine Einzelgänger, keiner muss draußen bleiben. Einmal in Gang, läuft sie wie geschmiert („in konvulsivischen Bewegungen der Teilnehmer“)133 und – von einigen Schmerzensschreien abgesehen – relativ geräuschlos.134 Die Sadesche Gruppe ist ein gut ausgeleuchteter Skulpturgegenstand, ein tableau vivant, wie Roland Barthes es definiert, in das man jederzeit eintreten könne.135 Für die Bild- und Kinotheorie ist das insofern interessant, als dass das Eindringen in den zentralperspektivischen Tiefenraum nicht mehr im Sehen vorgetäuscht wird, sondern buchstäblich erfolgt:136 Der lüsterne, entfesselte

130 Vgl. ebd. 173 ff.

131 Hartmut Böhme erläutert diese Vorrichtung, die der „Moskovit Minski, der ‚Eremit des Apennin’“

steuert: „Mindestens zehnmal am Tag muß Minski entladen, wofür die Opfer auf kunstreiche technische Apparate geschnallt werden. Vom Bett aus kann Minski einen Mechanismus I bedienen, der zugleich 16 Frauen auf raffinierteste und variantenreiche Weise zu Tode foltert.“ Böhme 1988, zitiert nach der Webpage a. a. O.

132 Vgl. Barthes, der diesen „Geräuschfetisch“ auch als einen „tönenden Stab, eine musikalische Kotsäule“ bezeichnet: Ders. 1986, 164.

133 Ebd. 164.

134 Woher kommt die Energie in dieser selbstlaufenden Körper-Automaten-Installation? – „Friedrich Hoffmann vermutete die Antriebskraft der Körpermaschine im ‚Nervenfluidum’, das sich aus dem

‚Äther’ des Weltraums speist.“ Rothschuh 1953, 73; zitiert nach Sarasin 2001, 52.

135 Vgl. ebd 175 ff.

136 Vgl. Hentschel 2001.

Blick bohrt sich dann unaufhaltsam ins Fleisch der mechanisierten Körper.137 Selbstverständlich lässt sich der Libertin dieses köstlich-groteske Spektakel nicht entgehen und steigt mit ein. Gern gibt er seinen idealen Betrachterstandpunkt, seine Machtposition auf, um Teil des lebenden Bildes zu werden, in diesem schließlich zu implodieren. Dies scheint er für seinen Lustgewinn in Kauf zu nehmen:

„Im de Sadeschen Attentat der Liebe implodiert der Libertin im anderen und exterminiert damit zugleich das phantasmatische Objekt [...]. Sade will genießen, will die Grenze überschreiten, will nicht in den larmoyanten Serenaden imaginärer Liebe verdämmern, sondern Tod und jouissance in den Mysterien einer unausdenkbaren Grausamkeit kurzschließen. Der Marquis zelebriert eine ‚Vision der Natur als eines ungeheuren Systems der Anziehung und Abstoßung des Bösen’.“138

Reiz-Experimente in der Physiologie des 18. Jahrhunderts

Doch was sich im Sadeschen Werk als maschinenregulierte Triebanarchie, gleichwohl als ausschweifend-brutale Sprache, ein unaufhörliches Sprechen der (Mehr-)Lust und des Schmerzes, offenbart, hat durchaus Bezugspunkte zur außenliegenden Realität und erscheint dann gar nicht mehr so abwegig oder irrwitzig. Z. B. wendet sich die Physiologie eines Albrecht von Haller um 1750 mit gezielten Reiz- und Läsionsexperimenten dem lebenden Körper unter dem Vorzeichen seiner Sensibilität und Irritabilität zu und versucht so, das Organ der Seele physiologisch einzukreisen.139 Physiologisches Reizen heißt bei Haller Kürzer-Werden:

137 Siegert und von Hermann beobachten in Foucaults Ordnung der Dinge, dass im 18. Jahrhundert

„’ein Blick aus Fleisch entsteht’, der den Menschen in einer ‚nicht eindeutigen Position’ fixiert, nämlich als Objekt für ein Wissen und als Subjekt das erkennt’“. (Vgl. dies. 2000, 70; Zitat darin von Foucault 1971/74, 377) Sade folgt diesem Blick, der bereits ein klinischer ist, und erweitert ihn pornografisch-fantastisch. Vgl. Morris 1994, 313.

138 Bitsch 2001, 226; Zitat darin von Lacan 1996, 238.

139 Reizbare und gereizte Nerven spiegelten auf experimentelle Weise das Sinnbild einer ganzen Epoche wieder (Sympathy und Sensibility), so wie sie Hallers Kollege George Cheyne in seinem Buch The English Malady bereits 1733 seiner ganzen Nation attestiert hatte. Diese ging dann sogar in Form von nervous disorder in die Literatur ein, z. B. in Richardsons Clarissa und in Lessings Miss Sara Sampson. Vgl. Kalisch 2006; Kapitel 5, 6 und 7.

„1752 entdeckte Haller die Irritabilität und Sensibilität der Muskeln, die er so beschrieb: ‚Denjenigen Teil des menschlichen Körpers, welcher durch ein Berühren von außen kürzer wird, nenne ich reizbar. Sehr reizbar ist er, wenn er durch ein leichtes Berühren, wenig reizbar aber, wenn er erst durch eine starke Ursache sich zu verkürzen veranlasst wird. Empfindlich nenne ich einen Teil des Körpers, dessen Berührung sich die Seele vorstellt; und bei den Tieren, von deren Seele wir nicht so viel erkennen können, nenne ich die Teile empfindlich, bei welchem, wenn sie gereizt werden, ein Tier offenbare Zeichen eines Schmerzes oder eine Unruhe zu erkennen gibt.’“140

„Diese Entdeckung führt Haller dazu, die Bewegung des Herzens auf die Kraft des Reizes zurückzuführen: Er schrieb sie einer Ursache zu, ‚die weder vom Gehirne noch von den Schlagadern herrührt, die unbekannt ist und in dem Bau des Herzens selbst verborgen liegt.’“141

Auch wenn der durch seine Ideen zur Mimik bekannt gewordene Johann Jakob Engel einwendet, dass eine solche „Untersuchung“ oder Vivisektion „ihrer Natur nach nie zu Ende“ gebracht werden könne,142 hält dies die Physiologen keineswegs davon ab, in Hunderten von – wie Haller selbst eingesteht – grausamen Versuchen den Tierkörper stellvertretend für den menschlichen zu reizen. Dies geschieht „mit Nadeln, Zangen, Messern, mit Schwefelsäure, Vitriolöl und Spiegelglasbutter“, schreibt Philipp Sarasin in Reizbare Maschinen:143 „Was Haller darlegte, war eine bizarre Landkarte des Schmerzes, eine Klassifizierung der Gewebe nach dem Maß des Zuckens und Schreiens der ihm ausgelieferten Kreaturen“.144 Ab 1780 werden derartige Versuche unter dem Einfluss von Elektrizität fortgeführt, jetzt reizt man

140 Ebd. 125; Hallers Zitat in: Rothschuh 1968, 143.

141 Kalisch 2006, Zitat darin von Haller in Rothschuh 1968, 144. Kalischs Ausführungen sind auch in Bezug auf den mikroskopischen Blick, der bei Sade sozusagen das Gewimmel der Triebe, deren

‚Winzigkeit’, erkennen lässt, erhellend. – „Der Ausschnitt wird kleiner, die Details werden vergrößert.“

Vgl. Kalisch 2006, 132 (127 ff.).

142 Engel 1968 (1785-86), zitiert nach von Herrmann und Siegert 2000, 72.

143 Vgl. Sarasin 2001, 55.

144 Ebd.

auch am menschlichen Körper. Getestet wird u. a., ob man Leichen – wie z.B.

Guillotine-Opfer – mit der Elektrisiermaschine wieder zum Leben erwecken könne.

Aber auch riskante elektro-physiologische Selbstexperimente werden durchgeführt.

Von Ritter und Volta ist bekannt, dass sie ihren Körper mit elektrischen Kabeln verbanden, so dass u. a. Lähmung und Durchfall die Folge waren.145 Dieser horror der (selbst-)experimentellen Wissenschaft führt nicht nur zu Frankenstein und Co.,146 sondern bewirkt auch das Ende aller Physiognomik, die auf den Theaterbühnen gerade zu voller Blüte gelangt war. Denn laut Bernhard Siegert und Hans-Christian von Herrmann entziehen sich elektrisch induzierte Zuckungen, Kontraktionen und Krämpfe jeder Lesbarkeit der sogenannten schönen Seele, die sich in Ausdrucksbewegungen und im Mienenspiel anzeigt. Diese erschreckende Gestaltlosigkeit verweist auf einen Körper, um den es (dann nicht nur bei Hegel) Nacht wird, der von medialer Zerstückelung getrieben ist und sich schon bald im Raum der psychiatrischen Asyle wieder findet.147 – Und dies ist ein Schicksal, das auch Sade widerfuhr. Denn nachdem ihm eine „sexuelle Dementia“ attestiert wurde,148 musste er die letzten 13 Jahre seiner fast 30jährigen Kerkerhaft im Irrenhaus zu Charenton zubringen, wo man ihm am Ende „jeden Gebrauch von Bleistift, Tinte, Feder und Papier“ verbot. Das ist gewiss die härteste Strafe für eine/n LiteratIn. –

„[D]as Quälende ist hier, daß das Schreiben in seiner Materialität unterdrückt wird.“149

Mit Körpern geht Sade in seiner Literatur mindestens so skrupellos um wie die experimentellen Wissenschaftler seiner Zeit. „Die in der Medizin der Aufklärung üblichen Tierversuche treten in de Sades Werk als sexualisierte Form der Folter wieder auf.“150 Für den Sadeschen Libertin sind Körper – so wohlgeformt und

145 Vgl. Hagen 2001, 92 und 114.

146 Vgl. Morris 1994, 317.

147 Von Herrmann und Siegert 2000, 78 ff.

148 Vgl. Morris 1994, 315.

149 Vgl. Barthes 1986, 207.

150 „Der libertäre [soll heißen: ‚libertine’, eine ungenaue Übersetzung aus dem Englischen?

(Anmerkung S. P.)] Chirurg Rodin (ein Rationalist, der den Fortschritt der Wissenschaft preist) ist bestrebt, die Erkenntnisse der Anatomie sowie seine eigenen sexuelle Lust zu fördern, indem er eine ausgedehnte Vivisektion an seiner eigenen kleinen Tochter vornimmt. Die Salben und Medikamente,

schmackhaft sie ihm auch erscheinen – letztendlich nur seelenloses Material, mit dem er radikal imaginär spielt. Sie bleiben fad und abstrakt, sie sind Dinge. Im Gegensatz zur Wissenschaft weiß Sade jedoch, dass es kein Geheimnis im Organischen gibt,151 sondern nur eine Praxis, die dem Arrangement und der Beherrschung von Lust dient.

Wo Physiologie und Physiognomie insofern kapitulieren müssen, als sich die Kluft bzw. Leerstelle zwischen Fleisch und Medien nicht eindeutig benennen bzw.

Wo Physiologie und Physiognomie insofern kapitulieren müssen, als sich die Kluft bzw. Leerstelle zwischen Fleisch und Medien nicht eindeutig benennen bzw.

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