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Die erste Interpretationssphäre: Handlung

5 Nevinnyj Prudencij (1891)

5.1 Die erste Interpretationssphäre: Handlung

In dem nicht langen ersten und zweiten Kapitel der Erzählung ist neben der knappen zeitlichen und räumlichen Angabe insbesondere die Figurenkonstel- lation enthalten: In der frühchristlichen Zeit in einem Dorf am Mittelmeer wohnen zwei Kaufleute namens Gifas und Alkej. Sie treiben hauptsächlich Seehandel, plündern jedoch gelegentlich als Piraten andere Schiffe, wodurch sie reich geworden sind. Gifas, der Ältere, hat eine Frau namens Efrosina und einen Sohn, den Titelhelden Prudencij, von schönem Aussehen. Sein jüngerer Kollege Alkej ist mit einer schönen, jungen griechischen Frau namens Melita verheiratet, er hat kein Kind. Wenn die Männer zum Handel fortfahren, füh- ren die beiden Frauen den Haushalt, sich gegenseitig unterstützend. Dabei bringt die junge Melita, die aus der Stadt stammt, Prudencij, der nur 5 Jahre jünger als sie ist, neben Lesen und Schreiben verschiedene Fertigkeiten bei, die nur in zivilisierten Städten zu erwerben sind. Dies bereitet nicht zuletzt der Mutter Prudencijs Freude. In der Darstellung der Figuren ist die direkte Charakterisierung der Haupthelden auffällig. Die männliche Hauptfigur Pru- dencij ist insbesondere durch seine körperliche Schönheit und seine Zärtlich- keit gekennzeichnet:

Пруденцнй был статен и смугл, с горячим матовым цветом лица, с большими черными глазами, глядевшими из-под черных рссниц, при черных бровях и густых кудрях цвета ореха.

Он был очень нежен и ловок в движеньях, застенчив, страстен и скромен, - и чрез это он каждому казался приятным и милым. (51)475 Im Vergleich dazu ist die weibliche Hauptfigur Melita neben ihrer körperli- chen Schönheit durch ihre geistige Überlegenheit charakterisiert, die im wei- teren Verlauf der Handlung explizit demonstriert wird.

Так же девственно чист, и беспечен, и весел был ее живой, острый ум, живший в ладу с добрым сердцем и прекрасным, твердым и ровным характером.(52)

Im dritten Kapitel, nach der gerafften Zeitdarstellung von knapp drei Jahren, beginnt die eigentliche Handlung: Eines Tages kehrt Alkej, der wie gewohnt mit Prudencijs Vater in Geschäften verreist war, allein mit der Nachricht zu- rück, daß Gifas durch einen Überfall von Piraten ums Leben gekommen sei.

Trotz des Verdachtes eines Mordes einigen sich die Dorfbewohner nach dem

475 Die Seitenzahl in Klammem entspricht derjenigen der SS, T. 9.

Vorschlag des Dorfältesten darüber, daß der minderjährige Prudencij anstelle seines Vaters mit Alkej Handel treiben soll (Kap. 4). Darauf bringt Alkej dem jungen Mann die Seefahrt und Fertigkeiten im Seehandel bei und versucht darüber hinaus, ihn wegen seiner ״Jungfräulichkeit“ von Frauen verführen zu lassen (Kap. 5). Trotz aller Bemühungen Alkejs bewahrt der Titelheld jedoch seine Keuschheit, wodurch er seinen Spitznamen, ״ unschuldiger“ Prudencij, bekommt. Währenddessen spricht das ganze Dorf davon, daß der junge und attraktive Prudencij in die schöne und intelligente Melita, die Frau Alkejs, verliebt und ihr schieläugiger und höchstwahrscheinlich impotenter Mann deswegen auf ihn eifersüchtig sei.

In der Entwicklung der Handlung ist ein langes Gespräch zwischen der Heldin Melita und deren getreuer Sklavin Marema (Kap. 5-6: S. 57-63) von Bedeutung. Erst durch das Gespräch mit ihrer Dienerin begreift nämlich die weibliche Hauptfigur allmählich die komplexe Situation, in der sie sich als (Ehe-)Frau und Christin befindet. In Hinblick auf die Beziehung Melitas zu dem attraktiven Jüngling Prudencij stellt Marema ihrer Herrin eine Frage zu deren geschlechtlicher Identität:

- Ты [Мслита] разве не женщина?

- Да, я женщина... но что же следует дальше? (60 f.)

Aus dem Dialog stellt sich jedoch Melitas inneres Verhältnis zu Prudencij als dasjenige zwischen einer Erzieherin und einem Kind heraus:

Я [Мелнта] учила Пруденция - правда, по дружбе моей к вдове Ііфросине, и ласкала его тогда как ребенка [...] (60)

Melitas Sympathie flir den jungen Prudencij hat nichts mit einem sinnlichen Gefühl zu tun. Die weibliche Hauptfigur sucht die Reinheit ihres Herzens durch ihr Glaubensbekenntnis zu beweisen, wobei Melitas Christsein zum ersten Mal geäußert wird.

Я [Melita] христианка... я неспособна к обманам [...] (61)

Im weiteren Gespräch kommen die unterschiedlichen Auffassungen der bei- den Frauen vom menschlichen Glück zum Ausdruck: Gegenüber der christ- liehen Auffassung Melitas, nach der das menschliche Glück im Schaffen der

״ gemeinsamen Freude“ zu finden ist. verficht die heidnische Marema die ehe- liehe Liebe und das individuelle Glück. Melitas Selbstbewußtsein als Ehefrau und Christin und ihr innerer Konflikt, der sich aus der verwickelten äußeren Situation ergeben hat, verschärfen sich nach dem Gespräch mit ihrer Dienerin beim Nachdenken über ihre Lage (Kap. 7). Sie wünscht sich heimlich von Herzen eine neue Lebensform, in der sie sich nach ihrer religiösen Überzeu- gung für ein gemeinsames Glück opfern kann.

In dieser instabilen inneren Situation der Heldin ereignet sich noch ein To- desiali (Kap. 8). Diesmal kehrt der Titelheld mit Alkejs Leiche zurück und teilt mit, daß Melitas Mann beim Plündern getötet wurde, wobei er den Dorf- bewohnem die gelegentliche Seeräuberei Alkejs und Prudencijs Vaters ent- larvt. Die Dorfbewohner, die schon seit langem von dieser Piraterie im stillen Kenntnis haben, vermuten jedoch, daß der junge Prudencij Alkej selbst ent- weder aus Eifersucht auf ihn wegen seiner eigenen Liebe zu Melita oder aus Rache für den Tod seines Vaters ermordet haben soll (Kap. 9). Dieser Ver- dacht auf den ״ unschuldigen“ Titelhelden wird von einer Wahrsagerin der Gegend zerstreut, und darüber hinaus prophezeit die Hellseherin die Vermäh- lung von Melita und Prudencij (Kap. 10). Dies bringt das ganze Dorf in feier- liehe Stimmung. Im Gegensatz dazu empfindet jedoch die frisch gebackene Witwe starken Widerwillen gegen den Ehebund an sich und entschließt sich aus ihrer christlichen Überzeugung heraus, sich für das gemeinsame Glück der Menschen zu opfern, ohne sich wieder durch eine geschlechtliche Liebe zu binden. Dieser Entschluß der weiblichen Hauptfigur zu einem neuen, un- abhängigen Leben kommt beim erneuten Gespräch mit der Sklavin Marema deutlich zum Ausdruck:

я [Melita] была женою человека, с которым у меня не было ничего общего в мыслях. Я стала женою Алкея ребенком, когда сама не имела тех мыслей о жизни, какие имею теперь. [...] По теперь, когда не по моей воле все это минуло, - теперь, когда я свободна и вижу ясную цель в моей жизни, я не хочу утомлять дух мой в обязательствах брака с мужчиной... Я не считаю призваньем и долгом вызвать несколько новых детей [...] (79)

Im 11. Kapitel folgt ein längeres Gespräch zwischen der kürzlich aus der Sklaverei befreiten Marema und der Mutter Prudencijs, Efrosina, das im Ver- lauf der Handlung nicht ohne Belang ist. In den Augen der alten Witwe sind Melitas Ansicht und Handeln, welche sich aus deren christlicher Überzeu- gung ergeben, eine nicht normale Übergangserscheinung, und das Christen- tum wird von ihr als eine ״ seltsame Religion“ angesehen, die das natürliche menschliche Gefühl unterdrückt:

Неужто есть такая странная вера, которая может побудить женщину отвергнуть влюбленного в нее молодого красавца, как невинный Пруденций? Нет; это все пустяки! (81)

Im Gespräch der beiden heidnischen Frauen tritt die dunkelhäutige Sklavin Marema mit ihrer sinnliche Schönheit in den Vordergrund. Darüber hinaus ist hierbei das Selbstbewußtsein der ehemaligen Sklavin als einer selbständig fühlenden und denkenden Frau zu spüren, das sich jedoch noch nicht explizit manifestiert.

Я [Марема] хочу когда-нибудь это проникнуть... хочу это понять... И я все, что мне нужно, пойму... Не верь, вдова Ііфросина, что одни только старцы под длинными тогами могут понять, в чем настоящий смысл жизни [...] Я впрочем, не знаю... я не знаю, что хочу я сказать. Мне кажется, и я будто брежу. (83)

Іш 12. Kapitel findet noch ein Gespräch zwischen der jungen und der alten Witwe statt, in dem die entgegengesetzten Meinungen der weiblichen Figuren über die Rolle der Frau am deutlichsten zum Ausdruck kommen:

- Я [Мелита] не считаю за лучшее в жизни думать всегда об угождениях мужу.

- Что же может быть лучше этого?

- Что лучше этого?.. Жить для общего блага, а особливо тех, кому трудно живется на свете. В этом есть воля отца нашего бога.

- Боги желают, чтобы люди жили и размножались. (87)

Obwohl die alte Witwe Efrosina, die sich wegen des Liebeskummers ihres Sohnes sorgt, sie um die Heirat mit ihrem Sohn bittet, und ihre schöne Skia- vin Marema mit ihr über das irdische Glück einer Frau mit einem Mann spricht, beharrt die Heldin auf ihrem Entschluß. Unterdessen bekommt der von heftiger Leidenschaft besessene Prudencij aus Liebeskummer einen hys- terischen Anfall (Kap. 13). Melita, die unter solch zwingenden Umständen leidet, bittet schließlich um drei Tage Bedenkzeit (Kap. 14). Drei Tage später verlangt die Heldin von ihrem Bewerber, ihr zuerst einen Wunsch zu erfüllen, bevor er sie zur Frau erhalten könne (Kap. 15). Dadurch wird Prudencij über- glücklich und verspricht, alles, was sie verlange, zu tun. Nach Melitas Forde- rung fährt Prudencij mit ihr und ihrer befreiten ehemaligen Dienerin Marema auf eine geheime und unbewohnte Insel, in der die alten Piraten Gifas und Alkej zu Lebzeiten unzählige Schätze verborgen haben (Kap. 16). Nach ein- einhalbtägiger Fahrt kommen sie auf der geheimen Insel an (Kap. 17). Hier- bei begeistern sich die beiden Frauen, nicht zuletzt Marema. an der paradiesi- sehen Insel und an Sorgfalt und Geschick der männlichen Hauptfigur bei der Schiffahrt. Vom paradiesischen Zustand der Insel begeistert, wünschen sich Marema und Prudencij ein ewiges Leben mit dem Geliebten an einem isolier- ten Ort, während Melita weiterhin ihre Ansicht, daß der Lebenssinn nur in sozialen Aktivitäten zu finden ist, nachdrücklich äußert. Der Meinungsunter- schied zwischen ihnen kommt in der Rede der weiblichen Hauptfigur noch- mals explizit zum Ausdruck:

Здешнее место прекрасно, но такая любовь, которая отделяет двух человек от всех прочих людей и погружает их в одни наслажденья друг другом, мне совершенно противна. Я даже вовсе не понимаю:

какое в такой любви может быть счастие? Я думаю, что это совсем не стоит имени любви, - что это совсем что-то другое, на чем невозможно воспитать дух свой и прожить жизнь в мире с своей совестью. Я бы хотела, чтобы с нами здесь были другие и чтобы все мы могли быть друг другу полезны; я думаю, в этом должен быть смысл человеческой жизни, а не в том, чего могут достичь и низшие твари, не владеющие человеческим рассудком. (105)

Die leidenschaftliche Diskussion zwischen ihnen über das menschliche Glück und die Liebe findet keine Einigkeit. Ungeachtet der Auseinandersetzung freut sich Melita jedoch über die Übereinstimmung zwischen Prudencij und Marema. Daraufhin, nach einem erneuten Wortfecht zwischen Prudencij und Melita, wird der Titelheld auf die Probe gestellt (Kap. 18). Drei Tage lang läßt Melita ihren Anbeter, der ihr ewige Liebe geschworen hat, in einer ge- schlossenen Höhle hungern, wobei sie sich, zusammen mit ihm fastend, auf den reichgedeckten Tisch und das Brautbett fiir das Hochzeitsfest vorbereitet.

Nach drei Tagen zieht sich die Heldin mit der getreuen Marema, die bis dahin nach dem Wunsch ihrer ehemaligen Herrin alles ohne Widerspruch mitge- macht hat, das Hochzeitskleid an und läßt endlich Prudencij kommen (Kap.

19). Als sich der Titelheld, der vor Hunger fast besinnungslos geworden ist, mit Marema auf das Essen stürzt, ohne dabei Melita zu beachten, verläßt die Heldin insgeheim ihn und ihre Sklavin Marema und fährt allein mit dem Schiff zu einer unverheirateten Jugendfreundin, die sich für die Notleidenden opfert. Ein Jahr darauf kommt Prudencijs Mutter, geführt von Melita, auf die Insel und ist sehr glücklich darüber, daß ein Zwillingspaar ihres Sohnes und Maremas zur Welt gekommen ist. Sie alle bedanken sich für die weise Maßnahme der Heldin und freuen sich miteinander.

Im ganzen gesehen zeigt die Handlung der Erzählung, wie das Selbstbe- wußtsein der weiblichen Hauptfigur Melita wächst und wie sie ihr eigenes Leben nach ihrer Auffassung verwirklicht. Dies ist zusammenfassend wie folgt zu formulieren:

Ausgangskonstellation: Die weibliche Hauptfigur Melita wohnt mit ande- ren Figuren zusammen in Frieden und Eintracht; Mittelteil: Durch das Ge- sprach mit ihrer Dienerin Marema über die Verliebtheit Prudencijs wird das Selbstbewußtsein der Heldin als Frau und Christin geweckt, wodurch sie in Konflikt mit den anderen Figuren gerät; Endkonstellation: Durch die weise Haltung der Heldin gehen verschiedene Wünsche der Figuren in Erfüllung:

ein glückliches Ende.

5.2 Die zweite Interpretationssphäre: Erzählsituation