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Die eigentümlichen Dynamiken systemischer Geschichtstheorien, 1910–1960

2.1 Kreislauf und Widerstand. Zur Epistemologie periodischer Zeitentwürfe

Thomas M. trifft Willi S. Eine okkulte Begegnung

Im Dezember 1923 und im Januar 1924 nimmt Thomas Mann in München an drei okkultistischen Sitzungen des Albert Freiherr von Schrenck-Notzing teil.

Das Medium Willi S. „sei ein junger Mensch, ein halber Knabe, […] Zahntech-niker seines Zeichens und dabei ein physikalischer Tausendsassa mit dem Schrenck ganz tolle Erscheinungen zeitige.“1 So wird Mann das Medium von einem Karikaturisten vorgestellt und der Autor, der seine Einstellung als „theo-retische Sympathie“ bezeichnet und „den Ereignissen nicht nachgelaufen“ sei, sondern „alles auch hier jener Macht anheimgab, die man Schicksal, Fügung oder auch Führung nennt, […] in der ein durchaus okkultes Zusammenspiel innerer und äußerer Elemente“ walte, begibt sich wenige Tage später in das „pa-laisartige Haus des Barons […] in bevorzugter Stadtgegend, ganz nahe dem Ka-rolinenplatz“.2 Mann führt sich selbst als sympathisierender Sprecher ein, der nicht aus eigenem Antrieb, sondern ferngesteuert von höheren Mächten zu den Phänomenen geleitet wird. Es gibt offensichtlich Kräfte des Lebens, denen man sich nicht entziehen kann und die sich nicht restlos erklären lassen.

Betrachtet man den Teilnehmerkreis der Veranstaltung, stellt man keine au-ßerordentlichen Besonderheiten fest. Mann berichtet sowohl von Professoren der Zoologie, angehenden jungen Ärzten als auch Künstlern und „Angehöri-ge[n] der Schwabinger Intellektuellensphäre“.3 Das Interesse an der Parapsycho-logie wird von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt und die Durchmischung von Vertretern kreativer wie wissenschaftlicher Berufszweige deutet auf genau

1 Thomas Mann, „Okkulte Erlebnisse“ [1923/24], in: Thomas Mann, Essays, Bd. 2 1914–1926, Frankfurt am Main: Fischer 2002, 611–652, 620.

2 Mann, Okkulte Erlebnisse, 619 f.

3 Mann, Okkulte Erlebnisse, 621.

jene überraschenden Verknüpfungen von Experimentalsystem, Atmosphäre und Erkenntnistheorie hin, die im vorangehenden Kapitel untersucht wurden.4 Außer dem Laboratorium und seiner Bestückung mit diversen Instrumenten bedarf es einer peinlichen Vorbereitung und Kontrolle des Versuchsobjektes, der neben „Dr. von Schrenck als Versuchsleiter“ Mann selbst „und die lustige Nervenärztin“ beiwohnen, um Betrügereien auszuschließen. Zu diesen Maß-nahmen zählt beispielsweise die Applikation fluoreszierender Streifen und Na-deln an der Kleidung des Mediums. Daraufhin betreten die Experimentatoren und das Publikum das mittlerweile abgedunkelte Labor, dessen diffuse Beleuch-tung eine katalytische Funktion für den medialen Trancezustand besitzt.5 Den übrigen Séance-Teilnehmern wird, wie im letzten Kapitel ausführlich diskutiert, keine rein passive, beglaubigende Rolle zugewiesen. Ihre Aufgabe besteht in der Unterstützung Willis durch Marschmusik und motivierende Zurufe.6 Misslin-gende Versuche, in diesem Fall der Nachweis von Materialisationen, sind den-noch möglich und zeugen, so das mannsche Verständnis, von der spezifischen Lebendigkeit der Phänomene.7 In einem emphatischen Begriff des Lebens kreu-zen sich Metaphysik und Wissenschaft, so dass auf Erfahrungswerten basieren-de Einsichten unentwirrbar vereint werbasieren-den mit subjektgebunbasieren-denen Erkenntnis-formen der Intuition und „innere[n] Fühlung“, die einzig ermöglichen, die Ex-perimente in ihrer Gesamtheit zu erfassen.8

Enge Zusammenhänge dieses Lebensverständnisses zieht Mann zum Kon-zept der Natur, das anders als „Geist, Niveau, Geschmack […] ein unreines, skurriles, boshaftes und dämonisch-zweideutiges Element“ sei und der Mensch

„ein Kind der Natur so gut wie ein Sohn des Geistes“ bleibe.9 Er bringt den ge-samten Komplex als „empirisch-experimentelle Metaphysik“ auf den Begriff und wähnt sich im Einklang mit dem gewandelten Wissenschaftsverständnis seit der einsteinschen Relativitätstheorie, durch die „die Grenze zwischen

ma-4 Siehe oben Kap. 1.3 sowie zu den sozialen Trägergruppen des Okkultismus Ulrich Linse,

„‚Das Buch der Wunder und Geheimwissenschaften‘. Der spiritistische Verlag Oswald Mutze in Leipzig im Rahmen der spiritistischen Bewegung Sachsens“, in: Mark Lehmstedt/Andreas Her-zog (Hg.), Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900, Wiesbaden: Harrassowitz 1999, 219–244; Corinna Treitel, A Science for the Soul: Occul-tism and the Genesis of the German Modern, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2004, bes. 165–191; Sabine Doering-Manteuffel, Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung von Gutenberg bis zum World Wide Web, München: Siedler 2008, 162 f.

5 Mann, Okkulte Erlebnisse, 623–628, 623 (Zitate). Siehe zur Versuchsanordnung auch Tho-mas Mann, „[Drei Berichte über okkultistische Sitzungen]“ [1922/24], in: ThoTho-mas Mann, Essays, Bd. 2 1914–1926, Frankfurt am Main: Fischer 2002, 587–602, bes. 587 f., 595 f.

6 Mann, Okkulte Erlebnisse, 630 f.

7 Mann, Okkulte Erlebnisse, 639–645, bes. 644 f.

8 Mann, Okkulte Erlebnisse, 648. Siehe auch 614, 631, 647 und Mann, [Drei Berichte], 594, 597 f., 602.

9 Mann, Okkulte Erlebnisse, 615 (Hervorhebung im Original).

2.1 Kreislauf und Widerstand. Zur Epistemologie periodischer Zeitentwürfe 147 thematischer Physik und Metaphysik fließend geworden“ sei.10 Insbesondere aber über den schillernden Lebensbegriff, der trotz definitorischer Bemühungen Johannes Reinkes, Jakob von Uexkülls und Ludwig von Bertalanffys eine Art

‚epistemologisches Magma‘ darstellt und seiner instabilen Form entsprechend homologer Erkenntnisverfahren benötigt, lassen sich Parallelen und Kurz-schlüsse zwischen zeitgenössischen geistes- und naturwissenschaftlichen Ob-jektivitätsvorstellungen erkennen.

Das ‚geschulte Urteil‘, dessen Ursprung Lorraine Daston und Peter Galison im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verorten, umgreift in diesem Sinn empiri-sches und intuitives Wissen.11 Während Thomas Mann, Henri Poincaré oder Hermann Rorschach auf die Notwendigkeit beider Dimensionen pochen und so-mit der geschulten Urteilskraft vertrauen, möchte ich im Folgenden ergründen, ob die Vertreter periodischer Zeitkonzepte genauso vorgehen oder es in ihrem Fall eher zu einer Überlagerung erkenntnistheoretischer Traditionen unter-schiedlichster Herkunft kommt, die nur partiell mit einer Typologie klar um-grenzter Objektivitätsideale beschreibbar ist.12 Der Weg aus dem Chaos, so der Titel einer Monographie aus dem Jahr 1931, auf die ich unten zurückkommen werde, zeigt bereits eine wesentliche epistemologische Funktion periodischer Zeitmodelle an: ihre Fähigkeit, einer überbordenden Wirklichkeit Form zu ver-leihen und damit Erkenntnisse und deren Kommunikation zu ermöglichen.13

10 Mann, Okkulte Erlebnisse, 614 f. Siehe auch 651 f. Ulrich Linse spricht prägnant vom Spi-ritismus als einer „Beweis-Religion“ (Linse, ‚Das Buch der Wunder und Geheimwissenschaften‘, 221). Die mannsche Einschätzung Einsteins stimmt wohl kaum mit dessen Selbstverständnis überein, trifft aber auf zahlreiche andere Physiker der Zwischenkriegszeit wie z.B. Hermann Weyl, den jungen Richard von Mises oder Walther Nernst zu. Siehe Paul Forman, „Weimar Culture, Causality, and Quantum Theory, 1918–1927: Adaptation by German Physicists and Mathematicians to a Hostile Intellectual Environment“, Historical Studies in the Physical Scien-ces 3 (1971), 1–115, bes. 63–96; John Hendry, „Weimar Culture and Quantum Causality“, Histo-ry of Science 18.3 (1980), 155–180, bes. 161–168; CathHisto-ryn Carson/Alexei Kojevnikov/Helmuth Trischler (Hg.), Weimar Culture and Quantum Mechanics: Selected Papers by Paul Forman and Contemporary Perspectives on the Forman Thesis, London: Imperial College Press 2011.

11 Lorraine Daston/Peter Galison, Objectivity, New York: Zone Books 2007, 309–361. Der Begriff des ‚epistemologischen Magmas‘ stammt von Diethard Sawicki (Diethard Sawicki, „Spi-ritismus und das Okkulte in Deutschland, 1880–1930“, Österreichische Zeitschrift für Ge-schichtswissenschaften 14.4 (2003), 53–71, 68). Siehe außerdem zu Reinke, Uexküll und Ber-talanffy oben Kap. 1.1.

12 Siehe Daston/Galison, Objectivity, bes. 357–361; Hermann Rorschach, Psychodiagnostik.

Methodik und Ergebnisse eines wahrnehmungsdiagnostischen Experiments (Deutenlassen von Zufallsformen) [1921], Bern: Huber 31937, z.B. 116, 216 sowie zur Vorgeschichte des Verhältnisses von Erfahrung und Empfindung und der zunehmenden Prämierung intuitiver, kreativer Er-kenntnisse im 19. Jahrhundert außerdem Lutz Danneberg, „Erfahrung und Theorie als Problem moderner Wissenschaftsphilosophie in historischer Perspektive“, in: Jürg Freudiger/Andreas Graeser/Klaus Petrus (Hg.), Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, München: Beck 1996, 12–41, bes. 37.

13 Diesen Aspekt hat insbesondere Alexander Demandt anhand von Epochenmetaphern zur

Philosophisch bedeuten derartige Entwürfe weder eine vollkommen triviale Konzeption historischer Zeiten noch lassen sie sich historiographisch als reine Residuen mythologischen Denkens abqualifizieren, denn spätestens in der Renaissancezeit entwickeln sich zyklische Denkansätze „zu einer historischen Theorie mit großer Variabilität“.14 Diese Variationsbreite schlägt sich auch in der Ausdifferenzierung solcher Konstruktionen im frühen 20. Jahrhundert nieder.

In Bezug auf das übergreifende Interesse des Buchs an einer Genealogie syste-mischen Denkens lassen sich folgende Punkte vorab festhalten: Erstens führen periodische Zeitentwürfe allgemein zahlreiche organismische Ideen im makro-geschichtlichen Bereich fort. Zweitens gibt es große Berührungspunkte ihrer epistemischen Ideale mit den Vorstellungen der Parawissenschaften aus dem vorangehenden Kapitel, die man idealtypisch als ‚organische Objektivität‘ an-sprechen könnte und auf den ersten Blick weniger Anknüpfungsmöglichkeiten für kühle Systemdenker bieten. Allerdings ergeben sich auch hier klare Verbin-dungen über die Neigung, Ambivalenzen offenzulegen, Paradoxien zu entfalten und insgesamt reflexive Herangehensweisen zu verwenden, wie man sie bei-spielsweise auch bei Ludwig von Bertalanffy, Lawrence J. Henderson, Franz Eu-lenburg oder Niklas Luhmann beobachten kann.15

Drittens bilden periodische Geschichtstheorien ein ‚historisches Apriori‘ der differenzierungstheoretischen Annahmen im systemischen Denken des 20.

Jahrhunderts, wie man insbesondere anhand einiger früher Schriften Ber-talanffys aus den 1920er Jahren erkennen kann, die direkt und ausdrücklich an Oswald Spengler anschließen.16 Einfache Entwicklungstheorien mit einem

ro-Diskussion gestellt: Alexander Demandt, „Denkbilder des europäischen Epochenbewusst-seins“, Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), 129–147, bes. 139. Siehe weiterführend auch Dani-el Pick, Faces of Degeneration: A European Disorder, c. 1848–c. 1918 [1989], Cambridge: Cam-bridge University Press 1996; Henning Grunwald/Manfred Pfister (Hg.), Krisis! Krisenszenari-en, Diagnosen und DiskursstrategiKrisenszenari-en, München: Fink 2007; J. B. Shank, „Crisis: A Useful Category of Post-Social Scientific Historical Analysis?“, The American Historical Review 113.4 (2008), 1090–1099; Thomas Mergel (Hg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaft-liche Annäherungen, Frankfurt am Main: Campus 2012; Uta Fenske/Walburga Hülk/Gregor Schuhen (Hg.), Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Mo-derne, Bielefeld: Transcript 2013; Carla Meyer/Katja Patzel-Mattern/Gerrit Jasper Schenk (Hg.), Krisengeschichte(n). ‚Krise‘ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspek-tive, Stuttgart: Steiner 2013; Caroline Pross, Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne, Göttingen: Wallstein 2013; Janet Roitman, Anti-Crisis, Durham: Duke Uni-versity Press 2014.

14 Jochen Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühaufklärung, München:

Fink 1980, 13.

15 Siehe weiterführend oben Kap. 1.2.

16 Siehe Ludwig von Bertalanffy, „Expressionismus und Klassizismus“, Zeitschrift für Ästhe-tik und allgemeine Kunstwissenschaft 18.3 (1925), 338–343; Ludwig von Bertalanffy, „Oskar Ha-gen, Deutsches Sehen. Gestaltungsfragen der deutschen Kunst“ [Rezension], Zeitschrift für

Äs-2.1 Kreislauf und Widerstand. Zur Epistemologie periodischer Zeitentwürfe 149 busten und geradlinigen Fortschrittsbegriff, den man etwa an vielen Stellen in den Schriften Albert Schäffles antrifft, werden jedoch bei den Autoren in diesem Kapitel skeptisch durchleuchtet und mit voraussetzungsreichen, mehrdeutigen und komplexen Konzepten der ‚Wiederholung‘, ‚Krise‘, ‚Latenz‘ und ‚Remanenz‘

substanziell angereichert.17 Viertens ist der universale und globale Grundge-danke der Zivilisationsgeschichte bei Spengler, Karl Camillo Schneider und Paul Ligeti eine weitere, gravierende semantische Weichenstellung neben der organismischen Soziologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts für die Konzeptu-alisierung der ‚Weltgesellschaft‘.

Fünftens umfassen periodische Geschichtsvorstellungen disziplinäre Matri-zes, die mehr an Einheit statt Vielheit orientiert sind. Sie bringen übliche Unter-teilungen durcheinander und bereiten damit die supertheoretischen, weltfor-melartigen Erklärungsansprüche des späteren systemischen Denkens vor.18 Die kaum überbietbare Reichweite systemischer Erklärungsansätze wird sechstens auch auf der visuellen Ebene ersichtlich, die das nächste Kapitel genauer in den Blick nimmt. Die Bildprogramme periodischer Zeitentwürfe müssen als eine theoriepraktische und kosmogrammatische Möglichkeitsbedingung der Diffe-renzierungsvorstellungen systemischen Denkens bei Autoren wie Parsons und Luhmann angesehen werden.19 Eine Genealogie der intellektuellen Kultur sys-temischen Denkens kann daher schlicht und ergreifend nicht die epissys-temischen Ideale und visuellen Techniken periodischer Geschichtstheorien außer Acht lassen, um ein kritisches, provinzialisiertes Verständnis der Systemtheorien in der Nachkriegszeit zu gewinnen, das uns in unserer heutigen postkolonialen Gegenwart ermöglichen kann, systemisches Gedankengut ohne überholte Zen-trismen produktiv zu revidieren und zu erneuern.20

thetik und allgemeine Kunstwissenschaft 18.3 (1925), 377–378; Ludwig von Bertalanffy, „Hölder-lins Empedokles“, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 20.2 (1926), 241–248; Ludwig von Bertalanffy, „Über die neue Lebensauffassung“, Annalen der Philosophie und philosophischen Kritik 6 (1927), 250–264; Ludwig von Bertalanffy, „Die klassische Utopie“, Preußische Jahrbücher 210 (1927), 341–357; Ludwig von Bertalanffy, „Einleitung“, in: Nikolaus von Kues, Nikolaus von Kues, München: Müller 1928, 5–28 sowie weiterführend auch Veronika Hofer, Organismus und Ordnung. Zu Genesis und Kritik der Systemtheorie Ludwig von Ber-talanffys [Dissertation], Wien: Universität Wien 1996, bes. 182–203

17 Siehe vertiefend auch Nick Hopwood/Simon Schaffer/Jim Secord, „Seriality and Scientific Objects in the Nineteenth Century“, History of Science 48.3/4 (2010), 251–285, bes. 266 ff.

18 Siehe z.B. Robert Redfield (Hg.), Levels of Integration in Biological and Social Systems, Lan-caster, Penn.: Jaques Cattell Press 1942; Ludwig von Bertalanffy, General System Theory: Foun-dations, Development, Applications [1968], New York: Braziller 21971; James Grier Miller, Living Systems, New York: McGraw-Hill 1978.

19 Siehe zum Begriff des ‚Kosmogramms‘ John Tresch, „Cosmogram“, in: Melik Ohanian/

Jean-Christophe Royoux (Hg.), Cosmograms, New York: Lukas & Sternberg 2005, 67–76; John Tresch, „Technological World-Pictures: Cosmic Things and Cosmograms“, Isis 98.1 (2007), 84–99 sowie weiterführend oben Kap. 0.3 und unten Kap. 2.2, 3.4, 3.5.

20 Siehe weiterführend auch Wolfgang Knöbl, Spielräume der Modernisierung. Das Ende der

Oswald Spengler und der Untergang des Abendlandes

Oswald Spengler wurde direkt nach Erscheinen des ersten Bandes vom Unter-gang des Abendlandes bis in die Gegenwart hinein häufig als intellektuell und wissenschaftlich nicht ernstzunehmender Denker eingestuft. Wahrscheinlich auch wegen seines polemischen Tonfalls wurde und wird dabei jedoch selten der Versuch gemacht, die eigentümliche Wissensformation zu rekonstruieren, die das Feld seiner Aussagen strukturiert.21 Wie kommt Spengler überhaupt zu der Ansicht, dass das Abendland untergehe oder seiner „Vollendung“ sich nähere?22

Eindeutigkeit, Weilerswist: Velbrück 2001; Wolfgang Knöbl, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt am Main: Campus 2007; Armin Nassehi, Geschlossen-heit und OffenGeschlossen-heit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhr-kamp 2003, bes. 188–228; Armin Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, bes. 414–449; Armin Nassehi, Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Berlin: Suhrkamp 2011, bes. 123–160.

21 Die zeitgenössischen wie aktuellen Titel zu Spengler lassen sich kaum noch überblicken.

Ich erwähne hier nur einige der wichtigsten Publikationen: Richard Kroner/Georg Mehlis (Hg.), [Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes], Tübingen: Mohr 1920/21; Manfred Schröter, Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker, München: Beck 1922; H. Stuart Hughes, Oswald Spengler: A Critical Estimate, New York: Scribner 1952; Peter Christian Ludz (Hg.), Spengler heute. Sechs Essays, München: Beck 1980; Detlef Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München: Beck 1988; Louis Dupeux (Hg.), La Révolution conservatrice allemande sous la République de Weimar, Paris: Kimé 1992; Stefan Breuer, Anato-mie der Konservativen Revolution, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993; Al-exander Demandt/John Farrenkopf (Hg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Köln: Böhlau 1994; Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen (Paul Lensch, Werner Sombart, Oswald Spengler, Ernst Jünger, Hans Freyer), Frankfurt am Main: Fischer 1995;

John Farrenkopf, Prophet of Decline: Spengler on World History and Politics, Baton Rouge: Lou-isiana State University Press 2001; Françoise Daviet-Taylor/Manfred Gangl/Anne-Sophie Pe-tit-Emptaz (Hg.), Entre la quête de l’absolu et le principe de réalité, Paris: L’Harmattan 2003;

Richard Staley, „Culture and Mechanics in Germany, 1869–1918: A Sketch“, in: Cathryn Car-son/Alexei Kojevnikov/Helmuth Trischler (Hg.), Weimar Culture and Quantum Mechanics:

Selected Papers by Paul Forman and Contemporary Perspectives on the Forman Thesis, London:

Imperial College Press 2011, 277–292; Charles Bambach, „Weimar Philosophy and the Crisis of Historical Thinking“, in: Peter E. Gordon/John P. McCormick (Hg.), Weimar Thought: A Cont-ested Legacy, Princeton: Princeton University Press 2013, 133–149; Per Leo, Der Wille zum We-sen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland, 1890–1940, Berlin: Matthes & Seitz 2013, bes. 395–404, 578–583.

22 Im zweiten Satz der Einleitung des Untergangs spricht Spengler von „Vollendung“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte [1918/23], München: Deutscher Taschenbuch Verlag 71983, 3). Die Abgrenzung seines Unter-gangsverständnisses von katastrophischen Interpretationen des Buchs pointiert er außerdem in den Preußischen Jahrbüchern 1921 (zitiert nach dem Wiederabdruck Oswald Spengler, „Pessi-mismus?“ [1921], in: Oswald Spengler, Reden und Aufsätze, München: Beck 1937, 63–79, 63).

Siehe auch weiterführend zu historiographischen, vor allem althistorischen, Vorbildern und Kontrastfolien Spenglers Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Weltperioden. Rede zur Feier des Geburtstages seiner Majestät des Kaisers und Königs am 27. Januar 1897, Göttingen: Diete-rich 1897; Eduard Meyer, Spenglers Untergang des Abendlandes, Berlin: Curtius 1925; Alexander Demandt, „Eduard Meyer und Oswald Spengler. Lässt sich Geschichte voraussagen?“, in:

Willi-2.1 Kreislauf und Widerstand. Zur Epistemologie periodischer Zeitentwürfe 151 Der Kern seines Programms findet sich vor allem in den lektüreanweisenden Vorworten der ersten bzw. neubearbeiteten Auflagen,23 der Einleitung, dem zweiten (Das Problem der Weltgeschichte) und fünften (Seelenbild und Lebensge-fühl) Kapitel des ersten Bandes und eher verstreut über die ersten beiden wie auch das vierte Kapitel des zweiten Teils (Ursprung und Landschaft; Städte und Völker; Der Staat). Vergleicht man allein die Vorworte der Erstauflage und der Neubearbeitung anlässlich des Erscheinens des zweiten Bandes, kann man die ungeheure – und letztlich unaufgelöste – Spannung zwischen assertorischem Anspruch auf absolute Welterkenntnis und skeptisch relativierender Historisie-rung der eigenen Aussagen spüren. Im Dezember 1917 wähnt sich Spengler durch die Ereignisse in vielem „bestätigt“ und durch „nichts widerlegt“. Bei sei-nem Buch handelt es sich „um die, gewissermaßen natürliche […] Philosophie der Zeit.“ Das darf „ohne Anmaßung gesagt werden. Ein Gedanke von histori-scher Notwendigkeit“ spreche sich in ihm aus, der „der ganzen Zeit“ gehöre und

„im Denken aller unbewußt wirksam“ sei.24 Ende 1922 klingen andere Töne an, wenn nun „eine widerspruchslose Einsicht in die letzten Gründe des Daseins uns nicht gegeben ist“ und das Wahre für jeden Denker individuell „mit ihm geboren wurde“ und mit ihm vergehe.25 Daher vermag Spengler „den Kern des-sen, was ich gefunden habe, nur als ‚wahr‘ zu bezeichnen, wahr für mich, […]

nicht wahr ‚an sich‘“.

Zugleich deutet sich die Eigenart seines Ansatzes an, indem er betont, dass der Sprachstil des Buchs dazu diene, „die Gegenstände und die Beziehungen sinnlich nachzubilden […], statt sie durch Begriffsreihen zu ersetzen“. Es wendet sich „allein an Leser, welche die Wortklänge und Bilder ebenso nachzuerleben“

verstehen und es ist „nicht für solche geschrieben, welche das Grübeln über das Wesen der Tat für eine Tat halten.“26 Seine Sprache indiziert nicht abstrakt eine entfernte Wirklichkeit, sondern steht in einem direkten, mit allen Sinnen

fass-am M. Calder III/Alexander Demandt (Hg.), Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universal-historikers, Leiden: Brill 1990, 159–181, bes. 174–177; Gustav Adolf Lehmann, „Eduard Meyer, Oswald Spengler und die Epoche des Hellenismus in universalhistorischer Perspektive“, Archiv für Kulturgeschichte 77.1 (1995), 165–196; Hartmut Leppin, „Ein ‚Spätling der Aufklärung‘. Otto Seeck und der Untergang der antiken Welt“, in: Peter Kneissl/Volker Losemann (Hg.), Imperi-um RomanImperi-um. Studien zu Geschichte und Rezeption, Stuttgart: Steiner 1998, 472–491; Stefan Rebenich, „Einleitung zur Neuauflage“, in: Otto Seeck, Geschichte des Untergangs der antiken Welt, Darmstadt: Primus 2000, Bd. 1, v–xviii; Charlotte Roberts, Edward Gibbon and the Shape of History, Oxford: Oxford University Press 2014.

23 Den besonderen Stellenwert der Vorworte hebt auch Barbara Beßlich hervor. Siehe Barba-ra Beßlich, „Kulturtheoretische Irritationen zwischen LiteBarba-ratur und Wissenschaft. Die Speng-ler-Debatte in der Weimarer Republik als Streit um eine Textsorte“, Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 10 (2005/06), 45–72, bes. 45 f.

24 Spengler, Der Untergang des Abendlandes, x (Hervorhebung im Original).

25 Spengler, Der Untergang des Abendlandes, vii.

26 Spengler, Der Untergang des Abendlandes, viii f. (Hervorhebungen im Original).

baren, mimetischen Verhältnis zu ihr.27 Gleichzeitig besitzen Erlebnisse und Handlungen einen höheren Stellenwert als begriffliche Erkenntnis oder theore-tische Erörterungen. Diese Prämierung von Handlungsvollzügen berührt sich unverkennbar mit der Existenzialphilosophie Heideggers.28

Im Stil der neuen Vorrede stellt Spengler (sich) seinen morphologischen An-satz vor. Aus dem „GegenAn-satz, der Welt als Natur begriffen, geschaut, gestaltet“, hat die Morphologie ihren Sitz im Leben und bildet die einzig adäquate Heran-gehensweise im Umgang mit lebendigen Phänomenen, die Geschichte und Ge-genwart bevölkern.29 Komplette Kulturen fasst er als Organismen auf.30 Insge-samt dient Spengler Goethe als Gewährsmann. Sei es im Sinne eines antisyste-matischen Zug seines Denkens, wie es folgendes Zitat verdeutlicht: „‚Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben an‘ – das ist

Im Stil der neuen Vorrede stellt Spengler (sich) seinen morphologischen An-satz vor. Aus dem „GegenAn-satz, der Welt als Natur begriffen, geschaut, gestaltet“, hat die Morphologie ihren Sitz im Leben und bildet die einzig adäquate Heran-gehensweise im Umgang mit lebendigen Phänomenen, die Geschichte und Ge-genwart bevölkern.29 Komplette Kulturen fasst er als Organismen auf.30 Insge-samt dient Spengler Goethe als Gewährsmann. Sei es im Sinne eines antisyste-matischen Zug seines Denkens, wie es folgendes Zitat verdeutlicht: „‚Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben an‘ – das ist