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Die dokumentarische Methode – Metatheoretische und methodologische

2. Qualitativ-empirischer Zugang:

2.2 Die dokumentarische Methode – Metatheoretische und methodologische

Metatheoretische und methodologische Überlegungen zur Rekonstruktion kollektiver Orientierungen

In der vorliegenden Untersuchung steht die Schule als Forschungssubjekt im Mittel-punkt. Es gilt, kollektive Orientierungsmuster an Schulen in Bezug auf das oben

for-mulierte Erkenntnisinteresse zu rekonstruieren. Da die Studie auf die Schule als Meso-ebene fokussiert, sind dem Forschungsgegenstand adäquate sozialwissenschaftliche Methoden auszuwählen, die kollektive Orientierungsmuster an Schulen zu erheben und zu rekonstruieren vermögen. Für dieses empirische Vorhaben sind Gruppendiskussio-nen und die dokumentarische Methode geeignete Erhebungs- und Auswertungsmetho-den. In ihrer Kombination nehmen sie die Erhebung und Rekonstruktion kollektiver Orientierungsmuster in den Blick, die das Denken und Handeln strukturieren.1

Die Etablierung der dokumentarischen Methode als sozialwissenschaftliche Methode wurde ab den 1980er Jahren wesentlich durch Bohnsack und Mangold vo rangetrieben.

Wie so oft in der qualitativen Sozialforschung wurde diese rekonstruktive Methode im Rahmen konkreter Forschungsprojekte entwickelt,2 da Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse auf der einen Seite und Erhebung sowie Auswertung auf der anderen Seite im Forschungsprozess unumgänglich zirkulär zusammenhängen (Gegenstandsorientierung).3 Die dokumentarische Methode knüpft in ihrer Metatheorie im Wesentlichen an die Kultur- und Wissenssoziologie Mannheims an.4 Hinsichtlich ihrer metatheoretischen Entwicklung und forschungspraktischen Umsetzung beruft sich Bohnsack u. a. auf die Phänomenologische Soziologie, die Ethnomethodologie Garfinkels und die Forschungstradition der Chicagoer Schule.

Ziel der dokumentarischen Methode ist die Rekonstruktion kollektiv geteilter Erfah-rungsräume, womit ihr Fokus auf dem Kollektiven liegt. Bei diesen Erfahrungsräumen handelt es sich immer schon um Konstruktionen, da die Wirklichkeit durch Menschen stets vorkonstruiert ist. „In verschiedenen Konstruktionen der alltäglichen Wirklichkeit haben sie diese Welt im voraus gegliedert und interpretiert, und es sind gedankliche Gegenstände dieser Art, die ihr Verhalten bestimmen, ihre Handlungsziele definieren und die Mittel zur Realisierung solcher Ziele vorschreiben – kurz: sie verhelfen den Menschen in ihrer natürlichen und sozikulturellen Umwelt ihr Auskommen zu finden und mir ihr ins Reine zu kommen.“5 Aufgabe der Forscherin/des Forschers ist es, diese Konstruktionen zu rekonstruieren (Konstruktionen zweiten Grades).6

Wirklich-1 Vgl. Bohnsack 82010.

2 Vgl. Bohnsack 1983; Bohnsack 1989; Bohnsack 82010, 32–34.

3 Vgl. Lamnek 52010, 23–25. In Kontrastierung zu quantitativen Forschungsansätzen führt Lamnek das Prinzip der Flexibilität an, mit der eine Gegenstandsorientierung gewährleistet wird. „Für den explorativen bzw. qualitativen Forscher kommt es dagegen darauf an, den For-schungsprozess so zu entwickeln und zu präzisieren, dass sein Problem, die Steuerung seiner Untersuchung, Daten, analytische Beziehungen und Interpretationen aus dem empirischen sozialen Leben entstehen und darin verwurzelt bleiben.“ Lamnek 52010, 23.

4 Vgl. Mannheim 1960; Mannheim 1980.

5 Bohnsack 82010, 22.

6 Die dokumentarische Methode ist als Rekonstruktion der Rekonstruktion zu verstehen, da sie ihr eigenes Forschungshandeln reflektiert, es methodologisch begründet und „jene Verfahren oder Methoden der Interpretation und Reflexion zu rekonstruieren“ vermag, „die gleicher-maßen im Alltag derjenigen, die Gegenstand der Forschung sind, wie im Alltag der Forscher selbst zur Anwendung gelangen.“ (Bohnsack 82010, 25) Folglich kann „eine erkenntnislo-gische Differenz zwischen alltäglicher und wissenschaftlicher Interpretation im Sinne einer prinzipiellen Überlegenheit letzterer nicht mehr aufrechterhalten“ (Bohnsack 82010, 25 f.) werden. Eine solche Einsicht hat Folgen für die „Einklammerung des Geltungscharakters“.

keitskonstruktionen sind immer bereits symbolisch konstruiert und erschließen sich nicht unmittelbar. Mit Bezug auf die Ethnomethodologie Garfinkels ist für Bohnsack unmittelbares Verstehen zwischen Forschungssubjekten und ForscherIn nicht möglich, da sie in der Regel unterschiedlichen Erfahrungsräumen angehören. „Garfinkel bemerkt dazu, dass in unserer alltäglichen sprachlichen Verständigung sprachliche Äußerungen indexikal sind, d. h. sie sind lediglich Indikatoren für, Hinweise auf Bedeutungsge-halte. Die Bedeutungen sind nicht ‚automatisch‘ mit den Äußerungen verbunden. Ich muss als Hörer immer Interpretationen erbringen, um die richtigen Bedeutungen zu erschließen.“7 Im indexikalen Gehalt von Äußerungen drücken sich die Konstruktionen von Menschen aus, sie sind Dokumente zugrundeliegender Sinnmuster bzw. Hinweise darauf. In der Ethnomethodologie Garfinkels wird in kritischer Auseinandersetzung mit der Phänomenologischen Soziologie der „‚methodologische Individualismus‘ […] auf die Spitze getrieben“8, insofern Sozialität „als Inter-Subjektivität situativ immer erst hergestellt werden“9 muss. Für Bohnsack weist die Ethnomethodologie zu Recht auf die Indexikalität von Äußerungen hin und betont die Grenzen eines unmittelbaren Ver-stehens, da ein solches lediglich durch einen gemeinsamen Erfahrungshorizont möglich ist. Dennoch ist die Ethnomethodologie für Bohnsack „eine ‚halbierte‘ Wissenssozio-logie“, da „die Frage, wie denn nun ein adäquater methodischer Zugang zur ‚Indexi-kalität‘ der fremden milieuspezifischen Wirklichkeit gefunden werden kann, […] von den Ethnomethodologen nicht beantwortet worden“10 ist. Einen solchen methodischen Zugang findet Bohnsack in Mannheims Wissenssoziologie, die zwischen konjunktiven und kommunikativen Erfahrungen unterscheidet. Diese Unterscheidung zieht Bohnsack für die dokumentarische Methode heran. Personen, die aufgrund einer gemeinsam geteilten kollektiven Erfahrung miteinander verbunden sind, sodass Sozialität aufgrund von konjunktiven Erfahrungen entsteht, „verstehen einander unmittelbar. Sie müssen einander nicht erst interpretieren“11 (intuitives Verstehen). Hingegen haben andere, die diesem Erfahrungshorizont nicht angehören, eine „in wechselseitiger Interpretation sich vollziehende ‚kommunikative‘ Beziehung“12 (dokumentarisches Interpretieren). Eine solche Beziehung hat die Forscherin/der Forscher zu den Forschungssubjekten. Folg-lich ist methodisch kontrolliertes Fremdverstehen ein Wesensmerkmal interpretativer Sozialforschung.

Neben dem intuitiven Verstehen und dem dokumentarischen Interpretieren unter-scheidet Mannheim zwischen dem immanenten13 und dokumentarischen Sinngehalt einer Handlung. Richtet sich die Aufmerksamkeit auf den dokumentarischen

Sinnge-Mannheim 1980, 88; vgl. zudem Bohnsack 82010, 64 f., 173–186. Somit erhebt die doku-mentarische Methode nicht den Anspruch, das, was erhoben wurde, einer interpretativen Bewertung zuzuführen, sondern den modus operandi des Wissens zu rekonstruieren, d. h. wie eine Gruppe Themen und Probleme bearbeitet.

7 Bohnsack 82010, 19.

8 Bohnsack 82010, 58.

9 Bohnsack 82010, 57.

10 Bohnsack 82010, 59. [Hervorhebungen im Original]

11 Bohnsack 82010, 59.

12 Bohnsack 82010, 60.

13 Den immanenten Sinngehalt unterteilt er zudem in intentionalen Ausdruckssinn (empirisch nicht erfassbar) und objektiven Sinngehalt mit seiner allgemeinen Bedeutung von Handlungen.

halt, so wird die Handlung als ein Dokument für eine Orientierung betrachtet, die die Handlung strukturiert. Um zu diesem dokumentarischen Sinngehalt einer Handlung zu gelangen, ist der modus operandi, der Herstellungsprozess der Handlung, in den Blick zu nehmen, da sich in ihm ein kollektiver bzw. individueller Habitus ausdrückt.

Die dokumentarische Interpretation fokussiert auf diesen dokumentarischen Sinngehalt und möchte gerade mit ihrem sequenzanalytischen Verfahren das strukturierende Ori-entierungsmuster des Handelns anhand des Herstellungsprozesses (‚modus operandi‘) rekonstruieren, und nicht anhand vermuteter Intentionen über seine Herstellung.14

Wie bereits deutlich wurde, ist ein konjunktiver Erfahrungsraum, der sich durch gemeinsam geteilte Erfahrungen und Praxis konstituiert, die Grundlage für einen kol-lektiven Habitus.15 Personen, die einen konjunktiven Erfahrungsraum teilen – bspw.

über Geschlecht, Generation oder Milieu –, verfügen über ein konjunktives „atheoreti-sches Wissen“16, das sie selbst nicht explizieren können bzw. in der Handlungspraxis auch nicht müssen. Dieses Wissen ist intuitiv, es prägt und strukturiert Erfahrung.

Zugleich ist dieses Wissen auch kontextuell. Mannheim verweist in diesem Zusam-menhang auf die Seins- bzw. Standortverbundenheit.17 Es besteht „für jedes Wissen und jede Form der Sinnproduktion eine historische und sozialräumliche Verortung“.18 Konjunktive Erfahrungsräume lassen sich dort rekonstruieren, wo Personen, die einem gemeinsamen Erfahrungsraum angehören, bspw. in einer Gruppe zusammenkommen und in einen alltagsnahen Diskurs treten. Dabei „ist die Gruppe nicht der soziale Ort der Genese, sondern derjenige der Artikulation und Objektivation […] kollektiver Erlebnisschichtung“, nicht der Ort der Emergenz, sondern der Repräsentanz und „somit lediglich ein ‚Epi-Phänomen‘ für die Analyse milieuspezifischer Erfahrungsräume, vermittelt aber einen validen empirischen Zugang zur Artikulation derartiger kollekti-ver Sinnzusammenhänge.“19 Die Bezüge der Gruppenmitglieder aufeinander in ihrem sozialen Gefüge sind zu rekonstruieren, da diese der Alltagkommunikation der Gruppe

14 Folglich wird in der dokumentarischen Interpretation ein „Wechsel von den Was- zu den Wie-Fragen markiert“ (Bohnsack 82010, 64). Im Zentrum steht die sequenzanalytische Interpreta-tion von Handlungen, d. h. wie Personen mit Problemen und Themen umgehen, als Dokument für kollektiv geteilte Erfahrungen.

15 Rekonstruiert die dokumentarische Methode den konjunktiven Erfahrungsraum über den Her-stellungsprozess „jenseits des theoretischen Erkennens und der kommunikativen Absichten“, indem sie auf einer „wissenssoziologischen Analyse in der Praxis“ (Bohnsack 82010, 61) beruht, handelt es sich bei der metatheoretischen Fundierung der dokumentarischen Methode nach Bohnsack um eine praxeologische Wissenssoziologie. Zur praxeologischen Methodolo-gie vgl. Bohnsack 82010, 187–205.

16 Vgl. Mannheim 1980, 73.

17 Vgl. Mannheim 1980, 272–279.

18 Przyborski/Slunecko 2010, 630. Gerade die Fundierung der dokumentarischen Methode in einer praxeologischen Wissenssoziologie mit Fokus auf dem Kollektiven und den kontextu-ellen Bedingungen stellt für Przyborski/Slunecko einen Mehrwert für die Psychologie dar, da diese Methode „die klassische mentalistische und auf das Individuum zentrierte Forschungs-logik“ der Psychologie bereichern würde. Przyborski/Slunecko 2010, 628.

19 Bohnsack 82010, 63.

entsprechen bzw. ihr nahe kommen und Dokumente für gemeinsam geteilte Erfahrungs-schichten sind.20

Die metatheoretischen Überlegungen zur dokumentarischen Methode spiegeln sich im forschungspraktischen Vorgehen wider. Anhand dieser Überlegungen wird das forschungspraktische Vorgehen der dokumentarischen Methode zunächst abstrakt, dann anhand von konkreten Beispielen der vorliegenden Untersuchung exemplifiziert.21