• Keine Ergebnisse gefunden

Narrative Verfahren mündlich und schriftlich

6. Ein didaktischer Ausblick

Die Zielrichtung dieses Beitrags ist in erster Linie eine methodologische. Es geht mir um die Frage, inwieweit und auf welche Weise die medialen Bedingungen des Erzählens in der Analyse narrativer Strukturen berücksichtigt werden kön-nen und müssen, und um die Analyseperspektiven, die sich aus einem solchen Vorgehen ergeben. Diese Analyseperspektiven betreffen die Rekonstruktionen narrativer Strukturen, die Entwicklung narrativer Kompetenzen und – ausgehend davon – die Didaktik des Erzählens in der Schule.

Mein Vorschlag ist, das Erzählen aus der Prozessperspektive zu betrachten und hieraus die Anforderungen abzuleiten, die Erzählen an die Beteiligten jeweils stellt, aber auch die sprachlichen, interaktiven, gestischen usw. Verfahren

inner-steigt dieser Anteil weiter an, bis auf etwa 70 % der Erzählungen. Auch hierin zeigt sich der ‚besondere Ansatz‘, den Lea in ihrer Erzählung verfolgt.

8 Leas Lehrerin spricht in diesem Zusammenhang durchaus kritisch vom „Comic- Stil“

ihrer Erzählungen und macht damit auf das Fehlen der Bilder im Text aufmerksam.

halb des Erzählprozesses, mit denen diese Anforderungen bearbeitet werden (vgl.

auch Ohlhus 2014). Diese Verfahren in ihrem jeweiligen situativen und medialen Kontext sind es, die als Fokus einer vergleichenden Analyse dienen und zu neuen Erkenntnissen über das Verhältnis mündlichen und schriftlichen Erzählens füh-ren können. Der Vergleich mündlicher Erzählprozesse zur Schriftlichkeit bleibt dann nicht auf der Ebene der Erzählstrukturen oder verwendeten sprachlichen Formen stecken, sondern er deckt spezifische narrative Praktiken auf, die jeweils besondere mediale Ausprägungen erkennen lassen.

Was bedeutet diese Analyseperspektive nun für die Didaktik des mündlichen und schriftlichen Erzählens?

Zunächst zeigt die hier vorgestellte Fallstudie sehr deutlich, dass Kinder – beim Erzählen und wohl auch bei anderen Textsorten – sich eigene, individuelle Wege in die schriftliche Gestaltung von Texten suchen. Die Anforderungen, die sich ihnen dabei stellen, aber auch die Strategien, die sie zu ihrer Bearbeitung wählen, hängen nicht zuletzt auch mit ihren mündlichen Rede- und Erzählweisen zusam-men. Die Gleichförmigkeit des mündlichen und schriftlichen Erzählerwerbs im Allgemeinen und die Parallelität dieser beiden Entwicklungsverläufe dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser gemeinsame Weg sehr unterschiedliche An-forderungen stellt (zur Mündlichkeit siehe Ohlhus 2014).

Für das mündliche Erzählen hat die hier vorgestellte Analyseperspektive ge-zeigt, wie sehr es sich lohnt, seine medialen und situativen Bedingungen mitzu-denken und als lebendige Ressourcen im Erzählprozess zu erkennen. Daraus lässt sich einerseits ableiten, dass es wichtig ist, zum Beispiel die Verwendung prosodi-scher und gestiprosodi-scher Mittel bei der Strukturierung einer mündlichen Erzählung auch in die Beurteilung narrativer Kompetenzen mit einzubeziehen. Didaktisch stellt sich hier aber vor allem die Herausforderung, diese Mittel im Rahmen der Förderung von Erzählfähigkeiten zu berücksichtigen und bewusst einzusetzen.

Angefangen bei deskriptiven Elementen über die Herstellung einer Erzählstruk-tur bis hin zur Realisierung affektiver Markierungen können Kinder offenbar in der mündlichen Erzählsituation auf mehr Ressourcen zurückgreifen, als der Blick auf Sprache alleine nahelegt. Es gilt, Wege zu erproben, mit denen der Ein-satz solcher Mittel bewusst und als Ressourcen nicht nur des Erzählens, sondern auch der Reflexion über narrative Strukturen zugänglich gemacht werden kann.

So könnten z. B. Figuren oder Settings in der Interaktion und im Rückgriff auf multimodale Ressourcen entwickelt – und diese Ressourcen dann ganz bewusst zum Gegenstand sprachlicher Bearbeitung gemacht werden. Leas Comicstil ist in diesem Sinne beides: eine Herausforderung für die Leser, insbesondere aber auch eine Ressource für ihre weitere erzählerische Entwicklung.

Mit Blick auf die Schriftlichkeit gilt es, Einstiege in das Erzählen zu finden, die auf die Organisation der Erzählprozesse Rücksicht nehmen, die sich bei Grundschülerinnen und Grundschülern finden lassen. Es gilt also, das Denken fürs Sprechen und für die Interaktion als Ansatzpunkt schriftlichen Erzählens ernstzunehmen, es aufzunehmen und zum Ausgangspunkt schriftlicher Erzähl-prozesse zu machen, um von dort aus insbesondere die Fähigkeiten zur Planung des Erzählprozesses zu erhöhen und auf diese Weise die Möglichkeiten der Offline- Situation besser zu nutzen. Dies kann etwa dadurch gelingen, dass die aus dem mündlichen Erzählen vertrauten Planungsschritte aufgenommen und thematisiert werden, indem man sie zum Beispiel visualisiert. Ein entsprechender Vorschlag findet sich etwa bei Berkemeier (2010). Hier wird ein Erzähltext über-arbeitet, indem er in eine Folge von Szenen heruntergebrochen und ausgehend von dieser Plotstruktur in Arbeitsgruppen ausgearbeitet wird.

Die Parallele zu Film und Hörspiel, die damit gezogen und fruchtbar gemacht wird, drängt sich auch für die Erzählungen von Lea förmlich auf. Vor dem Hintergrund des hier präsentierten Vergleichs ihrer mündlichen und schriftlichen Erzählung besteht der Vorteil eines didaktischen Ansatzes, der von Szenen der Erzählung ausgeht, ins-besondere darin, dass er den Schreibprozess anschlussfähig macht an die Strophen der Mündlichkeit und Gelegenheit bietet, diese aus dem Zeitdruck der Onlineplanung zu befreien und auf diese Weise einem sprachlichen Ausbau und einer sorgfältigen vorgängigen Planung zugänglich zu machen. Auf diese Weise lassen sich Brücken bauen zwischen dem Denken fürs Sprechen und dem Denken fürs Schreiben.

Literatur

Auer, Peter (2010): Zum Segmentierungsproblem in der Gesprochenen Sprache.

In: InLiSt 49.

Becker, Tabea (2002): Mündliches und schriftliches Erzählen. In: Didaktik Deutsch. S. 23–38.

Becker, Tabea (2005): Mündliche Vorstufen literaler Textentwicklung: vier Erzähl-formen im Vergleich. In: Feilke, Helmuth/Schmidlin, Regula (Hrsg.): Literale Textentwicklung. Frankfurt am Main: Lang. S. 19–42.

Berkemeier, Anne (2010): Texte überarbeiten: Das Kino im Kopf hilft mit. In:

Deutschunterricht 63. S. 46–50.

Boueke, Dietrich/Schülein, Frieder/Büscher, Hartmut/Wolf, Hartmann/Wolf, Terhorst (1995): Wie Kinder erzählen. München: Fink.

Claussen, Claus/Merkelbach, Valentin (2004): Erzählwerkstatt. Braunschweig:

Westermann.

Dannerer, Monika (2012): Narrative Fähigkeiten und Individualität. Mündlicher und schriftlicher Erzählerwerb im Längsschnitt von der 5. bis zur 12. Schul-stufe. Tübingen: Stauffenburg.

Ehlich, Konrad (1983): Text und sprachliches Handeln. In: Assmann, Aleida/

Assmann, Jan/Hardmeier, Christof (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis. München:

Fink. S. 24–43.

Feilke, Helmuth (2010): „Aller guten Dinge sind drei“ – Überlegungen zu Text-routinen & literalen Prozeduren. In: Bons, Iris/Gloning, Thomas/Kaltwasser, Dennis (Hrsg.): Fest- Platte für Gerd Fritz.

Gee, James Paul (1986): Units in the Production of Narrative Discourse. In: Dis-course processes 9. S. 391–422.

Gee, James Paul (1989): Commonalities and differences in narrative construction.

In: Discourse processes. S. 287–307.

Gilles, Peter (2005): Regionale Prosodie im Deutschen. Variabilität in der Intona-tion von Abschluss und Weiterverweisung. Berlin: de Gruyter.

Gülich, Elisabeth (1990): Erzählte Gespräche in Marcel Prousts Un Amour de Swann. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur: ZFSL 100.

Gülich, Elisabeth (2007): Mündliches Erzählen: narrative und szenische Rekon-struktion. In: Hardmeier, Christof/Lubs, Sylke (Hrsg.): Behutsames Lesen.

Alttestamentliche Exegese im interdisziplinären Methodendiskurs. Christof Hardmeier zum 65. Geburtstag. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.

Günthner, Susanne (1997): Stilisierungsverfahren in der Redewiedergabe. In:

Selting, Margret/Sandig, Barbara (Hrsg.): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin:

de Gruyter. S. 94–123.

Günthner, Susanne (2005): Narrative reconstuctions of past experiences. Ad-justments and modifications in the process of recontextualizating a past ex-perience. In: Quasthoff, Uta M./Becker, Tabea (Hrsg.): Narrative interaction.

Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins. S. 285–301.

Hausendorf, Heiko (Hrsg.) (2007): Gespräch als Prozess : linguistische Aspekte der Zeitlichkeit verbaler Interaktion. Tübingen: Narr.

Hausendorf, Heiko/Quasthoff, Uta (1996): Sprachentwicklung und Interaktion.

Eine linguistische Studie zum Erwerb von Diskursfähigkeiten. Opladen: West-dt. Verl.

Heritage, John (1984): A change- of-state token and aspects of its sequential place-ment. In: Atkinson, John M./Heritage, John (Hrsg.): Structures of social action.

Cambridge: Cambridge University Press. S. 299–345.

Küntay, Aylin/Ervin- Tripp, Susan Moore (1997): Narrative structure and conver-sational circumstances. In: Journal of Narrative and Life History. S. 113–120.

Labov, William/Waletzky, Joshua (1973): Erzählanalyse: mündliche Versionen persönlicher Erfahrung. In: Ihwe, Jens (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Lin-guistik. Frankfurt am Main: Fischer- Athenäum. S. 78–126.

Levy, Elena T./McNeill, David (2013): Narrative development as symbol forma-tion: Gestures, imagery and the emergence of cohesion. In: Culture & Psychol-ogy 19(4). S. 548–569.

Levy, Elena Terry/McNeill, David (2015): Narrative development in young chil-dren: gesture, imagery, and cohesion. Cambridge, United Kingdom: Cambridge University Press.

McCabe, Allyssa/Peterson, Carole (1991): Developing narrative structure.

Hillsdale/N.J.: Erlbaum.

Ochs, Elinor/Capps, Lisa (2001): Living narrative. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press.

Ohlhus, Sören (2005): Schreibentwicklung und mündliche Strukturierungsfähig-keiten. In: Feilke, Helmuth/Schmidlin, Regula (Hrsg.): Literale Textentwick-lung. Frankfurt am Main: Lang. S. 43–68.

Ohlhus, Sören (2013): Narrative Verfahren zwischen Interaktion und Textualität.

In: Becker, Tabea/Wieler, Petra (Hrsg.): Erzählforschung und Erzähldidaktik heute: Entwicklungslinien, Konzepte, Perspektiven. Tübingen: Stauffenburg.

S. 39–52.

Ohlhus, Sören (2014): Erzählen als Prozess: Interaktive Organisation und narrati-ve Verfahren in mündlichen Erzählungen von Grundschulkindern. Tübingen:

Stauffenburg.

Ohlhus, Sören/Quasthoff, Uta (2005): Genredifferenzen beim mündlichen und schriftlichen Erzählen im Grundschulalter. In: Wieler, Petra (Hrsg.): Narratives Lernen in medialen und anderen Kontexten. Freiburg im Breisgau: Fillibach.

S. 49–68.

Pohl, Thorsten (2005): Die wörtliche Rede als präferierte Realisierungsform der Figurenrede im frühen schriftlichen Erzählen. In: Feilke, Helmuth/Schmidlin, Regula (Hrsg.): Literale Textentwicklung. Frankfurt am Main: Lang. S. 93–112.

Quasthoff, Uta (1993): Dabeisein durch Sprache: Zur Rolle der Perspektive beim konversationellen Erzählen. In: Canisius, Peter/Gerlach, Marcus (Hrsg.): Per-spektivität in Sprache und Text. Bochum: Brockmeyer. S. 129–151.

Quasthoff, Uta M. (1999): Mündliches Erzählen und sozialer Kontext. Narrative Interaktionsmuster in Institutionen. In: Grünzweig, Walter/Solbach, Andreas (Hrsg.): Grenzüberschreitungen. Narratologie im Kontext. Tübingen: Narr.

S. 127–146.

Sacks, Harvey (2010): Das Erzählen von Geschichten innerhalb von Unterhaltun-gen. In: Hoffmann, Ludger (Hrsg.): Sprachwissenschaft: Ein Reader. [3. aktua-lis. und erw. Aufl.] Berlin: de Gruyter. S. 275–282.

Schmidlin, Regula (1999): Wie deutschschweizer Kinder schreiben und erzählen lernen. Tübingen: Francke.

Schülein, Frieder/Wolf, Dagmar/Boueke, Dietrich (1995): Mündliche und schriftliche Erzähltexte von Kindern und Erwachsenen. In: Baurmann, Jürgen (Hrsg.): Schreiben. Opladen: Westdt. Verlag. S. 243–269.

Scollon, Ron/Scollon, Suzanne (1995): Somatic communication. In: Quasthoff, Uta M. (Hrsg.): Aspects of oral communication. Berlin: de Gruyter. S. 19–29.

Selting, Margret (1995): Prosodie im Gespräch. Tübingen: Niemeyer.

Selting, Margret (2004): Listen: Sequenzielle und prosodische Struktur einer kom-munikativen Praktik- eine Untersuchung im Rahmen der Interaktionalen Lin-guistik. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft (ZS). S. 1–46.

Selting, Margret/Auer, Peter/Barth- Weingarten, Dagmar/Bergmann, Jörg/Berg-mann, Pia/Birkner, Karin/Couper- Kuhlen, Elisabeth/DepperJörg/Berg-mann, Arnulf/

Gilles, Peter/Günthner, Susanne/Hartng, Martin/Kern, Friederike/Mertzlufft, Christine/Meyer, Christian/Morek, Miriam/Oberzaucher, Frank/Peters, Jörg/

Quasthoff, Uta M./Schüte, Wilfried/Stukenbrock, Anja/Uhmann, Susanne (2009): Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächs-forschung. Online- Zeitschrift zur verbalen Interaktion. S. 353–402.

Slobin, Dan Isaac (1987): Thinking for speaking. In: Proceedings of the Thirteenth Annual Meeting of the Berkeley Linguistics Society. S. 435–445.

Strömqvist, Sven/Nordqvist, Åsa/Wengelin, Åsa (2004): Writing the Frog Sto-ry. In: Strömqvist, Sven/Verhoven, Ludo (Hrsg.): Relating events in narrative.

Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum Assoc. S. 359–394.

Streeck, Jürgen (2009): Gesturecraft. The manu- facture of meaning. Amsterdam u. a.: Benjamins.

Stude, Juliane/Ohlhus, Sören (2005): Schreibenlernen in interaktiven Kontexten.

In: Stückrath, Jörn/Strobel, Ricarda (Hrsg.): Deutschunterricht empirisch. Balt-mannsweiler: Schneider. S. 68–87.

Weinhold, Swantje (2005): Narrative Strukturen als „Sprungbrett“ in die Schrift-lichkeit? In: Wieler, Petra (Hrsg.): Narratives Lernen in medialen und anderen Kontexten. Freiburg im Breisgau: Fillibach. S. 69–84.

Wilkinson, Sue/Kitzinger, Celia (2006): Surprise as an Interactional Achieve-ment: Reaction Tokens in Conversation. In: Social Psychology Quarterly 69.

S. 150–182.

Kinder erklären Zaubertricks – mündliche und