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Diagnostische Besonderheiten

Diagnostik bezeichnet die Gesamtheit der Verfahren und Theorien, welche dazu verwendet werden, um Verhalten und psychische Prozesse einzelner Personen oder auch von Gruppen zu erforschen (Konrad Bundschuh, 2013, S. 85). Diagnosen dienen dazu, die unendliche Komplexität menschlicher Verhaltensauffälligkeiten fassbar zu machen und diese auf eine überschaubare Grösse zu reduzieren.

Aus fachlicher Sicht sind Diagnosen notwendig, damit Hilfe gewährleistet werden kann, die Kommunikation zwischen Fachpersonen vereinfacht wird und damit ein Zuspruch therapeutischer Massnahmen stattfinden kann, da jede Therapieempfehlung auf einer diagnostischen Einschätzung beruhen muss (Klaus Hennicke, 2005, S. 350). Diagnostische Massnahmen sollten dann veranlasst werden, wenn die entwickelten Verhaltensweisen im Kontext nicht mehr verstehbar sind, wenn sie als untragbar und störend empfunden werden, wenn sie eine bisherige Lebens- und Entwicklungskontinuität unterbrechen, subjektiv als quälend und unangenehm empfunden werden, sie eine Veränderung typischer Gewohnheiten, Fähigkeiten und Verhaltensmuster bedeuten oder wenn sie ein zu hohes Risiko für die Person selbst und andere bedeuten (Hennicke, 2005, S. 352).

Menschen mit einer geistigen Behinderung können ihr Leiden oftmals nur indirekt mitteilen, weshalb die Angehörigen und die betreuenden und begleitenden Personen eine sehr hohe Verantwortung tragen. Denn sie sind dafür zuständig, die notwendigen diagnostischen Massnahmen zu veranlassen.

Häufig werden jedoch die Verhaltensauffälligkeiten von Angehörigen, Lehrerinnen und Lehrern und

den Betreuenden in Institutionen als typische Besonderheit der Ausdrucksweise von Menschen mit einer geistigen Behinderung angesehen. Es wird darauf oftmals mit einer verstärkt abwehrenden und verleugnenden Art reagiert, als wenn diese Verhaltensauffälligkeiten bei nichtbeeinträchtigten Menschen auftreten würden. Häufig wird also durch das Etikett der „geistigen Behinderung“ die Wahrnehmung einer vorliegenden psychischen Störung erschwert oder sogar verhindert (Overshadowing) (Hennicke, 2005, S. 362). Ebenso kann eine bereits bestehendes Verhalten, wie beispielsweise Bewegungsstereotypien, durch den Beginn einer psychischen Störung verstärkt werden. Durch die Entstehung der psychischen Störung wird die bestehende Verhaltensauffälligkeit vermehrt und verstärkt vorkommen, was das Erkennen der psychischen Störung für das Umfeld zusätzlich erschwert (Baseline exaggeration) (Schanze, 2014, S. 31).

Zur Diagnostik psychiatrischer Störungen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung werden dieselben Diagnostikinstrumente verwendet wie bei nicht beeinträchtigten Menschen. Dies kann jedoch zu Schwierigkeiten führen, da die Symptomatik verschieden ist und die Symptome eine unterschiedliche Bedeutung haben (Došen, 2018, S. 16). Die Diagnostik wird weiter durch die begrenzten kognitiven und kommunikativen Möglichkeiten dieses Personenkreises erschwert (Došen, 2018, S. 17). Dieses Phänomen wird mit dem Begriff „underreporting“ bezeichnet (Schanze, 2014, S.

32). Je geringer die kommunikativen Fähigkeiten der Person sind, desto wichtiger sind die Informationen und Beobachtungen der Angehörigen und der Begleiterinnen und Begleiter, welche die Person und ihre Verhaltensweise täglich beobachten können (Hennicke, 2005, S. 360). Ein weiteres Phänomen, welches das Erkennen einer psychiatrischen Störung erschwert, ist das psychosocial masking. Die verminderte soziale Fähigkeit und die nur eingeschränkte Möglichkeit Lebenssituationen in allen Einzelheiten zu erfahren, können dazu führen, dass die Ausprägung der psychiatrischen Störung abgestumpft und stark vereinfacht in Erscheinung tritt und somit nicht als diese erkannt wird (Schanze, 2014, S. 32). Mit zunehmendem Schweregrad der Behinderung werden die Äusserungsformen der psychischen Störung simpler und damit aber in sich zunehmend vieldeutiger und für die beobachtende Person schwerer zu entschlüsseln. Menschen mit einer geistigen Behinderung haben eine eigene Art mit Belastungen und irritierenden Lebensereignissen umzugehen.

Diese Tatsache verändert die übliche psychiatrische Diagnostik und macht sie unsicherer (Hennicke, 2005, S. 361). Die Diagnostik bei Menschen mit einer geistigen Behinderung ist meist langwieriger als bei Nichtbehinderten und die untersuchende Person muss viel Zeit, Geduld und die Bereitschaft, auch mehrere Kontaktversuche zu machen, mit sich bringen (Hennicke, 2005, S. 363).

Schwierigkeit Kennzeichen

Underreporting Durch eingeschränkte Fähigkeiten zur Kommunikation und Introspektion werden psychopathologische Phänomene nur unzureichend mitgeteilt

Tabelle 3: Diagnostisch-methodische Probleme (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Schanze, 2014)

Hennicke (2005) betont, dass trotz der erschwerenden Faktoren ausreichende Voraussetzungen gegeben sind, um mit den heutigen psychiatrischen diagnostischen Methoden und Techniken eine psychische Störung bei Menschen mit einer geistigen Behinderung zu erkennen, zu diagnostizieren und eine qualifizierte Behandlung zu begründen (Hennicke, 2005, S. 363). Michael Buscher und Klaus Hennicke (2017) betonen jedoch, dass die Diagnose gemäss dem Klassifikationssystem ICD-10 nicht als absolute Wahrheit zu betrachten ist. Diagnostische Einschätzungen können die persönliche Sichtweise, die Haltung und Meinung gegenüber der Person beeinflussen und dazu führen, dass Stigmatisierung und Etikettierung entstehen (S. 66). Um ein ganzheitliches Bild zu erfassen und den Hintergrund für das auffällige Verhalten zu verstehen, benötigt es weitere Betrachtungen. Diagnostik gelingt besonders, wenn verschiedene Blickwinkel betrachtet werden, weshalb das alleinige Stützen auf Klassifikationssysteme bei dieser Personengruppe nicht ausreicht (Buscher & Hennicke, 2017, S.

74). Wie bereits erwähnt besteht die Gefahr von overshadowing oder underreporting, oftmals weil sich die Klientel nicht richtig ausdrücken können und daraus resultierende Verhaltensänderungen missverstanden werden. Gemäss Buscher und Hennicke (2017) ist es deshalb wichtig, stets die Multikausalität von Verhalten zu betrachten und somit auch das ganze Umfeld des Klienten zu betrachten. Gab es im Laufe der Zeit Veränderungen in der Familie oder verbergen sich vielleicht traumatisierende und überfordernde Situationen hinter dem Verhalten? Wann tritt genau das auffällige Verhalten auf und sind zusätzliche körperliche Veränderungen sichtbar? Oftmals steckt hinter der Entstehung der psychischen Störung ein oder mehrere Ereignisse, Traumata oder nicht überwindbare Entwicklungsschritte, die genauso in das Krankheitsbild mit einbezogen werden müssen, wie die psychopathologische Diagnose (S. 76). In einem weiteren Schritt sollte sich Diagnostik auch mit der Frage beschäftigen, welche Vorerfahrungen im Bezug zu dieser Person bereits gemacht wurden, was hilfreich oder eben herausfordernd war im Umgang mit ihnen und welche Methoden bereits hilfreich waren (ebd.). So können bereits bestehende Schutzfaktoren und Ressourcen der Klientinnen und Klienten erkannt und allenfalls erweitert werden (Buscher & Hennicke, 2017, S. 79).

Zusammenfassend sollte die Diagnostik psychischer Störungen bei Menschen mit einer geistigen Overshadowing Psychiatrische Symptome werden fälschlicherweise dem aus der geistigen

Behinderung resultierenden Verhalten zugeordnet

Baseline exaggeration Vermehrtes Auftreten vorbestehender Verhaltensweisen im Rahmen einer psychischen Störung

Psychosocial masking Verminderung sozialer Fähigkeiten durch die intellektuelle Minderbegabung führt zu undifferenzierter Präsentation psychiatrischer Störungen

Behinderung umfassend in allen Lebensbereichen und ihrem Kontext erfolgen, sowohl aus psychiatrischer als auch aus (heil-) pädagogischer Sicht (Buscher & Hennicke, 2017, S. 61).

Nun geht es darum, das Thema in der Aus- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten, Psychologinnen und Psychologen, von Krankenpflegenden und von den Fachpersonen der Heil- und Sozialpädagogik zu behandeln (Hennicke, 2005, S. 364). Hennicke (2005) fordert auch eine Erweiterung der wissenschaftlichen Grundlagen und somit die Schaffung eines qualifizierten psychiatrisch, psychotherapeutischen und (heil-)pädagogischen Spezialgebietes „Psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung“ (S. 364).