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Deutschland behindert Schahriar und Schayan Bahmani

Parissa Bahmani markiert die Migration als Bruch im Leben ihrer Familie und vor allem in den Entwicklungsmöglichkeiten ihres älteren Sohnes.

»[pers.] Als wir dann hier ankamen, der Umzug, hat unser Leben verändert. Wir wurden mit den Problemen hier konfrontiert. Es hat unser Leben verändert. Plötzlich war er mit zwei Sprachen konfrontiert« (4, 75 M).

Alles, was sie ihrem älteren Sohn beigebracht hatte, verliert in Deutschland seinen Wert. So werden seine Kompetenzen in der Erstsprache Persisch bei den diagnostischen Tests nicht berücksichtigt. Parissa Bahmani erkennt, dass die Möglichkeiten einer guten Beschulung ihres Sohnes davon abhängen, ob er über gesprochene Sprache verfügt. Sie weiß um die Schwierigkeit, die Sprach-kompetenz in der Erstsprache der Kinder nachzuweisen, vor allem, weil die Logopäd*innen nicht entsprechend geschult oder mehrsprachig sind. Zudem fehlen für viele Sprachen diagnostische und therapeutische Materialen. Män-gel auszugleichen ist Parissa Bahmani gewohnt. So versucht sie auch hier, die fehlenden Kompetenzen des Fachpersonals zu kompensieren, indem sie sich um einen Dolmetscher bemüht, der die Sprachkenntnisse Schayan Bahmanis im Persischen bescheinigen kann. Hatte sie in Iran mit ausgleichenden Maß-nahmen bisher gute Erfahrungen gemacht, muss sie allerdings in Deutsch-land feststellen, dass ihre Möglichkeiten der Einwirkung limitiert sind. Sie scheitert bei dem Versuch zu verhindern, dass ihr Sohn auf eine Förderschule kommt, die sie für ungeeignet hält – auch weil sie ihren Sohn in der Schule einer sozialen Isolation ausgesetzt sieht. Waren es in Iran eher die Lehrinhalte, die sie für ausbaufähig hielt, ist es in Deutschland die Gesamtstruktur des Bildungssystems, der sie kritisch gegenüber steht und in der sie migrations-spezifische Barrieren und Benachteiligungen identifiziert: Sie vermutet, dass die Entscheidung zur Beschulung in einem Zusammenhang mit den als nicht ausreichend wahrgenommenen Deutschkenntnissen des Sohnes steht. Das Förderschulsystem durchschauend, erkennt sie qualitative Unterschiede inner-halb der Förderschulen mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung. In der Schule ihres Sohnes, die sie unterhalb der einer »Sonderschule« klassifiziert,

werde lediglich eine Aufbewahrung der Kinder betrieben: »Keine Schreibe, kein zählen, gar nichts. Nur wie Wohngruppe, Wohnheim« (4, 86 M).

Eine Aufbewahrung ohne Bildungsmöglichkeiten passt nicht in ihr Kon-zept von Partizipation. Zwar wird ihr versichert, ihr Sohn werde auch in die-ser Schule lernen können, doch sie bezweifelt, dass es einen Weg zurückgibt, wenn sich ihr Sohn erst einmal auf dieser Schule befindet: »[dt.] Ist sehr sehr schlimm und schwierig. Da habe ich gesagt: ›Ok. Wissen sie, ich mach das‹«

(4, 93  M). Parissa Bahmani resigniert: Sie kann nicht verhindern, dass ihr Sohn auf diese Schule geschickt wird, und gibt auf, sich gegen die Institutio-nen Schulamt und Schule durchzusetzen. Gleichzeitig nimmt sie sich vor, die Bildung ihres Sohnes selbst in die Hand zu nehmen. Sie ist die Gestalterin, übernimmt die aktive Rolle in der Ausgestaltung der Bildungsmöglichkeiten ihres Sohnes. Damit knüpft sie an die kompensatorischen Handlungen aus der Kindergartenzeit Schayan Bahmanis in Iran an. Gleichwohl stellt sie dieses Vorhaben in Deutschland vor größere Herausforderungen:

»[dt.] Wenn hat unterschiedliche Kinder, viel überaktiv und sehr sehr schlimmer und liegt im Bett und hat Angst. Und auch wenn nicht kann sagen, ich habe Angst. Ohne kann sprechen, er ist sehr schwierig [unverständlich] Hatte viel Übung in Iran, sehr gut sprechen persisch, aber kleine Satz, aber jetzt Probleme. Persisch sprechen versteht gut. [pers.] Nach einiger Zeit habe ich festgestellt, dass das Kind ganz isoliert ist in der Schule. Er fühlte sich nicht wohl, weinte immer, und hatte Angst. Es ging dann so weit, dass er sein Bett nass gemacht hat in der Nacht. Daraufhin habe ich ihn zu einer Homöo-pathin genommen. Die sagte, das macht nichts. Dafür gibt es Medikamente. Ich sagte, das hat es vorher nie gegeben. Das ist ja eine [dt.] Katastrophe. [pers.] Wir kannten … so etwas hatte er nicht. Sie sagte, das macht nichts. Ich gebe ihm Medikamente und das hat tatsächlich geholfen. Er blieb in der Schule. Wir haben alles versucht, ihn da rauszuholen, aber das ging nicht, und er blieb da« (4, 95 M).

Die Klassengröße stellt Schayan Bahmani vor Probleme. Er kann nachts nicht mehr schlafen, aus Angst, so vermutet die Mutter, vor der großen Anzahl von Kindern, mit denen er in der Schule zusammen ist. Zu diesem strukturellen Problem kommt hinzu, dass er sich auch nicht mehr verständigen kann. Zu-dem spricht die Mutter selbst kein (bzw. später kaum) Deutsch.

Das Grundgefühl des durch äußere Barrieren erschwerten Lebens und ihre Erfahrungen mit Ausgrenzungen werden auch in der Schilderung über die Situation des jüngeren Sohnes Schahriar vermittelt. Nach zwei Jahren ohne Kindergartenplatz wird Schahriar schließlich in einer Einrichtung aufgenom-men. Doch nach kurzer Zeit soll Schahriar die Einrichtung wieder verlassen.

»[pers.] Da gab es dann ein faschistisches Verhalten uns gegenüber. Sie sagten uns, das ist nicht sein Platz hier. Er solle in einen integrativen Kindergarten gehen. Da

muss-ten wir suchen, um ihn in einen integrativen Kindergarmuss-ten zu bringen. Nach kurzer Zeit im Kindergarten riefen sie mich an und sagten mir, das Kind fühle sich nicht wohl. Er hätte sich übergeben. Ich solle kommen und das Kind wegnehmen. Ohne überhaupt, dass der Arzt mal nach ihm sieht. Je mehr er in seinem Erbrochenen drin war, wurde ihm immer schlechter. Statt ihm zu helfen, haben sie mich gerufen. Daraufhin haben sie gesagt, das Kind hat Probleme. Es muss auf eine Sonderschule« (4, 178 M).

Die Aussagen der Erzieher*innen bewertet Parissa Bahmani als »faschisti-sches Verhalten«. Um auf eine Diskriminierung aufmerksam zu machen, ver-wendet sie mit Bezug zum Faschismus ein starkes Wort. Unwahrscheinlich ist, dass sie dieses gebraucht, um auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands und den Umgang mit behinderten Menschen zu rekurrieren.

Möglicherweise ist die Verwendung des Begriffs dem außerordentlich meta-phorischen, emotionalen und zur Übertreibung neigenden persischen Sprach-gebrauch geschuldet. Durch das Vorwissen der pädagogischen Fachkräfte über die Familiengeschichte und die Behinderung von Schayan Bahmani sowie sei-ner Beschulung auf der Förderschule sei auch Schahriar stigmatisiert worden.

Die Mutter vermutet, dass sie so auf die Idee kamen, Schahriar ebenfalls dort zu beschulen, ohne zu überprüfen, ob seine Deutschkenntnisse nicht für eine andere Schule ausgereicht hätten (»[pers.] Aber Schahriar spricht doch. Das ist der Unterschied zu anderen«, 4, 224 M). Dabei ist es nicht die Aussage, ihr Sohn habe eine Behinderung, sondern vielmehr die Konsequenz, die sich daraus für Schahriar ergibt, die Parissa Bahmani als ein »faschistisches« Ver-halten deutet. Kompetenzen ihres Sohnes bleiben unberücksichtigt, Schahriar darf nicht dabei sein und muss den Kindergarten verlassen. Um den falschen Deutungen der pädagogischen Fachkräfte Nachdruck zu verleihen, grenzt sie Schahriar von anderen behinderten Kindern in der Einrichtung ab, die ihrer Meinung nach über weniger gesprochene Sprache als er verfügen. Hat sie bei ihrem älteren Sohn schnell resigniert, nimmt sie in diesem Fall das Über-ihren-Kopf-Entscheiden nicht mehr ohne weiteres hin. Sie weiß um ihre Defizite im Deutschen, lässt sich davon aber nicht einschüchtern, wie sie in folgender Sequenz eindrücklich zeigt:

»[pers.] Daraufhin bin ich selber zum Schulamt gegangen, habe mit meinen bescheide-nen Mitteln in der Sprache mit dem Mann gesprochen und habe ihn gefragt: ›Ist es für sie wichtig, dass er ein Deutscher ist oder zählt, dass er ein Mensch ist?‹ Und er sagte:

›Was sagen sie da? Natürlich ist es für uns wichtig, dass er ein Mensch ist.‹ Ich sagte ihm, ja dann lassen sie mich ein Beispiel nennen aus meinen Erfahrungen und Studien, die ich in Iran gemacht habe: ›Wenn einer eine Depression hat und psychisch krank ist und der andere vielleicht auch darunter leidet, findet sie es dann richtig, den einen zu dem anderen, der auch eine Depression hat, zu stecken oder vielleicht auch anders wo, wo andere Menschen fröhlich sind, wo er auf andere Gedanken kommen kann?‹

Darauf-hin sagte er: ›Ja natürlich zu den Fröhlichen.‹ Sie machen doch aber genau das Gegenteil davon, in dem sie ein Kind, dass nur ein leichtes Problem hat, weil er aktiv ist, stecken sie es zu den anderen, die riesige Probleme haben. Was er ja noch gar nicht erlebt hat.

Statt jetzt von den anderen, den intelligenteren Personen, etwas mehr zu lernen, muss-te er dann bei den anderen bleiben. Warum tun sie das?« (4, 198 M).

Parissa Bahmani befindet sich in einer Gesprächssituation in einem institutio-nellen Setting mit formalhierarchischen Strukturen: im Schulamt, das über die Beschulung des Sohnes entscheidet. Zu diesem Ungleichgewicht kommen zum einen die von ihr selbst als bescheiden charakterisierten Deutschkennt-nisse hinzu, mit denen sie gezwungen ist, das Gespräch im Schulamt zu füh-ren, zum anderen die fehlende Vertrautheit mit den Institutionen sowie den Rechtsansprüchen für behinderte Kinder. Der durch die Verwobenheit der Kategorien Migration und Behinderung entstehenden Asymmetrie ist sich Parissa Bahmani durchaus bewusst. Mit der von ihr verwendeten Differenz

»Deutscher« (zu »Nichtdeutscher«, die sie hier nicht explizit nennt) und der damit einhergehenden Positionierung ihres Sohnes als nichtdeutsch unter-streicht Parissa Bahmani nochmals, dass sie die Anweisung, Schahriar auf dieselbe Schule zu schicken, die bereits ihr älterer Sohn besucht, im Kontext der Diskriminierung verortet. Ihren Sohn in seiner Weiterentwicklung zu behindern, sei eine Entscheidung, die vielmehr im Zusammenhang mit der Wahrnehmung einer iranischen Herkunft denn Schahriars Leistungen bzw.

seinen Deutschkenntnissen stehe. Nun appelliert sie an den Mitarbeiter des Schulamtes, sich das Menschsein ihres Sohnes ins Bewusstsein zu rufen und erst dann eine Entscheidung zu treffen. Hat sie sich bei Schayan Bahmanis Beschulung noch abfertigen lassen, versucht sie hier, die Asymmetrie des Ge-sprächs zu verringern, in dem sie sich mit ihrer Expertise hervortut, die sie aus Iran mitbringt. Durch ihre Erläuterungen über gute Lernsettings versucht sie, Überzeugungsarbeit zu leisten: Kinder sollen voneinander lernen. Wie an an-derer Stelle im Interview zieht sie dabei – ohne der weiteren Analyse vorgreifen zu wollen – Iran als ihr Referenzsystem heran. Auch an späterer Stelle thema-tisiert sie in einer stark argumentativ geprägten Sequenz ihre Vorstellung von Bildung und Teilhabe und greift damit – wenn auch unbewusst – den Diskurs um ein inklusives Schulsystem sowie anregende, heterogene Lernsettings auf:

»[pers.] Warum versucht man nicht, mehr Kontakt herzustellen? Dass diese Kinder iso-liert werden und nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen? Die Klassifika-tion ist aber nicht ganz in Ordnung. Statt dem Kind die Möglichkeit zu geben, bei etwas höherem drin zu sein in der Klasse oder so, wird er so klassifiziert, dass er sogar in unteren Klassen rein kommt und er so überhaupt nichts lernt. So wird es nicht besser«

(4, 390 M).

Diese Aussage verdeutlicht abermals, dass der Einsatz der Mutter gegen die Beschulung auf dieser speziellen Förderschule nicht mit einem Nichtwahr-habenwollen der Behinderung im Zusammenhang steht, sondern mit ihrer kritischen Haltung gegenüber den segregierenden Maßnahmen im Schulsys-tem und den Programmen der Behindertenhilfe in Deutschland, die ihrer Mei-nung nach ineffektiv sind und nicht ihrem Anspruch von Bildung entsprechen (4, 232 M).

Trotz dieses Einsatzes ist Parissa Bahmani nicht erfolgreich: Zwar gibt der Mitarbeiter des Schulamtes vor, von ihren Äußerungen beeindruckt zu sein und scheint für den Moment überzeugt, dennoch scheitert sie schließlich an der Bereitschaft der Lehrkräfte und dem wenig engagierten Schulamt. Schah-riar muss auf die von ihr nicht gewollte Schule gehen.

Parissa Bahmani befindet sich im Ringen um Partizipation für Schahriar in einem machtvollen System, in dem sie das Schulamt als Hindernis identi-fiziert (4, 218 M). Diesem System hat sie kaum mehr etwas entgegenzusetzen, weil ihr die Rechtsansprüche fremd sind, die den Kindern und Eltern zuste-hen. Das mächtige System findet seinen Höhepunkt, als sie ihr Kind auf einer Montessori-Schule anmelden will und sie dort durch falsche Informationen eingeschüchtert wird:

»[pers.] Die haben mir aber gesagt: ›Wenn sie das Kind von der Schule nehmen und das Kind zu uns bringen und wir nach einem Jahr feststellen, dass er das alles nicht mitma-chen kann, und wieder zurück gehen muss, dann nehmen sie ihn nicht mehr zurück.‹ Ich weiß nicht, ob diese Aussage überhaupt stimmt« (4, 418 M).

Aufgrund ihrer fehlenden Kenntnisse bzw. ihres unvollständigen Wissens zur Schulpflicht kann sie ihre Vorstellungen für den Sohn nicht durchsetzen.

Durch falsche Informationen wird die den Vertreter*innen der Institution läs-tige und unerwünschte Hartnäckigkeit ausgeschaltet. Parissa Bahmani gibt auf, und Schahriar wird auf der derselben Schule wie sein Bruder eingeschult.

Sie fällt zurück in eine Hektik, die für die Söhne bedeutet, sich erneut bei di-versen Ärzt*innen vielen Untersuchungen unterziehen zu müssen.