• Keine Ergebnisse gefunden

1. Einführung und Überblick

1.2 Der Rational-Choice-Ansatz

Den grundsätzlichen theoretischen Rahmen zur Untersuchung der Rückkehr-, Mobilitäts- und Arbeitszeitentscheidungen bildet die Theorie der rationalen Wahl oder Rational-Choice-Theorie.

Diese geht von einem subjektiv rationalen Akteur aus, „der bei gegebenen Präferenzen in sozial vorgegebenen Situationen seinen Nutzen maximiert“ (Hill und Kopp 2004: 125). Als rationales Handeln gilt dabei jedes individuelle Handeln, das kurz-, mittel- oder langfristig zweckgerichtet, das heißt auf das eigene Wohlergehen der Individuen ausgerichtet ist (Granovetter 1985). Die Rationalität

der Handlung liegt dabei nicht in ihrem Ergebnis3, sondern im Prozess der Handlungswahl. Es wird daher auch von prozeduraler Rationalität bzw. Rationalität der Prozedur, anhand derer Handlungsentscheidungen getroffen werden, gesprochen (Simon 1978). Dabei ist es unwichtig, ob dem Akteur innerhalb seines Denkprozesses objektiv betrachtet ein „Fehler“ unterlaufen ist. Solange die Handlung Ergebnis eines rationalen Denkprozesses ist, gilt sie als rational (Diefenbach 2009).

Kern der Rational-Choice-Theorie ist die Überlegung, wie eine Handlung zur Maximierung des eigenen Wohles in einer bestimmten Situation aus einer Menge von Handlungsalternativen ausgewählt wird. Dabei gibt es kein objektives Kriterium, wann eine Handlung die beste Alternative darstellt oder welche Ziele verfolgt werden sollten. Vielmehr entschließen sich Akteure zu den Handlungen, die ihnen unter Berücksichtigung ihrer subjektiven Interpretation der Handlungssituation den maximalen Nutzen einbringen (Hill und Kopp 2004). Von welchen Faktoren das eigene Wohl eines Akteurs beeinflusst wird, hängt also von den subjektiven Präferenzen ab.

Diese Präferenzen sind dabei nicht nur individuell verschieden, sondern unterscheiden sich auch je nach situativem Kontext, in dem sich der Akteur befindet. Dieser Kontext beeinflusst damit die Handlungen von Akteuren und steht am Anfang der Erklärung gesellschaftlicher Phänomene (Opp 1992). Er ist dabei jedoch nicht als unabhängiger Ausgangszustand zu sehen, sondern resultiert in der Rational-Choice-Theorie aus dem Aggregat vorgelagerter individueller Handlungen.

Die Rational-Choice-Theorie gilt als strukturell-individualistischer Ansatz, da ihr die Annahme zugrunde liegt, dass sozialwissenschaftliche Phänomene durch das Zusammenwirken individueller Handlungen unter bestimmten makrostrukturellen Bedingungen erklärt werden. Ausgangspunkt aller Analysen ist aus methodologischer Sicht daher das handelnde Individuum (Coleman 1991; Raub und Voss 1981). Mit dieser Annahme gehört die Rational-Choice-Theorie grundsätzlich der paradigmatischen Grundposition des methodologischen Individualismus an, wonach „alle sozialen Phänomene […] immer als das Resultat der Entscheidungen, Handlungen, Einstellungen usf.

menschlicher Individuen verstanden werden sollten“ (Popper 1992: 116). Individuen und ihre Handlungen stellen damit die kleinste Einheit jeder Erklärung gesellschaftlicher Phänomene dar.

Durch die Verknüpfung gesellschaftlicher Strukturen mit individuellen Handlungen versucht die Rational-Choice-Theorie zu erklären, wie gesellschaftliche Phänomene als unbeabsichtigte Folgen absichtsvollen Handelns entstehen. Die Anwendung erfordert daher die Einbeziehung von (mindestens) zwei Ebenen4: die Makroebene, die soziale Strukturen und kollektives Verhalten abbildet und die Mikroebene, auf der individuelle Handlungen stattfinden. Die Beziehung der beiden Ebenen können in einem Grundmodell (Abbildung 1.1) dargestellt werden.

3 Dies ist in der klassischen SEU-Theorie (subjective expected utility), die als Kerntheorie der Rational-Choice-Theorie gesehen werden kann, der Fall, wonach Akteure ihre Handlungswahl unter Unsicherheit und mithilfe der Berechnung subjektiver Eintrittswahrscheinlichkeiten treffen (Bernoulli 1954; Savage 1954).

4 Insbesondere in der organisationssoziologischen Literatur wird zusätzlich die Mesoebene, auf der Organisationen oder Betriebe angesiedelt sind, eingeführt.

Um gesellschaftliche Phänomene erklären zu können, sind drei Schritte von theoretischen Aussagen notwendig (Coleman 1990). Zunächst müssen aber die in der Handlungssituation herrschenden strukturellen bzw. systemimmanenten Bedingungen spezifiziert werden, die die Handlungen von Akteuren beeinflussen und die am Anfang der Erklärung gesellschaftlicher Phänomene stehen. Die Einbettung der Akteure in den sozialen Kontext bestimmt die Ausgangssituation auf Makroebene, an der die individuellen Handlungen ausgerichtet werden. Dazu müssen Akteure ihre Handlungssituation wahrnehmen und anhand ihrer Vorerfahrungen mit ähnlichen oder gleichen Erfahrungen interpretieren (Diefenbach 2009).

Abb. 1.1: Strukturell-individualistisches Schema der soziologischen Erklärung

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Coleman (1990: 8) und Diefenbach (2009: 261)

In einem ersten Schritt werden dann sogenannte Brückenannahmen formuliert (1), die das individuelle Handeln in Abhängigkeit der sozialen Strukturen auf Makroebene betrachten, also eine Verbindung von Individuum und Gesellschaft herstellen. Die Wahrnehmung der Handlungssituation unterscheidet sich je nach Werten und Präferenzen der Individuen. Daraus ergeben sich verschiedene Handlungsalternativen, deren Zielerreichungsmöglichkeiten durch die (soziale) Umgebung beschränkt werden (Hill und Kopp 2004).

In einem zweiten Schritt entscheiden sich Akteure mit gegebenen Präferenzen und aktuellen Bedürfnissen für die Handlung (2), die sie in Anbetracht ihrer verfügbaren Mittel und Möglichkeiten und unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände am ehesten zum persönlichen Ziel führt. Dabei findet eine Abwägung der Nutzen und Kosten (inklusive Transaktions- und Opportunitätskosten) der

möglichen Handlungsalternativen statt. Gewählt wird die Handlungsalternative, die den höchsten Nutzen verspricht (Diekmann und Voss 2004; Langenheder 1975).5

Abschließend muss in einem dritten Schritt angegeben werden, auf welche Weise die individuellen Handlungen zum gesellschaftlichen Phänomen führen (3), also die Explikation der gesellschaftlichen Folgen individuellen Handelns (Hill und Kopp 2004). Dies geschieht unter Anwendung der Transformationsregel (Lindenberg 1977). Da hierbei insbesondere auch unintendierte kollektive Folgen absichtsvollen Handelns modelliert werden müssen und sich diese in Abhängigkeit bestimmter Kombinationen individueller Handlungen ergeben, sind Transformationsregeln häufig komplexer, als das einfache Aufsummieren individueller Handlungsergebnisse (Coleman 1990;

Diefenbach 2009; Opp 1979). Die aus dem Aggregat der individuellen Handlungen entstehenden gesellschaftlichen Phänomene können wiederum in nachgelagerten Erklärungsmodellen als Ausgangspunkt dienen. Jedes Rational-Choice-theoretische Erklärungsmodell beginnt somit bei der Spezifikation der strukturellen Handlungsbedingungen, die aber ihrerseits in einem vorgeschalteten Erklärungsmodell erklärt werden können (Opp 1992).

Überträgt man die Grundannahmen des strukturell-individualistischen Erklärungsmodells auf die Untersuchung der Rückkehr-, Mobilitäts- und Arbeitszeitentscheidungen von Individuen, dürfen die haushaltsinternen Strukturen, gesellschaftlichen Wertevorstellungen und arbeitsmarkt- und familienpolitischen Rahmenbedingungen nicht unberücksichtigt bleiben. Die Interdependenz der (makro-)strukturellen Kontextbedingungen und individuellen Entscheidungslogiken muss explizit einbezogen werden (Mincer 1978; für einen Überblick siehe Kalter 2000): So beeinflussen aktuelle arbeitsmarkt- und familienpolitische Regelungen, gesellschaftliche Normen und vorliegende Haushaltsstrukturen die individuellen Erwerbs- und Mobilitätsentscheidungen. Anschließend produzieren die Akteure mit ihrem Entscheidungsverhalten bestimmte berufliche, haushaltsinterne und ökonomische Konsequenzen, die im Aggregat in bestimmte Arbeitsmarkt- und Haushaltsstrukturen münden. Dadurch werden neue Handlungsbedingungen und Situationen für die Akteure geschaffen, die wiederum Einfluss auf zukünftige individuelle Entscheidungen haben werden (Hill und Kopp 2004; Nisic 2011).6

5 Eine Erweiterung der Rational-Choice-Theorie, die insbesondere in Kapitel 3.3 behandelt wird, betrifft die Integration von nicht bewusst kalkulierten, sondern unüberlegt und routinehaft ablaufenden Handlungen. Dieses sogenannte Modell der Frame-Selektion (MFS) geht davon aus, dass die Informationsverarbeitung auch in der Wiederholung von abgespeicherten Routinen bestehen kann (Esser 2010).

6 In familien- und arbeitsmarktsoziologischen Untersuchungen, etwa zur Partnerwahl oder Arbeitsteilung in Partnerschaften, zum Heirats-, Scheidungs- und Fertilitätsverhalten, werden diese Wechselwirkungen zwischen Haushaltsentscheidungen und Arbeitsmarktprozessen schon seit einiger Zeit berücksichtigt (Gustafsson 1991; Nauck 1989; Ribhegge 1993).