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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck*

Im Dokument Reformation als (Seite 102-128)

Die Wortverbindung ‚böhmische‘ oder gar ‚hussitische Reformation‘ ist nicht unproblematisch. Manchmal deutet sie möglicherweise mehr an, als Autoren beabsichtigen, und in der Forschung findet sie keineswegs eine allgemeine Akzep-tanz. Deshalb gilt es, konzeptionelle Inhalte, die mit der ‚böhmischen Reforma-tion‘ verbunden werden, stets aufs Neue zu hinterfragen. Dieser Beitrag bietet eine knappe kritische Zusammenschau der Auffassungen zum Begriff ‚hussitische Reformation‘. Er hebt das Thema der öffentlichen Kommunikation in der Hus-sitenzeit hervor, vermittelt einen Überblick zur mediengeschichtlichen Proble-matik und zeigt neueste Ergebnisse sowie offene Forschungsperspektiven auf.1

Die Anwendung des Terminus ‚böhmische Reformation‘ ist besonders in der tschechischen evangelischen Geschichtsschreibung längst geläufig.2 Seine interna-tionale Popularisierung in den letzten 25 Jahren wird durch regelmäßige Tagungen und die daraus resultierende Sammelbandreihe „The Bohemian Reformation and Religious Practice“ getragen.3 Chronologisch reicht das Phänomen ‚böhmische Reformation‘ von den 1360er Jahren und den Anfängen der Reformpredigt über Jan Hus (ca. 1370–1415) und Hussitismus samt der nach der Mitte des 15. Jahrhun-derts etablierten Brüderunität weiter über den von der europäischen Reformation

* Diese Studie entstand im Rahmen des Projektes der GAČR, Nr. 19-28415X, am Philosophi-schen Institut der TschechiPhilosophi-schen Akademie der Wissenschaften.

1 Mit der für die böhmische (hussitische) Reformbewegung benutzten Begrifflichkeit habe ich mich in einer früheren Studie auseinandergesetzt, vgl. P. Soukup, Kauza reformace. Husitství v konkurenci reformních projektů [Die Causa der Reformation. Das Hussitentum in der Kon-kurrenz der Reformprojekte], in: P. Rychterová / Ders. (Hgg.), Heresis seminaria. Pojmy a koncepty v bádání o husitství [… Begriffe und Konzepte in der Hussitenforschung], Praha 2013, S. 171–217; im vorliegenden Artikel wird vornehmlich auf die seitdem erschienenen Arbeiten eingegangen.

2 Einen umfassenden begriffsgeschichtlichen Überblick legte neulich vor M. Wernisch, Co je ona reformace, jejíž výročí si připomínáme? [Was ist jene Reformation, deren Jubiläum wir gedenken?], in: Ders., Evropská reformace, čeští evangelíci a jejich jubilea [Europäische Re-formation, tschechische Protestanten und ihre Jubiläen], Praha 2018, S. 13–48.

3 Vgl. Z. V. David / D. R. Holeton (Hgg.), BRRP, 11 Bde., Prague 1996–2018, die letzten zwei Bände mitherausgegeben von M. Dekarli / P. Haberkern. Die Tagungen führen Historiker und Theologen vornehmlich aus englischsprachigen Ländern und aus Tschechien zusammen und sorgen für regelmäßigen fachlichen Austausch.

ohne Buchdruck

beeinflussten böhmisch-mährischen ‚Nicht-Katholizismus‘ des 16. Jahrhunderts bis zum Ende der reformatorischen Konfessionen in der habsburgischen Reka-tholisierung der 1620er Jahre (sofern es nicht auch die Fortsetzung der böhmi-schen Reformation im europäiböhmi-schen und amerikaniböhmi-schen Kontext einschließt).

Dieser zeitliche Rahmen der böhmischen Reformation scheint in der mit Böh-men befassten Forschung weit anerkannt zu sein. Es fällt besonders auf, dass die Zeitspanne den Anfang der Wittenberger Reformation einschließt. Obwohl die Reformationsforschung längst auf den konstruierten Charakter der Epochengrenze 1517 hinweist, bedeuten doch die religiösen, gesellschaftlichen und politischen Wandlungen, die mit der Ausbreitung des Luthertums und weiterer nicht-ka-tholischer Konfessionen zusammenhängen, für die Verhältnisse in Böhmen eine bedeutende Zäsur. Die einheimische (hussitische) Reformtradition wurde durch protestantische und reformierte Impulse bereichert, überdeckt und sogar ersetzt.4 Man muss von daher fragen, inwieweit die ‚böhmische Reformation‘ eine von nationalen, konfessionellen und kulturellen Motiven getragene Konstruktion ist.

Es scheint nämlich, dass das Konzept einer böhmischen Reformation von Milíč bis Johann Amos Comenius (1592–1670) nicht viel mehr als eben Böhmen (bzw.

Mähren) als Schauplatz religiöser Ereignisse umfasst.

Als Alternative zum undifferenzierten Begriff der langen böhmischen Reforma-tion erfreut sich die Unterscheidung zwischen ‚erster‘ und ‚zweiter ReformaReforma-tion‘

einer neuerlichen Popularität. Das vom tschechischen evangelischen Kirchenhisto-riker Amedeo Molnár (1923–1990) seit Ende der 1950er Jahren ausgearbeitete Konzept der ‚ersten Reformation‘ umfasst die Waldenser, Lollarden und Hussiten und hebt sich von der klassischen, ‚zweiten‘ Reformation nicht nur chronologisch, sondern auch theologisch ab. Nach Molnár ist die ‚erste Reformation‘ durch das Prinzip des Gesetzes und durch revolutionäre Ausrichtung gekennzeichnet, während die ‚zweite Reformation‘ theologisch auf dem Gnadengedanken aufbaute und in der Gesellschaftslehre eher versöhnlich erscheint.5 Wenn der Terminus

‚erste Reformation‘ in heutiger Forschung benutzt wird, dann meistens nur für die Hussiten, während die Waldenser und Wycliffisten nunmehr fehlen. Das ist etwa bei Thomas Fudge der Fall, der damit betonen will, dass die Hussiten keine

4 F. Šmahel, Was there a Bohemian Reformation?, in: K. Horníčková / M. Šroněk (Hgg.), From Hus to Luther. Visual Culture in the Bohemian Reformation (1380–1620) (MCS 33), Turnhout 2016, S. 7–16, hier S. 12, spricht wohl deshalb von der Hussitenzeit als einer ‚Phase der böhmischen Reformation‘. Diese lässt er, vgl. ebd., S. 8, mit dem symbolischen Datum 1378 anfangen, sodass die beiden, oft als ‚Vorläufer‘ angesehenen Konrad Waldhauser (ca.

1325–1369) und Milíč von Kremsier/Kroměříž (ca. 1325–1374) unberücksichtigt bleiben.

5 Vgl. A. Molnár, Husovo místo v evropské reformaci [Hussens Stellung in der europäischen Reformation], in: ČsČH 14 (1965), S. 1–14, hier S. 6 f.

Proto-Protestanten waren und Hus kein Vorläufer von Luther war. Warum der Autor den Hussitismus doch eine Reformation nennt, wenn er so unterschied-lich vom Luthertum ist, wird nicht explizit artikuliert.6 Einer der zum Hus-Jah-restag 2015 erschienenen Sammelbände bemühte sich, mit der Bezeichnung

‚erste Reformation‘ den in der deutschen Gedächtniskultur vergessenen Jan Hus wieder in den Fokus zu rücken. Der Inhalt des Begriffes wird jedoch auch dort nicht thematisiert.7

Diesen terminologischen Wirrwarr könnte man sich allerdings ersparen, wenn eine Sichtweise Oberhand gewinnen würde, die die Zeitspanne vom Hochmit-telalter bis weit in die Frühe Neuzeit als ein Zeitalter der Reformen versteht.8 Ein solcher Zugang, der in den 1970er Jahren von Pierre Chaunu (1923–2009) oder Steven Ozment (1939–2019) eingeführt wurde, hat jedenfalls den Vorteil, die fatale Epochengrenze um 1500 auszublenden.9 Die oft kritisierte Teleologie, die vor allem den Konzepten wie ‚Vorreformation‘ sowie ‚Vorläufern‘ aller Art zu eigen ist,10 wird aber auch bei der Verwendung von ‚temps des réformes‘ nicht automatisch beseitigt. Zusammenhänge zwischen den damit verbundenen Phä-nomenen sowie eventuelle Kontinuitäten bleiben zu erörtern. Weiterhin muss man also einzelne Strömungen und Bewegungen untersuchen, sie vergleichen und nicht zuletzt kategorisieren. Im Französischen unterscheidet sich Reform und Reformation höchsten um die Majuskel; die deutsche wie auch tschechische Sprache verfügen über zwei verschiedene Ausdrücke und können sich dem Defi-nitionsbedarf schlechter entziehen.

Das Paradigma Molnárs wurde neulich von Wolf-Friedrich Schäufele unter anderem mit dem Hinweis abgelehnt, damit drohe ein ‚Verlust eines einheitlichen

6 Vgl. T. A. Fudge, Magnificent Ride. The First Reformation in Hussite Bohemia (SASRH), Aldershot 1998, S. 1 und 283.

7 Vgl. A. Strübind / T. Weger, Jan Hus. 600 Jahre Erste Reformation. Eine Einführung, in:

Diess. (Hgg.), Jan Hus. 600 Jahre Erste Reformation (SBKGE 60), Berlin/München 2015, S. 9–14, hier S. 10.

8 Vgl. H. Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012, S. 614; Ders., Reformation. Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in: B.

Moeller (Hg.) / S. E. Buckwalter (Mitarb.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch (SVRG 199), Gütersloh 1998, S. 13–34.

9 Vgl. P. Chaunu, Le temps des Réformes. Histoire religieuse et système de civilisation. La Crise de la chrétienté. L’Éclatement (1250–1550) (Le monde sans frontière), Paris 1975; S. E.

Ozment, The Age of Reform 1250–1550. An Intellectual and Religious History of Late Me-dieval and Reformation Europe, New Haven 1980.

10 Vgl. dazu übersichtlich und kritisch W.-F. Schäufele, ‚Vorreformation‘ und ‚erste Reforma-tion‘ als historiographische Konzepte, in: A. Strübind / T. Weger (Hgg.), Jan Hus (wie Anm. 7), S. 209–231.

Reformationsbegriffs‘.11 Während international die ‚Pluralisten‘ zu überwiegen scheinen, die sich bemühen, dem oft fragmentarischen, unplanmäßigen Charakter der Reformationsversuche im Europa durch den Plural ‚Reformationen‘ gerecht zu werden,12 betont die deutsche Reformationsforschung stärker die Integrität des Begriffs. In der Debatte der 1990er Jahre über die Einheit und Vielfalt der Refor-mation einigten sich Dorothea Wendebourg und Berndt Hamm im Grunde darauf, dass kennzeichnend für die Reformation sei, dass sie die Grundprinzipien der mittelalterlichen Kirche und Kirchlichkeit angreift und dadurch im System der Kirche nicht tolerierbar ist. Diese systemsprengende Qualität erlaube es, trotz der frühen Ausdifferenzierung einzelner Strömungen und trotz der Vielfalt der reformatorischen Lösungen in Theologie und Kirchenorganisation doch von einer Reformation zu sprechen.13

Die Frage des Singulars oder Plurals besitzt m. E. eine sehr begrenzte Relevanz.

Wenn man innerhalb der Reformation geographisch-dogmatische Einheiten wie eine deutsche, englische, schweizerische oder radikale Reformation unterscheidet, dann erscheint es durchaus zulässig, von ‚Reformationen‘ zu reden. Die Frage ist vielmehr, was diese Reformationen gemeinsam hatten. Denn es darf kein Zufall sein, dass wir gewisse Phänomene eben Reformation nennen und nicht etwa Reform-bewegung oder Ketzerei. Das ‚Reformatorische‘ wird nach wie vor überwiegend von der lutherischen Reformation abgeleitet; das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass es keine ältere Reformation geben darf, wenn diese den gewählten Kriterien entspricht. Auch die mittelalterlichen religiösen Bewegungen wie die der Lollar-den, Waldenser und andere sollten dieser Überprüfung unterzogen werden. Für uns stellt sich die Frage, inwieweit der angeführte – und meiner Meinung nach plausible – Definitionskern der Reformation auf den Hussitismus übertragbar ist.

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In der letzten Zeit kann man auch außerhalb der engeren bohemikalen For-schung die Tendenz beobachten, das Hussitentum als Reformation zu etikettieren.

Dies dürfte mit dem Bestreben zusammenhängen, Martin Luthers (1483–1546)

11 Vgl. ebd., S. 227.

12 Z. B. C. Haigh, English Reformations. Religion, Politics, and Society under the Tudors, Ox-ford 1993, S. 12–21, spricht dezidiert und programmatisch über ‚englische Reformationen‘.

13 Vgl. D. Wendebourg, Die Einheit der Reformation als historisches Problem, in: B. Hamm / B. Moeller / Dies., Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 31–51, hier S. 38 und 50 f.; B. Hamm, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: ebd., S. 57–127, hier S. 64–66 und 126 f.

Auftreten jenseits streng gezogener Epochengrenze zu betrachten.14 Zum Main-stream in Geschichtsschreibung und Theologie ist eine solche Perspektive indes-sen nicht geworden. Die Einwände gegen die reformatorische Qualität des Hus-sitismus lassen sich in drei Hauptkategorien aufteilen. Erstens weisen einige auf dem Feld des Hussitentums führende tschechische Historiker darauf hin, dass die Utraquisten die katholische Kirche nie ganz verlassen haben, indem sie auf der apostolischen Sukzession der Priesterweihe beharrten.15 Nach Autoren wie František Šmahel und Petr Čornej sei die erste wirkliche Reformationskirche der Weltgeschichte erst die 1467 abgespaltete Brüderunität gewesen.16 Besonders Čornej ist der Meinung, die Entwicklung in Böhmen sei ‚auf dem halben Wege stehen geblieben‘, indem die Kompaktaten zwar das Monopol der römischen Kirche brachen, zugleich aber die Entstehung einer neuen Kirchenorganisation verhinderten.17 Den Terminus ‚böhmische Reformation‘ benutzen die beiden Autoren wohl als Synekdoche – eine Bezeichnung für die ganze Bewegung, die die Brüderunität hervorgebracht hat. Deshalb bezeichnete auch Šmahel den Hussitismus als die „erste Etappe, und damit als integralen Bestandteil des euro-päischen Reformationszyklusses“.18

Der zweite Vorbehalt stützt sich auf die Ansicht, der Hussitismus sei theolo-gisch nicht genug ausgereift gewesen, um als Reformation zu gelten. Es werden besonders die Beibehaltung des Priesterstandes und das Festhalten an den Sak-ramenten als Gnadenmittel erwähnt. Unlängst hat Wolf-Friedrich Schäufele aufgrund der fehlenden Rechtfertigungslehre und unzulänglicher Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium sowohl die Bezeichnungen ‚Vorreformation‘ als

14 Vgl. B. Hamm, Abschied vom Epochendenken in der Reformationsforschung. Ein Plädoyer, in: ZHF 39 (2012), S. 373–411, hier S. 399, wo der Verfasser von hussitischer Reformation spricht.

15 Dazu jetzt übersichtlich B. Zilynská, The Utraquist Church after the Compactata, in: M.

Van Dussen / P. Soukup (Hgg.), A Companion to the Hussites (BCCT 90), Leiden/Bos-ton 2020, S. 219–257, hier S. 240–244.

16 Vgl. F. Šmahel, Die Hussitische Revolution, aus dem Tschechischen übersetzt von Thomas Krzenck, 3 Bde. (MGH Schriften 43), Hannover 2002, Bd. 3, S. 1909, der von der „erste[n]

selbständige[n] Kirche der europäischen Reformation“ spricht; Petr Čornej von einer „selbst-ständigen Kirche reformatorischer Art“; P. Čornej / M. Bartlová, Velké dějiny zemí Ko-runy české [Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone], Bd. 6: 1437–1526, Praha/

Litomyšl 2007, S. 195.

17 Vgl. P. Čornej, Velké dějiny zemí Koruny české [Große Geschichte der Länder der Böhmi-schen Krone], Bd. 5: 1402–1437, Praha/Litomyšl 2000, S. 665; ebd., S. 70, sagt jedoch derselbe Verfasser, „der erste Akt der Reformation“ sei mit der böhmischen Verbesserungsbestrebung verknüpft.

18 F. Šmahel, Hussitische Revolution (wie Anm. 16), Bd. 3, S. 2014.

auch die ‚erste Reformation‘ für das Hussitentum abgelehnt.19 In der vollendeten doktrinären Erneuerung erblickt auch Martin Wernisch in einem der neuesten Beiträge zu diesem Thema das Wesen der Reformation.20 Nur in der mit Luther einsetzenden Reformation des 16. Jahrhunderts erkennt er den „Anspruch, die göttliche Erneuerung des Evangeliums zu repräsentieren“ und damit als Refor-mation zu gelten.21 Die kirchengeschichtlichen Phänomene des 15. Jahrhunderts in Böhmen möchte er als ‚hussitische‘ bzw. ‚Brüderreform‘ auffassen und sie als

‚Vorspiel‘ oder ‚Anlauf ‘ zur Reformation verstehen. Allerdings lässt er – auch hier synekdochal – den traditionellen Terminus ‚böhmische Reformation‘ zu, insofern sich der klassische Protestantismus in den böhmischen Ländern auf einem Boden ausbreitete, der von einheimischer Reformbewegung vorbereitet war, und den Utraquismus sowie Brüderunität letzten Endes gerettet habe.22 Meiner Meinung nach ist es aber fraglich, inwieweit die Luther’sche Rechtfertigungslehre allein als ein Kriterium für den Reformationscharakter dienen kann.23 Nicht nur die Viel-falt der protestantischen und reformierten Konfessionsgruppen, die sich schon früh im 16. Jahrhundert auf dem Kontinent etablierten, spricht gegen die Her-vorhebung einiger Lehrsätze als Maßstab. Besonders die englische Reformation, bei welcher wohl niemand die Bezeichnung Reformation in Frage stellt, zeigt die Breite der möglichen reformatorischen Lösungen im Bereich der Theologie.

Drittens wird auch darauf kritisch hingewiesen, dass das Hussitentum auf Böhmen und Mähren beschränkt blieb. Euan Cameron hat den Hussitismus

19 Vgl. W.-F. Schäufele, ‚Vorreformation‘ (wie Anm. 10), S. 226; hinter den Gründen für diese Ablehnung steht auch die Tatsache, dass die Begriffe ‚erste und zweite Reformation‘ bereits für zwei Phasen der Reformation des 16. Jahrhunderts, d. h. für die lutherische und reformierte Konfessionalisierung, reserviert wurden, vgl. dazu auch M. Wernisch, Co je ona reformace (wie Anm. 2), S. 43.

20 Vgl. ebd., S. 22 f.

21 Aus dieser Sicht erscheint die Reformation als eine „theologische Kategorie des gegenwärtigen Selbstverständnisses“. Historisch gesehen ist sie dadurch charakterisiert, dass sie umfassende gesellschaftliche Auswirkungen sowie hinlängliche geographische und sachliche Tragweite hat. Ebd., S. 23 und 44.

22 Vgl. ebd., S. 46–48. Es ist in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten Zdeněk V. Davids hin-zuwiesen, der im Gegenteil die Lebendigkeit und ekklesiologische Brisanz der utraquistischen Tradition bis zur Rekatholisierung verteidigt. Vgl. Z. V. David, Finding the Middle Way. The Utraquists’ Liberal Challenge to Rome and Luther, Washington/Baltimore/London 2003.

23 Vgl. die Beobachtungen von T. Kaufmann, Der Anfang der Reformation. Studien zur Kon-textualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (SMHR 67), Tübingen 2012, S. 5–24, wo auf die untrennbare Verwobenheit der Rechtfertigungslehre und Kirchenkritik sowie auf die weit über die Rechtfertigungslehre hi-nausgehende Vielfalt der frühreformatorischen Religionskultur hingewiesen wird.

als jene Bewegung beschrieben, die „am meisten die protestantische Reformation vorwegnahm“.24 Ihre geografische Begrenzung beraubte sie aber des reformatori-schen Charakters. Zugegeben blieb das Hussitentum im großen Ganzen sprach-lich-national begrenzt – trotz einzelner erfolgreicher Versuche, in die deutsch- und slawischsprachigen Gebiete vorzudringen. Im Anspruch jedoch erlegten sich die Hussiten keine Grenzen auf, sie wollten das gesamte Christentum reformieren.

Auf der ideologischen Ebene könnte dies wohl für mehrere Ketzerbewegungen des Mittelalters gegolten haben. Praktisch sind aber jene als häretisch verworfene und verfolgte Gruppen in der Regel in den Untergrund gezwungen worden, sodass die Reichweite ihrer klandestinen Agitation sehr begrenzt blieb. Die Utraquisten konnten sich dagegen als eine öffentlich wirkende religiöse Institution durch-setzen. Das geographische Kriterium erscheint dabei folglich wenig brauchbar.

Wie soll man entscheiden, ob das Königreich Böhmen groß genug war, um eine Reformation hervorzubringen? Für eine systematische Unterscheidung zwischen Ketzerbewegungen und Reformation zeigt sich eben die öffentliche Ausübung von Religion besser geeignet. Dann muss man feststellen, dass die Hussiten in zwei Ländern Mitteleuropas (Böhmen und Mähren) einen von Rom nicht genehmig-ten Kult über zwei Jahrhunderte ausgeübt haben.

M. E. lässt sich das Begriffsproblem am besten über die Betrachtung der his-torischen Auswirkungen der hussitischen Revolte lösen. Auf dieser Grundlage argumentierte Winfried Eberhard für die reformatorische Qualität des nachre-volutionären Hussitismus. Dazu untersuchte er eingehend die Wege der Konfessi-onsbildung im utraquistischen Böhmen.25 Die ostmitteleuropäische Variante der Konfessionalisierung spielte sich demnach nicht unter der Leitung des frühmo-dernen Fürstenstaates ab, sondern wurde weitgehend von den Ständen getragen.

Die Kompaktaten von 1436 und der Kuttenberger/Kutná Hora Religionsfrieden von 1485 garantierten jedem Erwachsenen die freie Wahl zwischen den beiden legalen Konfessionen. Damit beförderten sie keine religiöse Disziplinierung – mit Ausnahme von Prag, wo dieser Drang eine Tatsache war. Eine Konfessionsbildung

24 E. Cameron, The European Reformation, Oxford/New York 22012, S. 73 f.; vgl. auch P.

Chaunu, Temps des Réformes (wie Anm. 9), S. 384; und M. Wernisch, Co je ona refor-mace (wie Anm. 2), S. 45, der die böhmische Reformation des 15. Jahrhunderts als „halbfer-tig“ sieht, und zwar sowohl theologisch als auch durch ihre geographische Tragweite sowie schließlich wegen ihrer Verbindung zu Rom.

25 Vgl. W. Eberhard, Zur reformatorischen Qualität und Konfessionalisierung des nachrevo-lutionären Hussitismus, in: F. Šmahel (Hg.) / E. Müller-Luckner (Mitarb.), Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter (SHK Kolloquien 39), München 1998, S. 213–238;

Ders., Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1478–1530 (VCC 38), München/Wien 1981.

kann man aber sehr wohl beobachten; diese brachte eine vertikale Spaltung der sonst hierarchisch organisierten, ständisch geprägten Gesellschaft mit sich.26

In Böhmen setzte die Konfessionsbildung jedenfalls mit dem Hussitismus, also im 15. Jahrhundert an, nicht erst mit dem Vordringen der lutherischen Refor-mation. Die arme, ihrer Machtbasis beraubte utraquistische Kirche stützte sich auf dem Beistand der Obrigkeiten – des nichtkatholischen Adels und städtischer Magistrate. Obwohl sie durch die apostolische Sukzession mit Rom verbunden blieb und sich als ein Glied der Universalkirche verstand, wurde sie von der katho-lischen Kirche abgelehnt. Der 27 Jahre dauernde Kompromiss mit der damals noch vom Konziliarismus geprägten Kirche ändert daran nichts. Praktisch lebte die böhmische utraquistische Gemeinschaft als eine unabhängige Kirche. Päpst-liche Erlässe hatten im utraquistischen Böhmen keine Geltung, das Kirchenrecht wurde dem göttlichen Gesetz gegenübergestellt. In den Polemiken mit herausra-genden katholischen Persönlichkeiten wie Johannes Capistranus (1386–1456) oder Papst Pius II. (1458–1464) wurde die hussitische Ekklesiologie immer wie-der belebt, die die Identität wie-der utraquistischen Gemeinde festigte. Die autonome Normenbildung der Hussiten wurzelte bereits in der Kirchenlehre von Jan Hus, die die Souveränität des Gesetzes Christi gegenüber dem menschlichen Recht betonte. Bedient man sich der von Berndt Hamm formulierten Definition der Reformation, hat Jan Hus durch seine Ekklesiologie und Gehorsamslehre die mittelalterliche Kirche erschüttert – obwohl er selbst die systemsprengenden Konsequenzen nicht gewollt hatte. Die Hussiten sind in vieler Hinsicht den mit-telalterlichen Denkmustern verpflichtet geblieben, zugleich aber schafften sie in ihrem Einflussbereich die mittelalterlichen Schlüsselinstitutionen ab.27

Die praktische jurisdiktionelle Unabhängigkeit der utraquistischen Kirche von Rom, ihre eigentümliche Identität und ihre Lebensfähigkeit als ein öffent-lich wirkendes religiöses Gebilde erlauben es m. E., von einer hussitischen Refor-mation zu sprechen. Als ihren Begründer verstehe ich Jan Hus (also nicht schon die Reform- und Bußprediger des 14. Jahrhunderts), als ihren Träger dann vor

26 Vgl. dazu auch die knappen, aber anregenden Bemerkungen von M. Nodl / F. Šmahel, Čechy a české země ve 14. a 15. století [Böhmen und böhmische Länder im 14. und 15. Jahr-hundert], in: J. Klápště / I. Šedivý (Hgg.), Dějiny Česka [Die Geschichte Tschechiens]

(Dějiny států [Die Geschichte der Staaten]), Praha 2019, S. 70–99, hier S. 91–99; sowie die Studie von M. Nodl, Konfessionalisierung und religiöse (In)Toleranz in Prag in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Bohemia 58 (2018), S. 286–309.

27 Wie Heinz Schilling bemerkte, hat auch Luther die Einführung der meisten mit der Neu-zeit verbundenen Phänomene nicht beabsichtigt; und trotzdem wurden sie durch sein Wirken und seine Ideen hervorgerufen oder in Gang gesetzt. Vgl. H. Schilling, Martin Luther (wie Anm. 8), S. 618–621.

allem die böhmische utraquistische Mehrheitskirche (also nicht ausschließlich die Brüderunität). Selbstverständlich ist die Begrifflichkeit von der jeweiligen Definition abhängig. Das Entscheidende ist, ob die Begriffsklärung und Refle-xion der benutzten Terminologie über ein analytisches Potenzial verfügen und damit erkenntnisbringend sind.28 Die Klassifizierung der religiösen Strömungen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit nach ihrer Verbreitung und ihrem Einfluss

allem die böhmische utraquistische Mehrheitskirche (also nicht ausschließlich die Brüderunität). Selbstverständlich ist die Begrifflichkeit von der jeweiligen Definition abhängig. Das Entscheidende ist, ob die Begriffsklärung und Refle-xion der benutzten Terminologie über ein analytisches Potenzial verfügen und damit erkenntnisbringend sind.28 Die Klassifizierung der religiösen Strömungen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit nach ihrer Verbreitung und ihrem Einfluss

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