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Demokratie fühlt sich an wie eine Castingshow, bei der lauter Leute über etwas abstimmen, was

mir eigentlich egal ist.“

– Teilnehmer der Fokusgruppe

Die demokratischen Einstellungen der Frustrierten Realisten scheinen von geringem Vertrauen gegenüber den Mitmenschen bestimmt zu sein. Über zwei Drittel sind der Ansicht, man könne bei den meisten Menschen nicht vorsichtig genug sein (68 Prozent, verglichen mit 51 Prozent der Gesamtbevölkerung). Auch glauben sie häufiger als andere, dass in Großbritannien heute jeder auf sich selbst gestellt sei (52 Prozent empfinden das so, während 27 Prozent denken, die Menschen kümmerten sich umeinander). Das Zugehörigkeitsgefühl dieser Menschen ist weniger stark als bei anderen ausgeprägt, ob im Hinblick auf ihr direktes Umfeld, die Gemeinde oder selbst Freunde und Familie. Fast jeder Dritte findet, die Unterschiede zwischen den Menschen im Vereinigten Königreich seien zu groß, als dass man noch miteinander arbeiten könne – ein fast doppelt so hoher Anteil wie im Gesamtdurchschnitt (31 Prozent gegenüber 18 Prozent).

72 Prozent der Frustrierten Realisten verfolgen das Zeitgeschehen meistens oder zumindest zeitweise (verglichen mit 79 Prozent der Gesamtbevölkerung). Verfolgt man hier die Tagesereig-nisse, dann, weil man wissen möchte, was in der Welt geschieht, weil Politik alle betreffe und man – in sehr viel höherem Maße als die meisten anderen – „Politikern nicht traut, richtig zu han-deln“ (36 Prozent nennen diesen Grund, verglichen mit 25 Prozent im Gesamtschnitt). Bei den-jenigen, die das Zeitgeschehen kaum oder gar nicht verfolgen, sind die Hauptgründe Misstrauen und die Auffassung, Politikerinnen und Politiker seien alle gleich und von Eigennutz getrieben.

Die eigentlichen Gründe für die geringe Beteiligung dieser Menschen mögen Wut und Frustration sein, namentlich die Wahrnehmung, staatliche Akteure seien häufig arrogant und ihren Mitmen-schen gegenüber abfällig, und das Gefühl, selbst kaum etwas bewirken zu können. Gleichzeitig sind Apathie oder gesellschaftliche Abkehr keine Kennzeichen der Frustrierten Rea-listen; tatsächlich würden 62 Prozent bei Entscheidungen mit kommunalen Auswirkungen gern stärker mitbestimmen (nur 7 Prozent zeigen kein Interesse), und auch bei Entscheidungen über die Zukunft des gesamten Landes bringen sie ähnliche Ansichten zum Ausdruck. Ihre Skepsis wird aber sichtbar, sobald sie nach der eigenen Gestaltungsmacht gefragt werden: Für ihr Empfinden hat die Bevölkerung kaum Handlungsspielraum. Fast doppelt so häufig wie andere sind sie der Überzeugung, Entscheidungen und Handlungen von Bürgern hätten kaum Einfluss auf die Funktionsweise der Gesellschaft (37 Prozent, verglichen mit 20 Prozent der Gesamtbevölkerung); weitere 30 Prozent stimmen dem teilweise zu. Auch zeigt niemand sonst so wenig Zuversicht, dass, wer vor Ort etwas positiv bewirken wolle, dazu auch Möglichkeiten finde.

Charakteristisch für Frustrierte Realisten ist ihre Wahrnehmung, dass praktisch

„Bei der letzten Wahl bin ich am Ende nicht wählen gegangen. Da war ich zwar nicht stolz drauf. Aber ich dachte mir, egal, wen ich wähle, es wäre eine Lüge, denn ich glaube ja gar nicht wirklich dran … Ich habe mich eigentlich immer für Politik interessiert. Aber ich weiß nicht, ob ich je wirklich dran glauben werde, dass mein Beitrag irgendetwas bewirkt.“

– Frustrierter Realist aus Dronfield, Mittelengland

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herabblickten, empfindet eine große Mehrheit so. Das mag erklären, warum niemand sonst so wenig davon überzeugt ist, Experten seien zur Entscheidungsfindung besser qualifiziert als die Allgemeinheit (41 Prozent, gegenüber einem Gesamtdurchschnitt von 63 Prozent).

In den Fokusgruppen lautete eine wiederkehrende Klage, die aktuelle politische Führung sei unqualifiziert, um im Namen der Allgemeinheit Entscheidungen zu treffen. Häufig hieß es, die meisten Politikerinnen und Politiker verstünden nicht, was die Menschen vor Ort tatsächlich benötigten, dass es ihnen an echter Erfahrung mangele und sie zu losgelöst von ihren Wahlkrei-sen seien – und dort nur alle vier Jahre zum Wahlkampf auftauchten. Ein Frustrierter Realist aus Südwales sagt: „Stellen Sie sich mal vor, es gäbe mal eine Wahl mit zwei oder drei Leuten, die total inspirierend wären, und wir könnten uns gar nicht zwischen ihnen entscheiden, weil sie so toll wären. Stattdessen müssen wir uns für die am wenigsten schlimmste Option entscheiden.“

Bedrohungen nehmen die Frustrierten Realisten stärker wahr als andere – laut 80 Prozent werde die Welt immer gefährlicher (gegenüber 70 Prozent der Bevölkerung insgesamt). Sehr viel selte-ner hingegen sagen sie, heute seien die Chancen auf ein sicheres und sorgloses Leben größer denn je. Diese Besorgnis umfasst auch die Vorstellung, dass in Großbritannien die Demokratie selbst gefährdet sein könnte – 62 Prozent stimmen dieser Aussage zu, nur 6 Prozent wider-sprechen. Auf besonders fruchtbaren Boden fallen in diesem Segment Verschwörungs-erzählungen: 70 Prozent sind überzeugt, geheime, mächtige Gruppen kontrollierten das allge-meine Geschehen und das, was davon in den Medien berichtet werde (verglichen mit 53 Prozent der sonstigen Bevölkerung). Und mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit glaubt diese Gruppe, COVID-19-Impfstoffe seien Teil eines Regierungsplans zur Nachverfolgung und Kontrolle der Bevölkerung (14 Prozent, verglichen mit sonst 8 Prozent).

Demokratische Normen und das britische Modell

Das mangelnde Zutrauen zu anderen zeigt sich auch darin, dass die Frustrierten Realisten bei der Rechtmäßigkeit offizieller Wahlergebnisse fast doppelt so skeptisch sind wie der Rest der Bevölkerung: 32 Prozent schenken offiziellen Wahlergebnissen kein Vertrauen (gegenüber ge-samtdurchschnittlich 19 Prozent).

Prinzipiell und konform mit der allgemeinen Mehrheit glauben die meisten Frustrierten Realisten noch immer daran, die Demokratie sei das beste Regierungsmodell für Großbritannien, jedoch vertreten sie negativere Ansichten als andere. So sind sie eher der Ansicht, Demokratien sorgten nicht besser als andere Regierungsformen für gerechtere Gesellschaften (20 Prozent, verglichen mit insgesamt 13 Prozent) und seien generell nicht gut darin, Ordnung aufrechtzuerhalten (43 Prozent).

Dem Prinzip der freien Meinungsäußerung sind die Frustrierten Realisten stark ver-bunden – vielleicht ein Ausdruck ihres Wunsches, die eigene Stimme zu erheben und das Sys-tem herauszufordern –, und häufiger als die restliche Bevölkerung betrachten sie die Redefrei-heit als wichtigsten Aspekt einer Demokratie. So glauben sie auch mehr als jede andere Gruppe, dass es im Vereinigten Königreich nicht genügend Freiheit zum Ausdruck der eigenen Gedanken gebe (45 Prozent, verglichen mit 28 Prozent der Gesamtbevölkerung). Über die Hälfte fühlt sich im Vereinigten Königreich häufig unfrei (53 Prozent, verglichen mit insgesamt 31 Prozent); und wenngleich drei Viertel das öffentliche Gesundheitswesen über den Schutz der Freiheit stellen würden, würde doch jeder Vierte die Freiheit priorisieren – ein höherer Anteil als in allen anderen Gruppen.

Wie tief verdrossen die Frustrierten Realisten sind, mag erklären, warum ihr Bekenntnis zu vielen Normen der liberalen Demokratie weniger stark ausfällt:

• Mehr als jede andere Gruppe finden sie, es sollte der Wille der Mehrheit gelten; 57 Prozent zufolge sollten in einer Demokratie die Belange von ethnischen Minderheiten hintanstehen, falls sie im Widerspruch mit der Mehrheit stünden, und laut 51 Prozent sollten auch die Be-lange derer das tun, die gerade nicht an der Macht sind. Aber dass dem Sieger alles gebühre, impliziert das durchaus nicht – beispielsweise sagt ein Frustrierter Realist aus Workington in Cumbria: „Wir sollten uns danach richten, was die Mehrheit will … aber uns natürlich auch andere (Minderheiten-)Ansichten anhören und so weit wie möglich versuchen, negative Auswirkungen einzuschränken.“

• Als einzige Gruppe glauben die Frustrierten Realisten mehrheitlich, Großbritannien benötige eine politische Führung, die zur Lösung der Probleme des Landes Regeln auch mal umginge (53 Prozent, verglichen mit insgesamt 36 Prozent).

• Auf besonders viel Zustimmung trifft die Aussage, eine gewählte Regierung sollte sehr viel grö-ßere Entscheidungsbefugnisse haben und weniger Einschränkungen (43 Prozent, gegenüber 30 Prozent der Gesamtbevölkerung).

Abbildung 35:

Mehrheiten vs. Minderheitenschutz