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Das Grunddefizit –

Im Dokument Aus der Traum? (Seite 61-70)

Anerkennung und Vertrauensbildung zwischen den Konfliktparteien

In den beiden Kapiteln über die Israelis und die Palästinenser konnte gezeigt werden, welchen Einfluss friedensfeindliche Gruppierungen in den Gesellschaften haben und wie sie direkt oder indirekt dazu beitragen, dass die israelische Demokratie unterminiert und die palästinensische nicht hinreichend gefestigt wird. Wir wollen es jedoch nicht mit der isolierten Betrachtung der innenpolitischen und innergesellschaftlichen Verhältnisse beider Konfliktparteien bewenden lassen, sondern im nächsten Schritt fragen, welche grenzüberschreitenden Wechselwirkung diese Faktoren für die anfänglichen Verzögerungen und das spätere Versanden des – zumindest von den norwegischen Vermittlern intendierten – Vertrauensbildungsprozesses hatten.

Was in der euphorischen Stimmung von 1993 als Friedensprozess bezeichnet wurde, zielte zwar auf nicht weniger als einen „neuen Nahen Osten“ und insofern auf Frieden. Aber man war sich über die Schwierigkeiten, dieses langfristige Ziel zu erreichen, durchaus im Klaren, denn es sollten „die festgefahrenen Antagonismen schrittweise ersetzt werden durch eine wachsende Praxis und einen Ethos der Zusammenarbeit, in dem die regionale Interdependenz schließlich

umgesetzt wird in gegenseitiges Vertrauen...“206 Das heißt, selbst für das zu entwickelnde Vertrauen207 wären ein langer Atem und ein Ethos der Zusammenarbeit vonnöten gewesen.

Am Beginn dieses Prozesses stand 1993 die „Prinzipienerklärung“ und die Perspektive, zu einem

„Interimsabkommen“ zu gelangen, für das mit der Formel „Gaza und Jericho zuerst“ inhaltlich ein bescheidener, aber konkreter erster Schritt fixiert wurde. Diese Verhandlungsstrategie der Vermittler war insofern erfolgsträchtig, als damit alle Punkte, die besonders strittig waren und die damaligen Gespräche überfrachtet hätten, vertagt wurden, so dass ein Abkommen überhaupt zustande gebracht werden konnte. Geradezu genial schien es, für die zukünftigen Gespräche das Ziel eines noch nicht definierten „Endstatus“ in Aussicht zu stellen und die Verhandlungen zeitlich zu befristen. Diese Kombination ließ der PLO die Hoffnung, den von ihr angestrebten eigenen Staat mittelfristig verwirklichen zu können, und er erlaubte es Israel, den innenpolitisch nicht mehrheitsfähigen Begriff „Staat Palästina“ in der Erklärung zu vermeiden. Indem man für die Übereinkunft eine Frist von fünf Jahren setzte, eröffnete man überdies eine Zeitperspektive, die hinreichend lang zu sein schien.

Von beiden Seiten ließ sich somit das gesamte Unterfangen als Wechsel auf eine Zukunft betrachten, die jede sich weiterhin so ausmalen durfte, wie sie wollte. Die Israelis mochten gern glauben, aufgrund der vorläufigen Beschränkung auf den Gazastreifen und Jericho bräuchten sie bis auf weiteres nur wenig Land zurück zu geben, um Frieden zu bekommen. Die Palästinenser sahen die Einbeziehung Jerichos als ersten Schritt zu einem das Westjordanland einschließenden Staat.

Die Entwicklung und das Gelingen eines Vertrauensbildungsprozesses hängen sehr stark von der gegenseitigen Wahrnehmung derer ab, zwischen denen eine Vertrauensbasis zustande kommen soll. Wahrnehmen kann ein Subjekt ein anderes als ebensolches aber nur, wenn es dieses als solches erkennt, und insofern anerkennt. Dieses Problem stellte sich zu Beginn der Geheimverhandlungen von Oslo noch nicht in voller Schärfe, weil da Menschen unterschiedlicher Nationalität primär als Wissenschaftler und insofern inoffiziell miteinander sprachen. Doch in dem Moment, in dem die Verhandlungsergebnisse mit den Unterschriften Rabins, Peres' und Arafats im Rosengarten des Weißen Hauses offiziell abgesegnet werden sollten, verlangte die israelische Regierung als Gegenleistung für die Anerkennung der PLO als alleinige Vertreterin palästinensischer Interessen, dass diese den die Vernichtung Israels betreffenden Passus aus der Charta zu streichen hätte. In diesem Akt konzentriert sich die Asymmetrie der Partner und damit auch die Asymmetrie des Anerkennungsproblems: Die Vertreterin eines Nicht-Staates sollte einen Staat dadurch anerkennen, das sie offiziell erklärte, diesen nicht länger von der Landkarte löschen zu wollen. Und dieser Staat wiederum sollte die Legitimität einer Organisation anerkennen, für diesen Nicht-Staat zu sprechen, den es nach dem Willen des anerkennenden Staates auf absehbare Zeit noch nicht geben sollte. Wenn schon auf der Ebene der Spitzenpolitiker das Anerkennungsproblem nur durch diplomatische Finessen mehr umgangen als gelöst werden konnte, wie sollte dann davon eine Initialzündung für die

206 So die norwegische Sozialwissenschaftlerin Marianne Heiberg in ihrer Dankesrede für den ihr für die Mitwirkung an der Einleitung dieses Prozesses verliehenen ersten Hessischen Friedenspreis 1994, in:

Dokumentation Verleihung des 1. Hessischen Friedenspreises 1994, HSFK-Standpunkte November 1994, S.

12, Hervorhebungen B.M.

207 Unter Vertrauen verstehe ich eine generalisierte Erwartungshaltung dahingehend, dass man sich auf die Zusagen eines Menschen oder einer Gruppe, d. h. auf die Übereinstimmung zwischen Worten und Taten, verlassen kann, vgl. Berthold Meyer, Durch Vertrauensbildung zu Rüstungskontrolle und Abrüstung, in: HSFK (Hg.), Europa zwischen Konfrontation und Kooperation, Frankfurt/M.–New York 1982, S. 143ff.

mittlere Ebene der Politik und für die Menschen auf beiden Seiten ausgehen, die sich bis dahin teils ignoriert hatten, teils nur mit Angst, Wut und Argwohn begegnet waren?

Mit der Prinzipienerklärung wurde schließlich tatsächlich etwas erreicht, das die Menschen in Israel und den besetzten Gebieten aufatmen ließ: Als Folge der Vereinbarung nahm die Gewalt zunächst deutlich ab. Außerdem wurden die Abriegelungen aufgehoben, was zig tausend palästinensischen Tagelöhnern wieder Verdienstmöglichkeiten in Israel eröffnete. Aber die anfänglichen Erwartungen waren zu hoch gesteckt, als dass sie ohne Enttäuschungen hätten eingelöst werden können. Das ist keine Besonderheit dieses Entfeindungsprozesses, sondern eher typisch für Situationen, in denen eine Wende vollzogen werden soll, die von zwei negativ aufeinander fixierten Gruppen nicht nur die Aufgabe ihrer mentalen Positionen verlangt, sondern einem Teil von ihnen, für den die Pflege der Feindschaft Lebensinhalt war, sogar die Existenzgrundlage entzieht.

Für das Nichtzustandekommen einer tragfähigen Vertrauensbasis gibt es zahlreiche Gründe.

Einerseits erzeugte der Fünfjahreszeitraum lange Zeit hindurch nicht den von den Vermittlern erhofften Zeitdruck für die „Endstatus“-Verhandlungen. Darüber hinaus hatte der Begriff

„Endstatus“ absichtsvoll im Dunkeln gelassen, ob aus den Autonomiegebieten nach fünf Jahren ein normaler Staat werden sollte, welche Grenzen die Gebiete oder der Staat haben sollten, sowie was aus den im Exil lebenden Palästinensern und den in den Gebieten existierenden Siedlungen werden würde. All das ermöglichte es, auf beiden Seiten den Glauben an die Erfüllbarkeit der eigenen Wunschbilder aufrecht zu erhalten, anstatt sich ernsthaft auf die Suche nach Kompromissen und einem modus vivendi zu machen.

Andererseits erwies sich die Fristsetzung für eine Vertrauensbildung sogar als hinderlich, denn die erwünschte Dynamik eines so komplexen Prozesses lässt sich grundsätzlich nicht in einen vorher festgelegten Zeitrahmen zwängen. Darüber hinaus kann in einer tief verwurzelten Feindschaft ein Minimum an Vertrauen nur dann entstehen, wenn die Parteien Vereinbarungen nicht nur dem Buchstaben nach erfüllen, sondern erkennen lassen, dass sie auch ihrem Geiste entsprechend handeln. Hierzu fehlt offenbar in der von geradezu obsessiven Sicherheitsbedürfnissen geprägten politischen Kultur Israels die Bereitschaft, was in zwei Bereichen besonders augenfällig wird: in der Praxis, vertraglich zugesagte Rückzugsschritte immer wieder hinauszuzögern, und in der dem Völkerrecht widersprechenden Siedlungspolitik.

Beides beschädigte bei den Palästinensern das anfänglich durchaus vorhandene Vertrauen in die Bereitwilligkeit Israels, sich an Zusagen zu halten. Doch auch auf palästinensischer Seite mangelt es an dem notwendigen Verständnis für die historischen Hintergründe israelischer Ängste, was immer wieder darin sichtbar wird, dass es selbst ihren gemäßigten Führern schwer fällt, auf eine martialische Rhetorik zu verzichten. Obwohl dadurch vielleicht gewaltbereite Kräfte politisch eingebunden werden sollen, werden diese so eher bestärkt als in Zaum gehalten.

Der wahrscheinlich entscheidende Grund für das Misslingen der Vertrauensbildung liegt aber in der Struktur des Konflikts. Das den Vereinbarungen zwischen Israelis und Palästinensern über

„Land gegen Frieden“ als Vorbild dienende gradualistische Konzept der Entspannung war ursprünglich für mehr oder weniger symmetrische Situationen entwickelt worden. Wenn dann die betroffenen Länder wie z. B. die USA und die damalige Sowjetunion in sich geschlossene Einheiten sind, die sich in einer deutlichen Entfernung zueinander befinden, mag es fürs erste tatsächlich genügen, dass führende Politiker und Militärs einer jeden Seite wahrnehmen, dass die Handlungen der jeweils anderen ihren Aussagen entsprechen. Der Gradualismus sollte hier jedoch erstmals auf einen extrem asymmetrischen Konflikt zwischen einer Besatzungsmacht und

der von ihr unterworfenen Entität angewandt werden, zwischen denen es durch die Arbeitsmöglichkeiten von Palästinensern im israelischen Kernland und die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten, durch die Durchlässigkeit insbesondere der Altstadt Jerusalems und nicht zuletzt durch die arabischen Israelis obendrein unzählige Berührungspunkte gab.

Die den Vereinbarungen zugrunde liegende Formel „Land gegen Frieden“ spiegelt diese Asymmetrie wider. Von Israel erwarteten „die“ Palästinenser (und nicht nur die Funktionäre der PLO und der PA), dass es sich aus besetzten Gebieten sichtbar und endgültig zurückzieht, während die PLO und später die PA „den“ Israelis (und nicht nur der Regierung) lediglich versprechen konnten, Terroranschläge zu unterbinden. Diese lassen sich jedoch von der Autonomiebehörde bestenfalls innerhalb ihres Einflussgebietes verhindern, nicht aber, wenn sie von in Drittländern lebenden Flüchtlingen ausgehen. Ein weiterer, psychologisch bedeutsamer Aspekt dieser Asymmetrie kommt hinzu: Während die Abgabe von Land exakt zu messen ist, bleibt die Erfüllung des Friedensversprechens offen bis zum Beweis des Gegenteils. Dies forderte von der israelischen Seite einen Vertrauensvorschuss, der gerade dem jüdischen Volk äußerst schwer fällt, da in seinem kollektiven Gedächtnis mehr als ein Versuch präsent ist, es zu vernichten.

Wenn die Regierung Rabin/Peres 1993 trotzdem bereit war, das Vertrauensrisiko einzugehen, dann weil es gering und nicht unumkehrbar war: Erstens wurde weder Israels militärische Stärke durch das Abkommen von Oslo beeinträchtigt noch seine Fähigkeit, bei Verstößen gegen den Gewaltverzicht die in den palästinensischen Gebieten lebenden Menschen dafür kollektiv durch Abriegelung zu bestrafen. Zweitens konnte sich Israel als Friedensdividende von der Vereinbarung ein Ende der politischen und wirtschaftlichen Isolierung in der arabischen Region versprechen.

Das Abkommen verlangte demgegenüber hinsichtlich des Gewaltverzichts auf der palästinensischen Seite sowohl von denen, die in den besetzten Gebieten lebten, als auch von jenen, die weiterhin im Exil blieben, ein Maß an Selbstdisziplin und Aggressionskontrolle, wie es Arafat für all die Menschen, die ein halbes Jahrhundert lang unter ihren Widersachern auf verschiedene Weise gelitten hatten und von denen viele nicht ohne Rachegedanken waren, ernsthaft nicht garantieren konnte. Zwar versuchte die Autonomiebehörde ihr Versprechen einzuhalten, aber um den Preis polizeistaatlicher Praktiken, die verhinderten, dass sich eine demokratische politische Kultur entwickeln konnte. Der Terror gegen die israelische Zivilbevölkerung ließ sich gleichwohl nicht völlig unterbinden.

Die Asymmetrie zeigt sich auch bei den ausgeklammerten und den Endstatusverhandlungen zugewiesenen Problemen: Ganz gleich, ob es sich um die Rückgabe Ost-Jerusalems oder die Räumung von Siedlungen oder das Einreiserecht für Flüchtlinge handelt, ja selbst in der hier nicht näher behandelten Frage der Wasserverteilung sitzt Israel immer am längeren Hebel. Damit kommt ein Verhandlungsproblem ins Spiel, das es so in symmetrischen Konfliktsituationen nicht gibt. Das Grundprinzip des do ut des, das ursprünglich aus einem Realtausch entwickelt wurde, wird im Kontext der Verhandlungen über die ganze Themenpalette hinweg von israelischer Seite unter der Perspektive gesehen, reale Pfänder aus der Hand geben zu müssen und dafür nur Versprechungen zu erhalten. Da es in der jüdischen Gesellschaft Israels, wie erwähnt, kaum eine Sensibilität für das von den Palästinensern erlittene Leid (vom Unrecht einmal abgesehen) gibt, nimmt der Unwille zu geben in dem Maße zu, wie der Glaube an die Versprechungen abnimmt.

Dies erklärt die Verzögerungstaktik. Die Selbstwahrnehmung auf palästinensischer Seite ist eine völlig andere: Hier will die PA nur das zurückerhalten, wofür die UNO ihrem Volk einen

Rechtsanspruch zuerkannt hat. Dafür muss sie sich gegenüber den Israelis dauernd in eine Bittstellerposition begeben und verschafft sich zugleich auch noch Ärger durch diejenigen, die das ganze ehemalige britische Mandatsgebiet zurückhaben wollen. Und sie weiß, je deutlicher dieser Ärger ausfällt (etwa in Form neuer Anschläge), desto unnachgiebiger zeigen sich die Israelis.

Die Bevölkerungen beider Seiten waren von vornherein voll in den Prozess einbezogen, denn sie waren überwiegend an einem Ende der Gewalt und des von ihr ausgehenden Schreckens interessiert und insofern besonders sensibel für Fortschritte wie für Rückschläge in diesem Bereich. Allerdings nahmen und nehmen viele Menschen aufgrund der tiefsitzenden Feindschaft und der dadurch bedingten selektiven Information fast immer nur das Leid auf der eigenen Seite wahr oder empfinden das der anderen Seite zugefügte als „gerechte Strafe“.

Grenzüberschreitenden Abscheu erregen daher am ehesten Situationen, in denen „unschuldige Kinder“ als Opfer zu beklagen sind.

Es wäre deshalb schon 1993 hilfreich gewesen, die Menschen in Israel und in den palästinensischen Gebieten auf die Schwierigkeiten der Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen und eventuelle Rückschläge vorzubereiten. Doch Politiker, die weit reichende außenpolitische Vereinbarungen durchzusetzen haben, die innenpolitisch umstritten sind, unterlassen es aus verständlichen Gründen, Wasser in den eigenen Wein zu gießen: einerseits müssen sie für ihr Abkommen werben und können es deshalb in seiner Qualität nicht selbst herabsetzen, um dem innenpolitischen Gegner keine Argumente zu liefern; andererseits wollen sie mit ihrem Verhandlungserfolg die nächste Wahl gewinnen, was in ihren Augen erschwert würde, wenn sie das Ergebnis nur als ersten Schritt auf einem langen Weg darstellten. Daher entspricht das damalige Versäumnis durchaus den Usancen von Demokratien, verweist aber auch auf einen kritischen Punkt im Verhältnis von demokratischer Herrschaft und Friedensfähigkeit.

Die Erfahrung lehrt in diesem Zusammenhang, dass es politische Hardliner leichter haben, Friedensvereinbarungen innenpolitisch durchzusetzen, als die Vertreter von Parteien, die für einen gemäßigten außenpolitischen Kurs stehen, man denke nur an Menachim Begin, der den Friedensvertrag mit Ägypten abschloss.

Ein weiterer kritischer Punkt wird immer dann erreicht, wenn eine demokratische Auseinandersetzung mit friedensrelevanten Fragen in Populismus umschlägt: So reagierten israelische und palästinensische Politiker in den Jahren seit 1993 auf Rückschläge im Friedensprozess allzu häufig damit, dass sie den Partner des Vertragsbruchs bezichtigten oder nach Anschlägen Abriegelungen verordneten. Damit nutzten sie die Frustration in der eigenen Bevölkerung populistisch aus, anstatt sie zu dämpfen. Da die auf den innenpolitischen Effekt ausgerichteten scharfen Worte stets auch vom außenpolitischen Kontrahenten und seiner Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, wirkten sie auch grenzüberschreitend in Situationen eskalierend, in der, um den Prozess aufrecht zu erhalten, De-eskalation angebracht gewesen wäre.

Die Kollektivstrafe der Abriegelung der Palästinensergebiete produzierte überdies unmittelbar Frustrationen bei der gesamten dortigen Bevölkerung und schädigte unmittelbar all jene und ihre Familien, die darauf angewiesen waren, in Israel zu arbeiten. Sie waren somit weder ein Mittel, in der PA eine positive Stimmung für den Friedensprozess aufrecht zu erhalten, noch, die Aktivisten der Hamas gesellschaftlich zu isolieren. Mit ihren rhetorischen wie materiellen Überreaktionen zeigten somit viele Politiker beider Seiten, wie gering ihr Wille war, in den Vertrauensbildungsprozess zu investieren.

Ein weiteres Problem kommt hinzu: In einer tendenziell aufgeheizten Stimmung werden diejenigen, die sich grenzüberschreitend um Ausgleich und Versöhnung bemühen, als sicherheitsgefährdend diffamiert und in ihrer Arbeit behindert. Dies war vor 1993 so, als israelischen Politikern direkte Kontakte zur PLO verboten waren und die Knesset dieses Gesetz erst aufheben musste, damit die Oslo-Verhandlungen straffrei stattfinden konnten. Es war dann sieben Jahre lang meistens erheblich besser. Doch seit dem Herbst 2000 ist es für die Friedensbewegungen beider Seiten wieder sehr schwer, sich gegenüber dem „Kriegsgedröhne“

bemerkbar zu machen.

Dies führt noch einmal zurück zu der Frage nach der wechselseitigen Bedingtheit von Demokratie und Frieden. Sowohl in Israel wie in der PA ist der Kern jener politischen Kräfte, die gegen einen friedlichen Ausgleich mit der anderen Seite agieren, zugleich auch demokratiefeindlich eingestellt oder stehen zumindest den Grundgedanken einer pluralistischen Demokratie fern. So unterschiedlich ausgereift die beiden Demokratien auch sind, so leiden sie an einem sehr ähnlichen Mangel: Dieser besteht darin, dass sie diesen Gruppen, die überwiegend mit religiösen Begründungen und letzten Endes mit Gewalt gegen ein friedliches Neben- oder gar Miteinander von Juden, Moslems und Christen vorgehen, zu viel Handlungsspielraum gewähren und damit zulassen, dass sie Vertrauensprozellan zerschlagen. Religionsfreiheit ist zwar ein wichtiger demokratischer Wert. Er kann in einer Demokratie aber nur dann eingelöst werden, wenn diejenigen, die diese Freiheit in Anspruch nehmen, dies im Geiste wechselseitiger Toleranz tun. Dies betrifft nicht nur Glaubensinhalte, sondern muss auch für territoriale Ansprüche gelten, die mit der Glaubensgeschichte verknüpft sind. Demokratien haben daher um ihrer Selbstbehauptung willen das Recht, sich gegen die Bevormundung durch Geistliche einzelner Religionen wie auch gegen lokale Exklusivitätsansprüche, die über unmittelbare Orte der Religionsausübung hinausgehen, zur Wehr zu setzen. Da sie sich damit zugleich gegen die stärksten Friedensfeinde zur Wehr setzen, schaffen sie gleichermaßen bessere Vorbedingungen für Frieden und sichern den Bestand oder den Aufbau der Demokratie ab. Dieser Zusammenhang macht auch deutlich, dass sich die Frage nach der bestimmenden und der abhängigen Variablen im Verhältnis von Demokratie und Frieden zumindest für die Dyade Israel – PA nicht zeitstabil beantworten lässt.

Zwar ist jede Demokratie primär selbst dafür verantwortlich, zu ihrer Festigung beizutragen und Erosionserscheinungen zu stoppen. Doch dürfen wir die asymmetrische Konstellation zwischen Israel und der PA nicht vernachlässigen. Deshalb hatten wir in der vierten These des Eingangskapitels darauf hingewiesen, dass die stärkere Seite der schwächeren dabei helfen könne, die Friedensfeinde unschädlich zu machen, indem sie in ihrem eigenen Einflussbereich damit anfange.

Wenn also ein Teufelskreis der Eskalation dadurch befördert wird, dass diejenigen, die aus dem Fortbestand einer spannungsgeladenen oder sogar gewalthaltigen Beziehung Nutzen ziehen, gewollt oder ungewollt über die Konfliktlinie hinweg einander in die Hände arbeiten, müssen Demokraten und um Frieden Bemühte grenzüberschreitend kooperieren, um diesen Kreis zu durchbrechen und ihre Ziele zu erreichen.

Da es auf israelischer Seite organisierte Friedensstörer in Form der militanten Siedlerbewegungen und der „Transferpartei“ gibt, könnte deshalb die israelische Regierung, wenn ihr ernsthaft an einer Entspannung des Verhältnisses zur PA läge, so, wie sie 1994 die extremistischen Siedlerbewegungen Kach und Kahane Chai verboten hat, weitere Verbote aussprechen und alle von solchen Gruppen illegal errichteten Siedlungen auflösen. Sie hätte dann auch bessere

Argumente, um von der palästinensischen Seite ein entschiedeneres Vorgehen gegen Hamas und Jihad zu verlangen und könnte auf diesem Wege mit dazu beitragen, den Aufbau einer pluralistischen Demokratie in Palästina zu fördern.

Anhang

Dan Bar-On1

Es wird Zeit, sich zu entscheiden

Die jüdisch-israelische Gesellschaft muss jetzt entscheiden, was ihre Ziele als Gesellschaft sind.

Dies weiter hinauszuschieben wäre schon eine falsche Entscheidung, denn es würde früher oder später zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Desintegration führen, selbst wenn wir militärisch in der Lage sind, eine Weile zu überleben. In diesem Sinne gleicht das schreckliche Bild der Hochzeit in der Versailles-Halle in Jerusalem, in der die Gäste gerade tanzten, als der Boden unter ihnen wegbrach,2 unserer Situation als Gesellschaft. Wir fahren mit dem Tanzen fort

Dies weiter hinauszuschieben wäre schon eine falsche Entscheidung, denn es würde früher oder später zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Desintegration führen, selbst wenn wir militärisch in der Lage sind, eine Weile zu überleben. In diesem Sinne gleicht das schreckliche Bild der Hochzeit in der Versailles-Halle in Jerusalem, in der die Gäste gerade tanzten, als der Boden unter ihnen wegbrach,2 unserer Situation als Gesellschaft. Wir fahren mit dem Tanzen fort

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