• Keine Ergebnisse gefunden

Über den Nutzen der Biographie-Analyse

Der Hauptteil meiner Dissertation beschäftigt sich mit der Analyse der Biogra-phien von drei Gründervätern der koreanischen Chaebol: In-Hoe Ku (1907 - 1969), Byong-Chul Lee (1910 - 1987) und Joo-Young Cheong (geb. 1915).47

Diese Biographien sind aus verschiedenen Anlässen entstanden und dement-sprechend unterschiedlich: Bei der Lebensbeschreibung Kus handelt es sich um eine Biographie, die aus Anlaß seines zehnjährigen Todestages im Namen seiner Firma Lucky-Goldstar geschrieben wurde. Das erstmals 1979 erschienene und 1993 dann noch einmal nachgedruckte Buch war nur für die Mitarbeiter seines Unternehmens bestimmt und nicht verkäuflich. Wie bei firmeneigenen Publikatio-nen häufig, wird leider kein Verfasser genannt. Das Buch, das den Titel "Wenn du anfängst, jemandem einmal zu glauben, dann sollst du bereit sein, ihm alles anver-trauen zu können" trägt, stellt nicht nur den genaueren familiären Hintergrund Kus, sondern auch sehr detailliert seinen unternehmerischen Werdegang dar.48

Bei Lee handelt es sich um eine Autobiographie, die er 1985 im Alter von 75 Jahren über sein unternehmerisches Leben schrieb. Er nannte das Buch "Hoams Autobiographie", nach seinem zweiten Namen Hoam, den er sich nach alter

47Soweit ich weiß, gibt es bisher überhaupt keine Forschungsarbeiten, die sich mit der Biographie, Sozialisation und Entwicklung der Gründerväter der koreanischen Chae-bol beschäftigen, weder auf der Basis von (Auto-)Biographien noch auf der Grundlage auf andere Weise erhobener soziologischer Daten. Lediglich Leroy P Jones und Il Sa-kong, Government, Business, and Entrepreneurship in Economic Development: The Korean Case, Cambridge u. a. 1980, behandeln die allgemeine Frage, ob eine be-stimmte regionale Herkunft oder aber die Religion bei der Herausbildung der koreani-schen Chaebol eine besondere Rolle gespielt haben. Dabei untersuchten sie stati-stisch, ob es eine zahlenmäßige Dominanz bestimmter Herkunftsregionen bei den koreanischen Unternehmern gibt. Ergebnis ihrer Untersuchungen ist die relativ nichts-sagende Aussage, daß weniger die regionale Herkunft als vielmehr der persönliche Charakter für den unternehmerischen Werdegang entscheidend ist (S. 221). Im Hin-blick auf die Rolle der Religion schließen sie, "religion plays an extremely minor role in differentiating the entrepreneurial elite from the population as a whole" (S. 223).

48Lucky-Goldstar (Hrsg.), Hanbeon Midemyeon Modu Matkeora (Wenn du anfängst, jemandem einmal zu glauben, dann sollst du bereit sein, ihm alles anvertrauen zu können), Seoul 1979/ 1993. Möglich wäre, daß die Familie den Verfasser deshalb nicht genannt haben wollte, weil sie befürchtete, daß dessen Insiderwissen von Journalisten für Enthüllungsgeschichten genutzt werden könnte, oder aber der Ver-fasser selbst wollte nicht genannt werden, weil er oder sie nicht mit der Biographie eines Unternehmers in Verbindung gebracht werden wollte.

fuzianischer Gelehrtentradition selbst gegeben hatte und der nur unter engen Freunden gebräuchlich war. Lee beschäftigte sich in seiner Autobiographie nicht nur mit seinem familiären Hintergrund, sondern auch mit verschiedenen gesell-schaftlichen Ereignissen, die seine unternehmerische Laufbahn stark beeinflußten.

In erster Linie wollte er mit dieser autobiographischen Darstellung die koreani-schen Leser überzeugen, daß sein unternehmerisches Handeln nichts mit Gewinn-sucht, sondern nur mit seiner nationalen Gesinnung zu tun hatte. Aber der Autobio-graphie seines ältesten Sohnes Maeng-Hee Lee, der ursprünglich Nachfolger sei-nes Vaters war, dann aber die Firma verlassen mußte, kann man entnehmen, daß Byong-Chul Lee wohl dazu neigte, seine Lebensgeschichte in seinem Interesse zu schönen.49 Nach seinem Tode erschien ein zweites biographisches Buch über Byong-Chul Lee, das von Mitarbeitern seiner Firma Samsung mit dem erklärten Ziel verfaßt wurde, zur Stärkung der Unternehmenskultur beizutragen. In diesem Buch ist hauptsächlich Lees Managementphilosophie dargestellt, illustriert durch Anekdoten aus seinem unternehmerischen Leben.50

Über Cheong existieren zwei biographische Essaysammlungen. Die eine stammt aus dem Jahr 1991, in dem er Präsidentschaftskandidat war, und trug den Titel "Es gibt manche Schwierigkeiten, aber keinen Mißerfolg". Das zweite Buch erschien 1998 und hieß "Geboren in diesem Lande".51 Der Einleitung zu beiden Büchern kann man entnehmen, daß seine Geschichte von der koreanischen Schriftstellerin Su-Heon Kim aufgeschrieben wurde. Auch er erzählt wie die beiden anderen Unternehmer zunächst von seinem einfachen bäuerlichen Familienhinter-grund, aber beschränkt sich in seinem ersten Buch ansonsten nur auf die Darstel-lung der Erfolge in seiner unternehmerischen Laufbahn, so daß man anders als bei Ku oder Lee sehr schwer nachvollziehen kann, worauf sein unternehmerischer Er-folg eigentlich zurückzuführen ist. Im zweiten Buch, dessen Hauptteil im Grunde ei-ne Wiederaufnahme des ersten Buches ist, erzählt er darüber hinaus jedoch

49Byong-Chul Lee, Hoam Chacheon (Hoams Autobiographie), Seoul 1985; Maeng-Hee Lee, Mudedun Yiyagi (Die unbekannte Geschichte), Seoul 1993.

50Samsung Keongje Yeonguso (Verfassergruppe), Hoameui Keongyeong Chulhak (Hoams Managementphilosophie), Seoul 1988.

51Joo-Young Cheong [verfaßt von Su-Heon Kim], Sireonun Issedo Silpae nun Eopda (Es gibt zwar Schwierigkeiten, aber keinen Mißerfolg), Seoul 1991; Ders. [verfaßt von Su-Heon Kim], I Tange Taenaseo (Geboren in diesem Lande), Seoul 1998.

ge Geschichten, die er wohl 1991 noch nicht wagte, öffentlich zu machen. So schildert er hier nun sogar Fehler, der er bei unternehmerischen Entscheidungen gemacht hat, sowie seine Strategie, eine enge Verbindung zu dem früheren Prä-sidenten Park aufzubauen. Außerdem kritisierte er die Regierung von Präsident Young-Sam Kim (1992 - 1998), der sein Gegner bei der Präsidentschaftswahl 1992 gewesen war, und vertrat die Meinung, sein Unternehmen habe durch politi-sche Verfolgung sehr viel gelitten. Es fällt jedoch auf, daß Cheong auch mit die-sem zweiten Buch keine gründliche Analyse seiner unternehmerischen Laufbahn vorlegt.

In den bisherigen Forschungen zu den Chaebol sieht man keinerlei Anzeichen dafür, daß (Auto-)Biographien als ernstzunehmende Quelle wissenschaftlicher Analyse betrachtet werden. Lediglich Jae-Jin Suh betont in seinem Buch "Hanguk Chabonga Kaegup(Die koreanische Kapitalistenklasse) den Nutzen der Biogra-phie-Analyse. Aber seine Analyse beschränkt sich hauptsächlich darauf, den rea-len ökonomischen Status der Herkunftsfamilien der koreanischen Gründerväter der Chaebol zu ermitteln.52 Das Desinteresse an der Analyse von Biographien hängt meines Erachtens mit zwei Faktoren zusammen: Zunächst spiegelt sich darin die allgemeine Meinung, daß Biographien grundsätzlich nur der Verherrli-chung und Heroisierung des Porträtierten dienten und deshalb wenig wahrheits-getreu und nur von einem geringen Zuverlässigkeitsgrad seien. Zum zweiten aber hängt dieses Desinteresse damit zusammen, daß die koreanischen Sozialwis-senschaftler kaum qualitativ arbeiten. Weil sie während ihrer Studienzeit, sei es in Korea oder in USA, nur mit der quantitativen Forschungsmethode vertraut ge-macht wurden, mißtrauen sie der wissenschaftlichen Aussagefähigkeit qualitativer Forschungsmethoden generell. Daß Biographien insofern als wissenschaftlich be-deutsame Quellen zu betrachten sind, als sie ein anschauliches Bild des

52So kritisiert er, daß die wenigen Soziologen, die mit der Befragungsmethode versucht hätten, den ökonomischen Hintergrund der Chaebolgründer zu durchleuchten, dazu neigen, das ökonomische Potential der untersuchten Familien zu überschätzen, da man beispielsweise aus der Angabe, daß der Unternehmer aus einer Grundbesitzerfa-milie stamme, nicht ohne weiteres schließen könne, daß die FaGrundbesitzerfa-milie genügend Kapital zur Gründung eines Industrieunternehmens zur Verfügung gehabt habe. Jae-Jin Suh, Hanguk Chabonga Kaegup (Die koreanische Kapitalistenklasse), Seoul 1991, S. 54.

schaftlichen Wandlungsprozesses sowie der subjektiven Wahrnehmung des han-delnden Akteurs geben, ist ihnen schlicht unbekannt. Aber man muß natürlich hin-zufügen, daß dieser potentielle wissenschaftliche Gehalt der Biographien nur mit einem hohen Grad von soziologischer Sensibilität zu erschließen ist, wobei der Soziologe als Forscher die Fähigkeit haben muß, sich nicht nur in die Rolle des handelnden Akteurs hineinzuversetzen, sondern auch aus der Distanz heraus des-sen Handlungslogik kritisch zu überprüfen.

In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß es ein Irrtum ist zu glauben, die Aufgabe des Soziologen bestünde darin, einzelne Aussagen in den Biographien im Sinne des Verfassers zu rekonstruieren. Meines Erachtens ist es notwendig, sie als "offene Daten" zu verstehen, wobei sich der Forscher aus-drücklich darum bemühen muß, das einzelne individuelle Handeln und die entspre-chenden Denkmuster im Kontext der allgemein gesellschaftlichen Entwicklung zu bewerten. Um das zu ermöglichen, ist es unentbehrlich, die Biographie-Analyse immer mit "objektiven" Daten zu konfrontieren.53 Ich habe dieses Problem dadurch gelöst, daß ich mich bemüht habe, den Wahrheitsgehalt der einzelnen Aussagen in den von mir analysierten Biographien im Rückgriff auf andere zeitgenössische Zeugenaussagen sowie durch eine soziostrukturelle Analyse des gesellschaftli-chen Wandlungsprozesses in Korea gründlich zu überprüfen.54 Danach versuchte ich, herauszufinden, inwiefern das koreanische Verständnis des ökonomischen Handelns durch gesellschaftliche und kulturelle Faktoren beeinflußt bzw. auf ko-reaspezifische Weise geprägt wurde. Dies habe ich am Beispiel der koreani-schen Anfänge des Unternehmertums im Kontext des gesellschaftlichen Umbruch-prozesses um das Jahr 1876 darzustellen versucht. Damals wurde das Wort

53Horst Kern, Empirische Sozialforschung: Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien, München 1982, S. 105.

54Hierbei beziehe ich mich nicht nur auf die Biographien von ehemaligen Wirt-schaftstechnokraten und Politikern, sondern auch auf einige journalistische Artikel, die unterschiedliche Akteursperspektiven über die koreanische Entwicklung des Kapitalis-mus enthalten. Eine besondere Rolle spielt dabei die 1931 zur "Förderung der koreani-schen Kultur und des koreanikoreani-schen Nationalbewußtseins gegründete, 1936 von den Ja-panern verbotene und 1964 wiederbelebte Zeitschrift Sintonga, in der bis Ende der 1970er Jahre alle wichtigen sozialwissenschaftlichen Aufsätze in Korea veröffentlicht wurden. Außerdem berücksichtige ich einige andernorts erschienene sozialgeschichtli-che Aufsätze oder Monographien zu den Chaebol.

ma" zum ersten Mal ins Koreanische übersetzt, und es gründeten sich erste Unter-nehmen.

Ich bin der Auffassung, daß eine so geartete soziologische Analyse der oben genannten drei Biographien eine wichtige Erkenntnislücke der bisherigen For-schungen zur Entwicklung der koreanischen Chaebol schließen kann. Worauf es ankommt, ist, die bisherige strukturalistische Sichtweise des ökonomischen Han-delns aus der Perspektive des handelnden Akteurs neu zu beleuchten. Weil die Biographien in erzählerischer Form geschrieben wurden, enthalten sie viele De-tails über konkrete Handlungszusammenhänge. Selbst wenn deren Rekonstruktion von einem späteren Zeitpunkt aus erfolgte und deswegen durchaus je nach Erinne-rungsvermögen und Intention des Verfassers bzw. (bei nicht-autobiographischen Darstellungen) des Informationen vermittelnden Erzählers manipuliert sein kann, ist es unbestreitbar, daß der Verfasser oder Erzähler sich mit seiner oder der ihm übermittelten subjektiven gesellschaftlichen Realität (einschließlich der traditionel-len kultureltraditionel-len Vorstellungen) auseinandersetzen muß. Das heißt: In der (Auto-)Biographie werden die subjektive Wahrnehmung und die Verarbeitung des ge-sellschaftlichen Wandlungsprozesses zum Ausdruck gebracht, die für die hier vor-liegende Arbeit von zentraler Bedeutung sind.

In der bisherigen Chaebol-Forschung wird der enge Zusammenhang zwischen den Familien und der unternehmerischen Organisationsstruktur nur an der hohen Zahl der Manager, die aus dem familiären Umkreis stammten, festgemacht. Die Frage, wie sich eigentlich diese hohe Affinität zwischen den beiden Faktoren er-klärt und woran sie sich festmacht, wird meistens gar nicht oder bestenfalls damit beantwortet, daß man sie als ein bloßes Übergangsphänomen von der traditio-nellen zur modernen Gesellschaft wertet. Ich dagegen bin der Auffassung, daß man sich dieser Frage mit Hilfe der Biographie-Analyse zumindest nähern kann.

Denn in jeder Biographie wird die Beziehung zwischen dem jeweiligen Unterneh-mer und anderen Familienmitgliedern ausführlich dargestellt, so daß leicht nachzu-vollziehen ist, wie sich der Übergang von der traditionellen konfuzianischen Le-bensform zur modernen unternehmerischen Laufbahn vollzog und welche Konflikte dabei auftraten. Das gleiche gilt für die enge Beziehung zwischen Staat und

Chaebol, die in den herkömmlichen Forschungen immer als eine einseitige Be-ziehung vom Staat zum Chaebol dargestellt wird.

Kurz gesagt: Die Biographie-Analyse ist eine unentbehrliche soziologische Forschungsmethode, die die den Industrialisierungsprozeß in Korea bestimmen-den Wechselwirkungen zwischen bestimmen-den verschiebestimmen-denen Institutionen und dem einzel-nen handelnden Subjekt auf eine neue Weise erschließen und verständlich ma-chen kann.

Abschließend noch eine kurze Bemerkung zur zeitlichen Eingrenzung der Ana-lyse: Da die drei Biographien in einem großen zeitlichen Abstand (zwischen 1979 und 1991) geschrieben wurden und die in ihnen enthaltenen Rückblicke auch sehr unterschiedliche Zeiträume umfassen, ist es notwendig, meine Auseinanderset-zung mit der Entstehungsgeschichte der koreanischen Chaebol mit der Etablie-rung der sogenannten koreanischen Managementstruktur, deren Entwicklungshö-hepunkt Mitte der 80er Jahre erreicht wurde, abzuschließen. Dies bedeutet, daß die neue Entwicklungsdynamik, der die koreanischen Chaebol mit der politischen Demokratisierung nach der Streikwelle im Sommer 1987 unterworfen waren, nicht mehr behandelt wird.55